freigang

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
ecb

Beitragvon ecb » 28.09.2014, 17:20

leben als vollzug
(das führt den gedanken zum
strafvollzug)

und ein flügel, der dennoch
meine wange berührte

ich bin sicher
du siehst mich nicht
auch nicht mehr auf mich herab

keine einwände
zu entkräften

einkehr –

um mich
ein gewisser verkehr
(der landstraße, größer, als man glaubt)

als wäre ich im wege

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 28.09.2014, 21:12

Salut, Eva!

Nach Lesen des Gedichts dachte ich, ich warte ab, lasse es in mir ruhen, sehe, was Andere dazu sagen bevor ich mich selbst dazu äußere.

Jetzt denke ich, warum nicht einfach spontan schreiben, was mir dazu einfällt? Und, später, nochmal etwas darüber schreiben. Etappenweise, sozusagen.

Der Titel gefällt mir. Und die allgemeine Idee, das Leben als Vollzug, ist, im Grunde, Bestätigung der Realität.

Für die meinsten Menschen sowieso, die erst im Rentenalter sich ihren Hobbies widmen können.

Entlassung aus der Arbeit, aus dem Gefängnis.

Der Satz in Klammern schwächt die Aussage, führt den Leser ins Prosaische.

Eine kleine Annäherung an dein Gedicht, liebe Eva

Carlos

Rita

Beitragvon Rita » 29.09.2014, 08:35

Liebe Eva,

Thema: Heutiges Dasein, ein Leben in Hilflosigkeit. Du vergleichst dein Dasein mit dem Einsitzen in einem Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Den Flügel, der dennoch die Wange berührte, will ich einem Höheren zuschreiben, vielleicht einem Engel, einem, auf dem alle Hoffnung ruht. Diesem Höheren wendest du dich in einer Apostrophe zu, du sprichst ihn an, aber ein Ahnen sagt dir, der Höhere hat dich verlassen.

Danach wird es für mich nicht ganz erklärlich. Wer ist gemeint, wer hat keine Einwände, die nicht zu entkräften sind? Das alleinstehende Wort Einkehr deute ich als hilflosen Rückzug des Ich ins Innen.

Die Conclusio erscheint mir nicht ganz logisch. Deine Zeilen suggerieren: Der Verkehr ist da, um deinem Ich zu bedeuten, es sei im Wege. Nein, der Verkehr schert sich nicht um das Ich, er übersieht es einfach, es spielt keine Rolle mehr - das wäre für mich die logische Folgerung: Das Leben geht weiter, aber ohne dein Ich.

Zum Technischen: Die erste Klammererklärung halte ich für überflüssig. Das Wort Vollzug ist meiner Ansicht nach eindeutig genug, man assoziiert sofort Strafvollzug. Mit der zweiten Klammer kann ich im Grunde nichts anfangen, aber das scheint mir zusammenzuhängen mit der etwas verqueren Aussage des Passusses.

Ich habe von einem vielleicht älteren Menschen gelesen, der sich überflüssig fühlt, dem seine neue "Rolle" erst nach und nach verständlich wird und der noch keinen Ausweg aus seiner Situation gefunden hat, ihn auch nicht mehr erhofft. Deutliche Resignation spricht aus allem, der Mensch scheint sich selbst aufgeben zu wollen.

Lieben Gruß, Rita

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 29.09.2014, 10:22

Ich lese das "leben als vollzug" etwas anders: Gerade die anschließende Zeile "das führt in gedanken zum strafvollzug" lädt ein, Vollzug anders zu lesen denn als Strafvollzug. Ein Leben vollziehen lässt einmal ans Lebensende denken (vollziehen im Sinn von abschließen), zum anderen legt es nahe, dass es sich um ein erfülltes, produktives Leben handelt bzw. gehandelt hat.

Die Zeilen, in denen ein Du angesprochen wird, deuten auf Trauer um einen verstorbenen Menschen - so verstanden, lässt sich das "siehst ... auch nicht mehr auf mich herab" recht doppeldeutig lesen - auch die nachfolgenden Zeilen könnte man so lesen, dass der oder die Verstorbene der Sprecherin ein unerreichbares Vorbild war (oder vorgab, eines zu sein).

Vielleicht lese ich auch nur etwas in das Gedicht hinein, weil ich genau diese Situation persönlich kenne ...

Mit nachdenklichen Grüßen
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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birke
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Beitragvon birke » 29.09.2014, 11:02

ja, so wie zefira lese ich den text in etwa auch.
... und das ende führt mich quasi zum titel.
gefällt mir!
lg,
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 29.09.2014, 15:30

großartig, finde ich dieses gedicht. ergreifend lakonisch.

ecb

Beitragvon ecb » 29.09.2014, 17:14

Oh ja, Gefängnis kann vieles sein, Carlos.
Und der Satz in Klammern sollte in diesem Fall genau das bewirken, wovon du sprichst.

So allgemein, wie du es aufgefaßt hast, meinte ich es eigentlich nicht, Rita, aber das macht ja nichts, man kann es vielleicht auch so verstehen, ich weiß es nicht. Um Logik allerdings geht es mir nicht, dazu ist die Situation, von der die Rede ist, zu widersprüchlich und ambivalent.
Die Klammerzeilen dienen hier nicht der Information, sondern haben eine andere Aufgabe, nämlich einen bestimmten Ton herzustellen.
Dein Resumé teile ich natürlich auch nicht so, auch hierin gibt es ein paar Widersprüchlichkeiten und Spannungen, von denen ich irgendwie hoffe, daß sie sich mitteilen, nicht zuletzt vielleicht durch den Titel?

Genau, birke.

Und ich fühle mich durch Zefiras Lesart bestätigt; und natürlich erst recht durch deine Reaktion, Xanthippe.

Habt alle vielen Dank für euer aufmerksames Lesen!
Und nun werde ich hoffentlich auch wieder mehr dazu kommen, eure Texte zu besprechen.

Liebe Grüße
Eva


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