Der Traum

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Dohle

Beitragvon Dohle » 27.10.2014, 19:57

Der Traum


Licht scheint durch die Flasche und erhellt ihr grün. Er schaut auf, sieht wie sich die Baumwipfel im Wind wiegen, dahinter ist der Himmel weiß und matt. Vor ihm der schmale Pfad in den Birkenwald hinein. Er kann nicht widerstehen, läuft los, denn bald ist es dunkel. Sie wartet auf ihn. Wenn er doppelt so schnell läuft holt er die Zeit auf, oder? Unter ihm die Wurzeln, die aus der Erde stehen, die er kaum noch erkennt. Hoffentlich sorgt sie sich nicht, sie wartet. Am See haben sie sich verabredet und es kann nicht mehr weit sein.

Er tritt aus dem Wald hinaus. Kein See ist zu sehen, ein Hochhaus. Sein Atem geht noch schnell, er sammelt sich. Wo wartet sie auf ihn? Er läuft hinein, die Treppen hinauf, Stockwerk um Stockwerk bis er ganz oben ist. Die Tür zur Wohnung steht offen. Im Zimmer ist sie nicht. Er entdeckt die Balkontür und dahinter den violetten weiten Himmel.

Es gibt keine Balustrade. Der Balkon gleicht einem Vorsprung. Dort sitzt sie, mit dem Rücken zu ihm. Sie bemerkt ihn, dreht sich zur Seite und schaut ihn über ihre Schulter an. Vor ihnen geht es nur abwärts und in den Horizont. Er hat ein wenig Angst, sie auch und ihre Beine baumeln leicht über dem Abgrund. Er setzt sich zu ihr. Er weiß es kann nichts passieren. Nach unten geschaut, über seine Knie hinweg lassen sich die grünen Baumwipfel erkennen, die sich im Wind wiegen und kurz denkt er, das Gleichgewicht zu verlieren. Eine Welle geht durch ihn und presst ihn in die Senkrechte. Dann merkt er wie ihre Hand auf seine gelegt ist, ihre Schulter, die seine leicht berührt. Ein warmer Wind kommt auf und die Angst wird ihm klar, die Furcht und alle Schönheit, die größer wird. Sie hat auf ihn gewartet. Es hat auf ihn gewartet. Auf seinen Schenkeln ein Geschenk, er packt es aus, ein Hemd, das ganz bunt ist. Als er es anziehen will, fällt ihm ein Aufdruck auf der Rückseite auf. Happy Birthday!

Er hat nicht Geburtstag. Auf seinem Nachttisch liegt ein Zettel. Er steht aus dem Bett auf, tritt ans Fenster und sieht die Bäume dunkler als der Nachthimmel vor dem Haus, die sich im Wind bewegen. Er nimmt sich den Zettel, den er von ihr mitgenommen hat. Er sieht die einzelnen Wörter, die sie einem alten Brief entnommen hatten, um sie neu zusammenzusetzen.

Gedanken und ein gewisser Anteil, zu aller-erst, dich freizulassen, und ich hoffe - hoffe und.

Er macht das Fenster auf, hört die Blätter im Wind rauschen und weiß, sie tragen die Welt.




Zwischengeschoss


Licht scheint durch die Flasche und erhellt ihr grün, die Baumwipfel wiegen im Wind, dahinter ist der Himmel weiß und matt. Den schmalen Pfad hinein in den Birkenwald, denn bald ist es dunkel und sie wartet. Die aus der Erde stehenden Wurzeln sind kaum zu erkennen. Hoffentlich sorgt sie sich nicht. Bis zum See ists nicht mehr weit.

Es ist kein See zu sehen, aber ein Hochhaus. Wo wartet sie? Die Treppen hinauf, Stockwerk um Stockwerk bis ganz oben. Die Tür ist offen. Hier ist sie nicht. Auf dem Balkon?

Keine Ballustrade. Baumelnde Beine über dem Abgrund vor violettem Himmel. Nach unten geschaut, über die Knie hinweg wiegen sich die Baumwipfel im Wind. Nicht das Gleichgewicht verlieren - da ist ihre Hand, ihre Schulter. Ein warmer Wind kommt auf, die Angst, die Schönheit. Sie hat gewartet.

Ein Hemd. Etwas ist ein-gestickt. Happy Birthday!

Der Zettel liegt noch auf dem Nachttisch. Er steht aus dem Bett auf. Vom Fenster aus sind die Bäume dunkler als der Nachthimmel. Gut, dass er mit dem Brief bei ihr war. Sie haben die Wörter wahllos seiner Komposition entrissen.

Neu zusammengestellt sieht er sie vor sich.

Gedanken und ein gewisser Anteil, zu aller-erst, dich freizulassen, und ich hoffe - hoffe und.

Er macht das Fenster auf, die Blätter rauschen im Wind und er weiß sie tragen die Welt.
Zuletzt geändert von Dohle am 01.11.2014, 18:44, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 29.10.2014, 09:09

Hallo Dohle,

Er sieht die einzelnen Wörter, die sie einem alten Brief entnommen hatten, um sie neu zusammenzusetzen.

Gedanken und ein gewisser Anteil, zu aller-erst, dich freizulassen, und ich hoffe - hoffe und.

Er macht das Fenster auf, hört die Blätter im Wind rauschen und weiß, sie tragen die Welt.
Das finde ich ganz wunderbar.
Davor habe ich den Eindruck, man könnte noch streichen, stärker verdichten, oder die Wiederholungen noch stärker hervorheben, sie bewusster einsetzen, vielleicht mutiger sein, auch sprachlich. Es klingt für mich ein wenig so, als würde man einen Traum erzählen und im Erzählen verliert es dann schon das, was es zum Traum gemacht hat, wird zerredet durch den Gedanken, dass man es erklären, für den Wachen fassbar, begreifbar machen muss. Eine Möglichkeit wäre dann vielleicht auch, diesen Aspekt in die Geschichte mithineinzunehmen und den Träumer wirklich selbst den Traum erzählen zu lassen.
Was ich auch schade finde, dass du mit dem Titel die Geschichte schon zu Beginn so festlegst und ihr damit auch etwas an "Erzählkraft" nimmst.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Dohle

Beitragvon Dohle » 30.10.2014, 18:57

danke für dein feedback flora, ich werd mir meine gedanken dazu machen - mich nochmal reinbegeben/reinträumen
viele Grüße
Dohle

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 30.10.2014, 19:09

Die Traumschilderung gefällt mir sehr, ich finde aber wie Flora, dass der Traum besser nicht schon im Titel so bezeichnet werden sollte.

Die Zettelnachricht (dieses "freizulassen") im Zusammenhang mit dem Traum ist ausgesprochen gruselig, das ist mir erst beim zweiten Lesen heute aufgefallen ....

Hier klingt es etwas holprig: "... sieht die Bäume dunkler als der Nachthimmel vor dem Haus, die sich im Wind bewegen". Der Relativsatz kommt zu spät. Außerdem finde ich, es müsste entweder heißen:
... sieht die Bäume, dunkler als der Nachthimmel etc.
oder: ... sieht die Bäume dunkler als den Nachthimmel ...

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Dohle

Beitragvon Dohle » 31.10.2014, 19:10

Vielen Dank Zefira. Ich habe die Geschichte nun in einer anderen Version reingestellt.
beste Grüße
Dohle

Nifl
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Beitragvon Nifl » 02.11.2014, 07:59

Hallo Dohle,

gefällt mir gut der Text, da lohnt es sich, genauer hinzuschauen.


Licht scheint durch die Flasche und erhellt ihr grün, die Baumwipfel wiegen im Wind, dahinter ist der Himmel weiß und matt.

müsste es nicht dadrüber statt dahinter heißen? Fänd ich allein deshalb besser, weil ich sonst noch durch die Flasche schauen würde.


Die aus der Erde stehenden Wurzeln sind kaum zu erkennen.

umständlich, oder wolltest du so ein mögliches Stolpern herausstellen?
Vorschlag: Wurzeln stehen aus der Erde, sind kaum zu erkennen.


Es ist kein See zu sehen,

irgendwie erwarte ich hier ein "doch" "aber" "jedoch" oder Ähnliches.


Keine Ballustrade.

ein l weniger. Mir würde Geländer eh besser passen.


Baumelnde Beine über dem Abgrund vor violettem Himmel.

hm, jetzt ist der Himmel plötzlich violett?


Nach unten geschaut, über die Knie hinweg wiegen sich die Baumwipfel im Wind. Nicht das Gleichgewicht verlieren - da ist ihre Hand, ihre Schulter. Ein warmer Wind kommt auf, die Angst, die Schönheit. Sie hat gewartet.
Finde ich sehr gelungen.


ein-gestickt

hat der Strich eine höhere Bedeutung?


Der Zettel liegt noch auf dem Nachttisch. Er steht aus dem Bett auf.

Der Zettel? Das erste Mal wirst du personal. Das irritiert mich. Für mich ist es perspektivisch ein Ich-Erzähler, was soll das sonst auch für einer sein, der live dabei ist bis in die Gedanken?


Gut, dass er mit dem Brief bei ihr war.

hä? Brief?


Er macht das Fenster auf, die Blätter rauschen im Wind und er weiß sie tragen die Welt.

ja, stark.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 02.11.2014, 10:26

Hallo Dohle,

die zweite Version überzeugt mich nicht, für mich geht viel Schöne aus der ersten Version verloren, vor allem der Schluss war darin so viel stärker. Und der Versuch es gegenwärtig zu machen, geht für mich auch hier nicht auf. Es geschieht für mich nicht, es wird erzählt und dadurch wird das Präsens nur zu einer Behauptung.

Ich habe mir die erste Version des Textes mal (mit ein paar kleinen Änderungen) in die Vergangenheit und Ich-Perspektive gesetzt und für mich gewinnt er dadurch sehr. Vielleicht magst du das auch mal für dich anschauen. Hat Spaß gemacht, mich auf den Text einzulassen und ihm selbst nachzugehen.

Als Titel könnte ich mir das hier: „ und ich hoffe – hoffe und.“ sehr gut vorstellen. „Zwischengeschoss“ will es für mich etwas zu sehr auf eine metaphorische Ebene heben.

Liebe Grüße
Flora
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 02.11.2014, 10:32

Hallo Dohle,
der Schluss hat jetzt für mich eine ganz andere Bedeutung, bzw. ich erkenne keine ...
Vielleicht ein Missverständnis meinerseits.

<<Er nimmt sich den Zettel, den er von ihr mitgenommen hat. Er sieht die einzelnen Wörter, die sie einem alten Brief entnommen hatten, um sie neu zusammenzusetzen.
Gedanken und ein gewisser Anteil, zu aller-erst, dich freizulassen, und ich hoffe - hoffe und.>>

Das ist die alte Fassung; ich habe ein Paar gesehen, das einen in einer Truhe oder Schublade gefundenen alten Brief (der wahrscheinlich für jemand ganz anderen bestimmt war) auf Jux zerlegt und neu zusammengesetzt hat, bis etwas herauskam, das für beide Bedeutung hatte; und diese neue Botschaft hat er auf einen Zettel geschrieben und mitgenommen.

Neue Fassung:
<<Gut, dass er mit dem Brief bei ihr war. Sie haben die Wörter wahllos seiner Komposition entrissen.
Neu zusammengestellt sieht er sie vor sich.
Gedanken und ein gewisser Anteil, zu aller-erst, dich freizulassen, und ich hoffe - hoffe und.>>

Jetzt hat er also einen Brief mitgenommen zu ihr (die Kennzeichnung "alt" fehlt, was zumindest bei mir zu dem Schluss führt, dass er diesen Brief selbst geschrieben und zu ihr mitgenommen hat), der Brief war "seine Komposition" (gleiche Schlussfolgerung) und "sie" haben diesem Brief wahllos Wörter entrissen, was eine feindselige Atmosphäre erzeugt, so dass ich das "sie" jetzt überhaupt nicht mehr auf das Paar beziehen kann, sondern eine anonyme feindliche Macht dahinter sehe, irgendwelche Männer in Schwarz (nicht böse sein, ich wills nicht ins Komische ziehen, erkenne aber keine Person in diesem "sie"). Ich verstehe diesen Schluss leider nicht, kann die Szene nicht deuten, wie auch immer.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Dohle

Beitragvon Dohle » 02.11.2014, 14:39

Hallo ihr lieben Leute,
ich freu mich über eure Reaktionen, danke.
Der Text ist usrsprünglich ein Fragment aus einer größeren Prosa, das ich verworfen habe, weil es nicht mehr hinein passt. Es gefiel mir aber gut und so hab ich versucht, es als ganz kurze Geschichte zu fassen. Im größeren Text herrscht ein Erzähler in der dritten Person vor, deshalb hatte ich Schwierigkeiten, den Traum zu personalisieren geschweige denn ihn zum Ich-Erzähler zu überführen, was wahrscheinlich wirklich die beste Lösung wäre. Nur, finde ich die Idee auch interessant am Ende des Textes die dritte Person wieder einzuführen, da diese ja wieder mehr Distanz schafft, zu der Nähe eines Traums, der ja etwas sehr Nahes darstellt, sehr nah an einer Figur ist.

Um schwarze Männer soll es nicht gehen, vielleicht ist "entreißen" hier nicht das am besten passende Verb, oder aber doch, denn vielleicht hat die Figur ja einen aus seiner Sicht meisterlichen Brief verfasst und dann haben beide Figuren über jede Eitelkeit hinaus laut gelacht - seine Ideen (brutal) verworfen und etwas neues Schönes, Loses daraus geformt.

Das "ein-gestickt" wurde mir von der Software als Fehlerlösung angezeit, es hat keine tiefere Bedeutung, auch alle anderen Bemerkungen von Nifl find ich sehr berechtigt und gut, danke, danke euch.

viele Grüße von Dohle


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