Zum Friedhof II

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 01.09.2014, 10:53

Schon von Weitem sah ich sie. Sie stand an der Bushaltestelle, die den Namen des größten deutschen Dichters trägt. Weiße Bluse, schwarzer Rock. Sie stieg in der Mitte des Busses ein, ich hatte mich absichtlich am Rande gesetzt um so den Platz für sie freizuhalten.
Ich hatte einen Regenschirm bei mir, als einziger vielleicht, aber sie ist auch eine Regenschirmfanatikerin, sie hat sechs große und sechs kleine. „Y los que he tirado!“, sagte sie. Wir unterhalten uns nur auf Spanisch. Ich habe mehr Regenschirme als sie, und jede Menge im Keller. Die meisten habe ich geklaut, aber mir sind auch etliche geklaut worden.
Am 9. September hat sie Geburtstag, ich weiß schon, was ich ihr schenken werde.
Nur eine Spanierin kann so warten, wie sie auf mich an der Haltestelle gewartet hat.
Eigentlich ist sie aus Katalonien, aus Barcelona.
Adela.
Sie erzählte mir, dass sie auch gestern auf dem Friedhof gewesen war und dort Antonio, ihren verstorbenen Mann, besucht hatte. Eine Freundin von ihr wollte dorthin fahren um ihren Sohn zu besuchen, sie wollte mit dem Auto fahren, das Auto muss bewegt werden, sonst wird wieder die Batterie kaputt gehen, sie fragte Adela, ob sie mitfahren wollte. Adela kannte auch das verstorbene Kind, es wurde nur 10 Monate alt, Herzfehler. X-Mal operiert. Schon im Bauch hatte man diesen Fehler festgestellt, der Arzt sagte, das Kind muss gleich nach der Geburt operiert werden. 25% schaffen es.
Adela sagte mir, dass sie im Krankenhaus war, als das Kind starb, sie hielt das kleine Händchen des Kindes. Es war noch warm, sagte sie. Stundenlang blieb sie dort. Sie kannte das Kind gut, weil ihre Freundin, auch eine Spanierin, im selben Haus wohnt.
Ich sagte, vielleicht war es besser so, dass das Kind schon so früh starb. Sie gab mir Recht. Sie selbst hatte mal ein Kind zur Welt gebracht, das einen Herzfehler hatte, es lebte nur einen Tag. „Antonio hat nie von ihm geredet“, sagte sie nebenbei. Sie hatten schon eine Tochter, ich vermute, dass es zu hart für Antonio war, darüber zu reden.
Als wir die „Hasenquelle“ erreichten, wusste ich, dass wir gleich da sein würden. Ich bin ziemlich sicher, dass Adela nicht weiß, was „Hasenquelle“ bedeutet. „La fuente de los conejos“, oder besser, „La fuente de las liebres“.
Wir stiegen bei der nächsten, der Endstation aus, betraten den Waldfriedhof, nahmen die Hauptstraße, den Hauptweg. Langsam kommt mir dieser Friedhof vertraut vor. Sie lief sehr langsam, ich versuchte auch so langsam wie möglich zu gehen, es ist eine leichte Steigung. Wir erreichten das Boot wo Jesus die Rolle des Charonte übernommen hat, er hält das Ruder in der rechten Hand. Er hätte das Ruder anders gehalten, wenn er Linkshänder gewesen wäre.
Dort bogen wir links ab und gleich wieder scharf nach rechts. Da waren etwa zehn Kindergräber. Hier liegt Gabriel, sagte sie. Der Name war vom Efeu bedeckt, ich versuchte ihn mit der Spitze des Regenschirms frei zu machen. Sie erzählte mir wieder, wie sie das Händchen des Kindes gehalten hatte, die unheimlich schnell erkaltete und sich wie Marmor anfühlte ... Ich hörte aufmerksam zu, aber offensichtlich hatte ich doch nicht ganz aufgepasst, denn plötzlich sagte sie, „da sagte mir der Arzt, Ihr Mann ist eigentlich an Niereninsuffizienz gestorben“.
Nur ein paar Meter weiter liegt Antonio, sein Holzkreuz ist das größte von allen. Das hätte ihm gefallen. ANTONIO SANTABARBARA, 1926-2009.
Adela zündete eine Kerze, die sie mitgebracht hatte, ich half ihr dabei, sie war in einem roten Plastikbehälter. Als sie ihn auf die Erde neben dem Kreuz setzte, kippte er um und die Kerze ging aus, wir mussten die Kerze noch mal anzünden, sie hatte Streichhölzer dabei.
Später wollen sie und ihre Tochter einen kleinen Grabstein hinstellen.
Auf dem Rückweg zeigte sie mir die Gräber der Zigeuner, sehr luxuriös.
Wir mussten fast 20 Minuten auf den Bus warten, ich fragte sie, wann und wie sie Antonio kennen gelernt hatte. Vier Jahre lang waren sie verlobt gewesen. Aber es war nicht so wie heutzutage, sagte sie, „Ich war Jungfrau als wir heirateten“.
Im Bus setzte ich mich ihr gegenüber. Wir stiegen am Münsterplatz aus und liefen die Große Bleiche hoch. In der Gutenberg Buchhandlung holte ich eine DVD ab, die ich bestellt hatte, „Die glorreichen 7“, Adela schien den Film zu kennen. Sie kennt sogar „Die Rückkehr der glorreichen 7“. Danach tranken wir „Bitter Lemon“ in dem italienischen Café in der Römerpassage, im oberen Stockwerk. Sie trifft sich jeden Donnerstag dort mit ihren spanischen Freundinnen.

SanchoPanza

Beitragvon SanchoPanza » 01.09.2014, 11:46

Wie machst Du das Carlos?
Du erzählst eine alltägliche Geschichte, und bei mir läuft das Kopfkino an. Ich sehe Dich und Adela, und ich beginne über das Dasein und den Tod nachzudenken. Das ist "show don't tell". Hemingway hätte seine Freude an Dir gehabt.
Der Mann auf dem Esel


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