leipzig

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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nera
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Beitragvon nera » 26.10.2014, 19:23

oktober 2014
heiliger nikolaus heiliger thomas
zwischen blues und tempeln
eine lustvolle grätsche
krähen in den noch grünen weiden
und die schlangen bis auf den bürgersteig in/ aus
der bäckerei
der gasometer trägt eine krone
seltsam nackt
auch der geschmack in den augen
zwischen hauptbahnhof und gewandhaus
strassenweise tragen die fassaden brautschleier
(taubenvergiftete isaaks)

später schaulaufen
design is open im strengen grassi
bettelbüchsen in der altstadt:
für hundefutter
für gras
für alkohol

dann
nachts belehrung vom philosphischen taxifahrer der dabei war
damals als kein blut floss
die falsche geschichtsschreibung
-mal wieder der ausverkauf



2.arbeitsversion

oktober 2014

heiliger nikolaus heiliger thomas
zwischen blues und tempeln
eine lustvolle grätsche
krähen in den noch grünen weiden
und die schlangen bis auf den bürgersteig in/ aus
der bäckerei
der gasometer trägt eine krone
seltsam nackt
über den dächern von gohlis

zwischen hauptbahnhof und gewandhaus
der geschmack von braunkohle in den augen
strassenweise tragen die fassaden brautschleier
oder die orden des neuen menschen
(taubenvergiftete opfer, beide)

später schaulaufen
design is open im strengen grassi
bettelbüchsen in der altstadt:
für hundefutter
für gras
für alkohol

dann nachts
die belehrung vom philosphischen
taxifahrer der dabei war
damals als kein blut floss
die falsche geschichtsschreibung
und die partei hat immer recht
-mal wieder
ein ausverkauf

es leuchtet leuchtet
Zuletzt geändert von nera am 14.11.2014, 13:00, insgesamt 2-mal geändert.

Niko

Beitragvon Niko » 29.10.2014, 16:29

ein für mich zerfleddertes bild von leipzig, nera.
"heiliger thomas" deutet wohl auf die thomaskirche hin, gibt es auch eine nikolaus kirche dort? die schlangen finde ich zu gewollt schlacksig. leipzig schimmert hie und da für mich durch (als jemandem, der nur zweimal dort war), aber es entsteht kein ganzes. es bleibt für mich zerfahren und es stellt sich dadurch vor allem für mich kein "leipzig-gefühl" ein, eine emotion, die ein text über eine stadt vermitteln kann.
was mir aber gefällt ist die geschichte mit dem taxifahrer. doch auch hier lässt mich zumindest die letzte zeile wieder unzufrieden zurück, weil ich keine genaue einordnung dieser zeile vornehmen kann.
städte-lyrik ist bestimmt nicht leicht. ich muss das auch mal versuchen!
beste grüße: niko

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 29.10.2014, 17:06

Die Nikolaikirche solltest Du Dir ansehen, wenn Du mal hinkommst, Niko! Die bekannten Montagsdemos, die zum Mauerfall führten, haben m.W. dort ihren Anfang genommen; im übrigen ist es eine wunderschöne Kirche.

Ich war in letzter Zeit mehrmals in Leipzig (immer als Touristin) und habe genau diesen Eindruck von Umbruch und Durchmischung, den das Gedicht hervorruft.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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nera
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Beitragvon nera » 29.10.2014, 17:17

hi niko, ich denke, ich muss es nochmal versuchen. das war jetzt wirklich ein schnellschuß, den ich ganz frisch abfeuern musste. hätte ich sie nur in eine worddatei geschrieben, hätte ich mich nicht mehr dran gesetzt.
die problematik ist sicher auch, dass leipzig dieses letzte wochenende so zerfahren, unhomogen auf mich gewirkt hat. die nikolaikirche war mit einer der ausgangspunkte der friedlichen revolution und das wird allgemein stark thematisiert, weil es 25 jahre her ist. vor der thomaskirche steht aber auch eine tafel, auf der über die verhaftungen der musiker dort beim 1. ostdeutschen nichtgenehmigten straßenmusikfestival im sommer 89 berichtet wird.
alles ist so geschichtsschwanger und gleichzeitig so hip, sehr seltsam.
die immer noch kaputten häuser, straßenweise und dann die wunderschön restaurierten. leipzig sollte zu ddr-zeiten dem tagebau zum opfer fallen, auch ein grund, warum vieles nicht mehr gepflegt wurde und es gab ein taubenproblem, dass bei kindern zu atemwegserkrankungen führte.
gleichzeitig fand die designers open dort statt. und ja der taxifahrer, grübel. er erklärte uns, dass die revolution eigentlich von der sed geplant war. und natürlich die schlangen vor aus den geschäften, das habe ich bis jetzt wirklich so nur in den neuen bundesländern erlabt und guck morgens das hotelfenster raus und: ein schlange aus der bäckerei.
also ich versuchs nochmal, wenns nicht hinhaut- ab in die tonne!

ps. und ja er, der taxifahrer, meinte, sie seien verkauft worden.

ecb

Beitragvon ecb » 30.10.2014, 17:58

Eine Art Eindruck gibt mir dieses Gedicht sehr wohl, die ich Leipzig leider nicht kenne, aber andere Städte, auf die einiges dieser Charakterisierung auch zutreffen kann. Also gibt es durchaus Wiedererkennen, vorallem in den scharfen Kontrasten und widersprüchlichen Erscheinungen. Nein, ein geschlossenes Bild kann es (noch) nicht geben, und ich glaube schon, daß man die Äußerung des Taxifahrers nachvollziehen kann, die gleich mehrere Ebenen des Neuen umfaßt.

Das mit den "isaaks" verstehe ich nicht, ist das eine biblische Anspielung auf ein irgendwie verweigertes Opfer?

Aber mir gefällt das Gedicht nicht schlecht, nera :daumen:

Liebe Grüße
Eva

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nera
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Beitragvon nera » 01.11.2014, 00:53

danke zefira und eva.
im moment komme ich nicht weiter. ich denke zb. die ganze zeit über auch die "isaaks" nach. ich weiß nicht, ob das wirklich so passend ist. ich dachte dabei an diese strassenlange häuserzeilen aus der gründerzeit, dem jugendstil, die nicht repariert wurden. wegen dem braunkohlenabbau und, wie ich gelesen habe, der baukonzentration auf berlin. in leipzig war das wirklich massiv. als ich vor circa 18 jahren das erste mal hier, konnte ich gar nicht fassen, dass man durch strassen fuhr, in denen kein haus mehr bewohnbar war. heute ist sehr vieles wieder sehr schön. aber es gibt auch sehr viel häuser, die eingerüstet sind und diese baunetze dran haben, das meine ich mit brautschleier. nun, mit dem isaak muß ich mir etwas anderes überlegen. es ist sicher zu kompliziert gedacht.
liebe grüße

Rita

Beitragvon Rita » 06.11.2014, 07:16

Hallo Nera,

der Eindruck einer Westtouristin: Hier ist es ja gar nicht so wie bei uns zu Hause!

Ich bin der Ansicht, wenn jemand einen Text über die "Heldenstadt Leipzig" schreibt, müsste er vor allem hinter die Fassaden sehen, sofern er wirklich etwas über den von ihm aufgesuchten Ort wissen will. Dann würde er nämlich relativieren: dass die Häuser jetzt, 2014, zwar frisch getüncht sind, aber die Arbeitslosigkeit himmelschreiend. Misst sich die Humanität und Prosperität eines Landes für dich an ihren getünchten Häusern? Eine Frage, die ich mir stelle. Aber ich will hier kein West-Ost-Gezänk aufmachen.

Hier wird brav aufgezählt, was der fremde Besucher alles so sehen kann. Ja, von der Nikolaikirche hat er schon mal gehört (geht ja auch auf Loests Buch zurück, das verfilmt worden ist), auch wenn Verwechslungen mit der Moskauer Isaak-Kathedrale nicht ausgeschlossen sind. Ach, und einen Gasometer gibt es hier auch noch? Sogar mit Krone? Bei uns sind die alle modernisiert worden, hübsch blau-weiß angestrichen, richtig nett, monarchistenfrei. Ein bisschen ausgelatscht der Brautschleier um die Baugerüste. Ja, und die Taxifahrer philosophieren hier? Ich vermute, dein LI hat ihn angesprochen, um herauszufinden, ob er nicht gar mal Stasi-IM war, in Leipzig kann man ja nicht wissen. Aber er hat sich zum Glück als staatstragend erwiesen, das beruhigt. Dass viele der Leipziger Häuser von der DDR nicht renoviert wurden, hängt mit den Eigentumsverhältnissen zusammen, viele Häuser befanden sich nämlich in Privatbesitz ausländischer Eigentümer, die sich einen Dreck darum scherten, wie ihre Mieter im sibirischen Osten wohnten. Die DDR hatte kein Recht für Arbeiten an diesen Gebäuden, da wurde von der kommunalen Verwaltung nur das Nötigste für die Mieter gemacht. Aber das muss man wissen, ehe man sich über die Leipziger Seitenstraßen empört. Nach 1990 tauchten dann die "Alteigentümer" auf, und das erste, was sie taten: Sie schickten Mieterhöhungen. Jaja, wir sind jetzt wieder ein Volk, das sich an die Preise gewöhnen muss.

Der Rest ist nachlesbar in Broschüren der Stadtinformation.

Als Text über Leipzig taugt mir Obenstehendes wenig, sowohl was den Bau des Gedichtes, seinen Inhalt als auch das rein Handwerkliche angeht. Vielleicht hättest du mehr Abstand zum Erlebnis gebraucht.

Gruß, Rita

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 06.11.2014, 08:33

Rita: "Ausgelatschter Brautschleier"?? Das hätte mein Deutschlehrer aber unterschlängelt ...

Hach ja, die DDR ... durfte die Häuser nicht renovieren. Wo doch die "ausländischen Eigentümer" immer locker hätten reingucken können. Aber die wollten einfach nicht!

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nera
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Beitragvon nera » 06.11.2014, 09:44

liebe rita

danke, dass du dich mit diesem text befasst hast. ich werde aber auf deine kommentare nicht mehr eingehen. dein bis jetzt gezeigtes verhalten diesbezüglich war mir zu arrogant, ignorant und zu übergriffig. sorry, darauf habe ich keine lust. nur noch eines, die himmelschreiende arbeitslosigkeit liegt bei 10%.
ansonsten liebe grüße aus thüringen

jondoy
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Beitragvon jondoy » 08.11.2014, 22:08

nera hat geschrieben:alles ist so geschichtsschwanger und gleichzeitig so hip, sehr seltsam.


ein kleiner Satz, und doch fängt er Atmosphäre ein, find ich.

Halo nera,

du schreibst: es ist sicher zu kompliziert gedacht.

hm, nicht unbedingt, ja und nein, find ich.

Als ich den Text jetzt zum ersten Mal gelesen hab, habe ich mich gefühlt wie ein Japaner....
....das nagasaki des westens, in dieser Stadt sind damals die Demos niedergegangen in die Köpfe der hinter dem Vorhang lebenden Bewohner, haben diese in Aufbruchstimmung versetzt,

kenn weder die Stadt noch deren heutige und damalige Atmosphäre, deswegen diese flapsige Umschreibung, das war bei uns und damals doch für uns ein fernes Ereignis hinter dem Planeten Vega, Italien wohnte bei uns um die Ecke, nur zwei Straßen, zwei kleine Pässe weiter, und dieses ferne östliche Märchenland, in dem keine Orangen und Zitronen, dafür Medaillen an den Bäumen wuchsen, von dem haben uns unsere Politiker immer in leuchtenden Farben erzählt...wir denen haben wir nichts geglaubt....

Wie der Text die Stadt beschreibt, kann ich deshalb nicht beurteilen, wenn ich ein Leipziger wäre, weiss nicht, ob mir diese Metapherumschreibungen des Zustandes dieser Stadt gefallen und wie sie auf mich wirken würden...

bloß ich les den Text weniger inhaltlich, les mehr die Sprache, und die Sprache gefällt mir durchaus, auch ihr Ansatz, mit anderen Worten das Feeling einer Stadt zu beschreiben, den Eindruck, wie sie einem da entgegenschlendert, wenn jener Ort zu dieser Zeit besucht wird,
deswegen vielleicht nicht zu kompliziert gedacht, Nera, da gibt's uninteressantere Texte, find ich, ein Balanceakt, wenn man die Bilder noch mehr öffnet (dass sie jeder versteht), verwässert seine Sichtweise, die aus den Umschreibungen herausblitzt, die kann ich mir richtig gut vorstellen....

kann als Leser eines ´fremden Kulturkreises` natürlich nur vage Vermutungen anstellen (deine Erläuterungen ständen mir ja nicht zur Verfügung), was da ausgedrückt werden will, mit der zeitgeschichtlichen Koordinatenangabe "Oktober 2014" ist natürlich schon zu Beginn ein Plakat aufgestellt, der keine Option mehr offen lässt, worauf der Text anspielt...


...dieses bild....seltsam nackt, auch der geschmack in den augen auf dem prozessionsweg,
weiss nicht, ob ich diesen ausdruck gelten lassen will, es geht mir nicht darum, ob es geschmack in den augen gibt, ist mir völlig egal, sieht man augenpaaren an, woran sie denken, wenn sie durch die stadt getragen werden, das frag ich mich, würde das jetzt übersetzen mit ausdrucklos, denk da unwillkürlich an nacktmullaugen, wie sehen sich nacktmullaugen eine Stadt an...vielleicht mit anderen sinnen, als unsere köpfe denken...


den text würde ich jedenfalls nicht in die tonne schmeißen, dafür spielt er zu schön atmosphäre fangen, das gefällt mir so an ihm.

namaste,
jondoy



PS: wie ich mir die Stadt nach dieser Beschreibung vorstelle: ehemalige fassaden wurden durch neue ersetzt....

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nera
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Beitragvon nera » 09.11.2014, 01:32

danke jondoy, dein kommentar hat mir weitergeholfen, zumindest in diesem "nackt-punkt" ich muss dieses "in den" mit "in meinen augen" ersetzen. ich bin etwas synästhetisch veranlagt. für mich ist so eine "sehweise" ganz einfach. hm?
und dein ps ist sehr interessant. gerade in leipzig wurden fassaden erhalten und dahinter alles erneuert-potemkinsche dörfer.
mein problem ist aber noch immer dieser isaak. vielleicht würde iphigenie besser passen? oder einfach nur opfer?
merci

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nera
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Beitragvon nera » 09.11.2014, 23:02

ich habe jetzt etwas überarbeitet. vielleicht ist es so etwas besser zu verstehen?

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 10.11.2014, 12:10

Hallo nera, die heraus scheinenden Gegensätze gefallen mir. Man findet sie in jeder Stadt, aber diese Spuren kompromierter Geschichte natürlich vor allem in ostdeutschen Städten. Deine zweite Fassung empfinde ich als "geschmeidiger", ohne die Brüche zu verwischen.

Die einzige Stelle, die mir einfach nicht gefallen will, ist diese:


... trägt eine krone
seltsam nackt



da wirken die Gegensätze zu "gewollt" auf mich. "Seltsam" ist m. E. ein schwieriges Wort in der Lyrik, da diese Seltsamkeit doch besser lyrisch vermittelt werden könnte, als dass sie so explizit ausgesprochen wird. Die Krone und das Nacktsein macht mich im übrigen neugierig, durch das "seltsam" fühle ich mich aber, sozusagen, vorzeitig abgespeist. Ich hätte es lieber noch (eine Spur mehr) erläutert; ohne seltsam.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 10.11.2014, 21:15

nera, er ist jetzt leichter zu verstehen (besser/schlechter, suchs dir aus),

den neuen Schluss (aber es leuchtet leuchtet) find ich sehr gelungen, er setzt einen Kontrapunkt,

die begriffe isaak/iphigenie wären autarker, dafür verschlüsselter gewesen, mit dem begriff Iphigenie würde ich nicht spontan den begriff opfer assoziieren.
die jetzige Beschreibung (taubenvergiftete opfer, beide) ist sprachlich schlichter, doch ich finde, sie passt hier speziell ganz gut, da ihre Aussage (dank des augenblicklichen Verstehens) in derselben Sekunde irgendwie dann nochmals mit den vorigen Zeilen korrespondiert, meinem leseempfinden nach.
Ciao


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