über die üppigkeit (hinaus)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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birke
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Beitragvon birke » 19.01.2015, 18:54

.
ich stehe am punkt
zwischen wüste und grün
und mehr noch
schwanke ich
falle in weite

wo ich hinter die dinge seh
endet die kargheit

(schon der duft von milch
erzählt einen roman)

und ein wortmeer wellt mir zu
und ein wortwald wogt am rande

die farbe bewegt mein auge
und ich weiß, wo ich stehe
lebt üppigkeit

auf der grenze geht das wort

darüber hinaus
führt eine stille straße

zu dir. zu mir
.
Zuletzt geändert von birke am 20.01.2015, 21:05, insgesamt 1-mal geändert.
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Rita

Beitragvon Rita » 22.01.2015, 17:45

Birke,

mein Eindruck von deinem Gedicht ist recht zwiespältig. Wobei die Differenz zwischen "hinter die Dinge sehen" und der "Milch", die einen Roman erzählt, doch recht groß ist. Das hat was von Hausfrau, die auch gern mal philosophiert. Nicht anfreunden kann ich mich mit der Angewohnheit, Verse in Klammern zu setzen - entweder die beiden Verse gehören zum Gedicht, dann brauchen sie keine Klammer, oder sie tun es nicht. Mir würde das Gedicht vielleicht mehr zusagen, wenn du eine konkrete Situation zwischen dem LI und dem DU beschrieben hättest und dich nicht so sehr im Abstrakten bewegen würdest. Die Absicht, hier große Kunst zu schreiben, ist nicht zu übersehen. Dadurch "klappert" das Gedicht und wirkt auf mich nicht sehr überzeugend.

Ciao, Rita

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 23.01.2015, 01:33

Klammerzeichen halte ich für sehr nützliche Musiknoten; sie geben dem bloßen Schwarzweiß des Textdaseins und -wegseins eine zusätzliche Dimension: nämlich die Dosierung der Lautstärke oder der Tonhöhe. Eingeklammerte Stellen lese ich entweder leiser oder mit tieferer Stimme. Das steigert die Dynamik, verdrängt die Monotonie (ähnlich wie etwa die Augenbrauendynamik eine visuelle Lesung belebt). Es erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten sowohl im schriftlichen als auch im akustischen Vortrag. Wobei die Akustik ja immer stattfindet: auch beim stummen Lesen, wenn der Leser seine eigene Stimme im Kopf hört.

Also, ich finde, man sollte Klammern ebenso erlauben wie Zeilenumbrüche und Kommas. Zeilenumbrüche und Kommas sind die Musiknoten für den Rhythmus. Und Klammern sind die Musiknoten für die Lautheit.

Die totale Reduktion auf eine reine, musiknotenlose Buchstabentapete -- was manche Autoren mögen -- führt beim Lesen (bei mir jedenfalls) auch zu einer entsprechenden Monotonie. Die kann natürlich auch gewollt sein. Oder auch nicht, wenn der Autor meint, seine Leser würden automatisch seine Kopfmusik mithören, einzig durch die Bedeutung seines Vokabulars.


Hommmmm

P.

Rita

Beitragvon Rita » 23.01.2015, 07:25

Lieber Pjotr,

man kann einen Vers auch leiser sprechen, ohne dass er in Klammer gesetzt ist. Wenn du schon einmal Manuskripte von Sprechern gesehen haben solltest, so findest du da Unterstreichungen, Kommata, Doppelpunkte, Trennstriche usw., die als Wegweiser durch das textlogische Lesen dienen. So jedenfalls kenne ich das. Ich halte das In-Klammer-Setzen schlicht für eine Masche, um so etwas wie "Bedeutung" zu erzeugen, die oftmals gar nicht vorhanden ist. Denn das Problem heutiger Lyrik besteht doch darin, dass sie weitaus weniger vorgetragen, als viel häufiger nur gelesen wird.

Und wenn du die Monotie der schwarzen Schrift nicht magst, dann reicht nach meinem Dafürhalten das einfache Mit- und Hineindenken in den Text. Dann wird vom erhofften "Mitschreiben des Lesers" gesprochen. Wenn ich von der Überflüssigkeit der Klammern im Gedicht spreche, dann geht es nicht um das Erlauben oder Nichterlauben, sondern um Textlogik und Ästhetisches. Worauf es uns ja ankommt.

Ciao, Rita

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 23.01.2015, 07:55

Liebe Rita,

ja, es geht nicht um das Erlauben oder Nichterlauben. Ich war zu ungenau; lass es mich präzisieren. Ich meinte: man sollte Klammern ebenso wie Zeilenumbrüche und Kommas als Werkzeuge der Textlogik und Ästhetik betrachten, und nicht als modische Pseudobedeutungsschwangerschaft.

Ja, ich habe Manuskripte von Sprechern schon einmal gesehen. (Ich habe in meiner ersten Lebenshälfte ein paar Jahrzehnte in der Tontechnik gearbeitet, für TV, Radio, Musikindustrie, auch live für die Bühne.)


Ahoy

P.

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birke
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Beitragvon birke » 23.01.2015, 10:02

das sehe ich genau wie du, pjotr, danke. ein wunderschöner musikalischer kommentar!
(warum auch sollte man klammern in der lyrik ausklammern? :smile:
sie sind doch ebenso satzzeichen wie punkt, komma, gedankenstrich usw
man kann mit ihnen nuancen setzen ...)
lg
birke
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birke
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Beitragvon birke » 23.01.2015, 10:17

ein interessanter leseeindruck, rita, danke.
vor allem, dass du bei milch an hausfrau denkst, finde ich sehr interessant. :smile:
ciao, birke
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