Engelmacher

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 17.07.2016, 22:37

Engelmacher

mag sein –
in der Heimlichkeit
springt der Tod
vom Namenlosen
auf mich

plötzlich + unerwartet
heißt es dann
reingewaschen vom Blut
als wärs mein Herz
das zu eng wuchs

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 18.07.2016, 09:58

Bis jetzt hat sich niemand zu diesem Gedicht geäußert?

Warum?

Weil es eine Aussage beinhaltet, die sehr kontrovers ist.

Man fürchtet sich vor einer endlosen Auseinandersetzung, die, letzten Endes, nichts oder sehr wenig mit dem Gedicht an sich, als lyrisches Produkt zu tun hat.

Dein neues Bild gefällt mir sehr gut.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 18.07.2016, 10:03

Hallo Klimperer, ich hoffe doch, dass nicht nur eine Aussage drin steckt ...

Klara
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Beitragvon Klara » 19.07.2016, 14:41

Hallo Amanita,

interessante Verse.

Ich lese: heimliche Abtreibung, die schief geht insofern, als zwei dabei ihr Leben lassen, Mutter und Nicht gebornes,
gebilligt bzw. nachträglich "abgesegnet" und auserklärt von weiterer Heimlichkeit/Lüge, als stürbe da eine ZUFÄLLIG, und nicht, weil ein anderer Ausweg als dieses Risiko einzugehen, nicht möglich schien.
Ein gesellschaftlich legitimierter Tod gewissermaßen, solange Abtreibung illegal ist.

Vor lauter Inhaltsschwere vermag ich nicht zu sagen, ob die knappen Verse mir gefallen - und dem Gezeigten angemessen sind.

Da scheint eine zu sprechen, die jede sein könnte, in einer Notlage, in ungünstiger Umgebung.
Doch bleibt es eine Tötung - und nicht "der Tod". "Der Tod" beträfe nur die aktiv Handelnde, "mich", Frau.
Oder "das Sterben".
Es wirkt ungenau auf mich - sowohl sprachlich als auch in der Aussage. Ich bin mir nicht sicher, ob das lyrische Ich sicher ist, was es sagen will, so dass das unterschwellig Anklagende mich nciht erreicht. Da scheint etwas noch nicht fertig gedacht oder gefühlt.

Und dann verstehe ich auch nicht, am Ende, das eng wachsende Herz und das "als wärs". Reingewaschen als wärs? Wie kann das enge Herz reingewaschen sein? Vielleicht sind da die Worte vorgeprescht, aber die Gedanken stimmen nicht dazu. Mir kommt es jedenfalls - krumm vor. Unfertig. Unsofern - thematisch sehr passend.

Unentschiedene Grüße
klara

liebe Grüße

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 19.07.2016, 15:09

Hm, Klarheit gibts bei dem Thema glaube ich nie.

Eine gewisse "Unentschiedenheit" soll da ruhig durchklingen.

Aber ich finde schon, dass der Bezug da ist.

plötzlich + unerwartet (steht auf vielen Todesanzeigen)
heißt es dann (= sagt man o. ä.)
reingewaschen vom Blut (ist die Aussage "plötzlich und unerwartet)
als wärs mein Herz (gut: hier könnte man der Klarheit halber "gewesen" anfügen ...)
das zu eng wuchs (Herzkrankheit als Todesursache, kommt ja vor bei jüngeren Menschen, heißt aber auch: engherzig sein: Menschen zur - heimlichen - Abtreibung direkt oder indirekt nötigen usw. Oder zur Engherzigkeit nötigen).

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.07.2016, 16:33

Mich irritiert das "springt", da es sich anhört, als würde das Namenlose verschont und der Tod habe sich stattdessen für die Mutter entschieden?

Und ich würde hier nicht die Ich-Perspektive wählen, sie erscheint mir nicht glaubhaft und das bewirkt dann diese Skepsis und verhindert, dass der Text mich erreicht. Durch ein "sie" wäre die Anbindung an die zweite Strophe auch stärker.

als wärs mein Herz
Hier kommt es sehr auf die Betonung an, die auf dem "mein" liegen müsste? Vielleicht kursiv stellen?

Nur mal zum Anschauen:
► Text zeigen


Schön finde ich, dass sich das "plötzlich + unerwartet" eben auch auf das Reinwaschen beziehen kann und der Titel durch den Text noch einmal hinterfragt, beleuchtet wird und in einen gesellschaftlichen und religiösen Kontext gestellt wird.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 19.07.2016, 22:18

Hallo Ylvi,

Danke für Deinen Vorschlag!
Ich hatte ihn allerdings (so ähnlich) schon durchgespielt. Könnte damit gut leben, wäre da nicht die Überschrift (die wiederum als Hinweis gebraucht wird). Ich finde, die Perspektive ist nun deutlich anders - der Vorwurf ginge an den Engelmacher, der in Kauf nimmt, dass sie bei dem Eingriff stirbt. Das ist zwar auch richtig, aber Hauptadressatin ist bei mir die Gesellschaft, die das alles (durch eine rigide Gesetzgebung, Heimlichkeit, Verlogenheit etc.) forciert. Und das ist doch durch das Ich klarer?

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 20.07.2016, 00:18

Wenn das so ist, warum indirekt durch die Lyrik, warum nicht direkt die Gesellschaft anprangern?

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.07.2016, 08:30

Hallo Klimperer, das beantwortet sich schon dadurch, dass wir - hierzulande wenigstens - solche Zustände gerade nicht haben. Außerdem empfinde ich die Lyrik nicht als "indirekt", sondern in gewisser Weise sogar als direkter, da sie Saiten anreißen kann, von denen sich ein Sachtext weit entfernt sieht (bzw. auch zu sein hat).

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.07.2016, 08:45

Ich finde, die Perspektive ist nun deutlich anders - der Vorwurf ginge an den Engelmacher, der in Kauf nimmt, dass sie bei dem Eingriff stirbt. Das ist zwar auch richtig, aber Hauptadressatin ist bei mir die Gesellschaft, die das alles (durch eine rigide Gesetzgebung, Heimlichkeit, Verlogenheit etc.) forciert. Und das ist doch durch das Ich klarer?
Hm ... warum sollte das durch das Ich klarer sein? Für mich würde das eher den Blickwinkel noch erweitern. Noch stärker wäre das, wenn es eine Engelmacherin wäre, wobei ich das auch so mitlese. Auch der gesellschaftliche Aspekt würde für mich durch eine Außenperspektive nicht ausgeblendet, im Gegenteil.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

aram
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Beitragvon aram » 20.07.2016, 18:41

► Text zeigen

hallo amanita,
abgesehen davon, dass der text auf mich aktuell bezuglos wirkt, finde ich ihn gut umgesetzt. die verknappung funktioniert hier, da es den klaren mehrdeutigen fokus am ende gibt, auf den sie hinausläuft. inhaltlich kann man diesen fokus, mit mehreren anklingenden bedeutungen des 'zu engen herzens', natürlich kontroversiell diskutieren - mitschwingende andeutungen in brisanten themenfeldern sind problematisch bzw. werden oft politisch eingesetzt.
hier finde ich die anklänge jedoch noch konkret genug, um in erster linie nachdenklichkeit auszulösen zur dargestellten verschränkung der beziehungen.


Klimperer hat geschrieben:Bis jetzt hat sich niemand zu diesem Gedicht geäußert?

Warum?

Weil es eine Aussage beinhaltet, die sehr kontrovers ist.
hallo klimperer, na gut, aber: nachdem der text noch keine zwölf stunden alt war, bereits so eine schlussfolgerung?

liebe grüße.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.07.2016, 18:53

Hallo aram,

nur scheinbar bezuglos. Im konservativer gewordenen Klima wird hier und da von Verschärfungen des Abtreibungsrechts gemunkelt, zumindest, dass man es sich so wünscht. Meine Gedanken dazu stehen oben: Ich schaue halt auch mal zurück.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.07.2016, 18:56

@ aram: und danke für die positive Reaktion. Was meinst Du: 1. oder 3. Person?

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Beitragvon aram » 20.07.2016, 19:17

amanita, falls du diese variante meinst:
Ylvi hat geschrieben:
Nur mal zum Anschauen:
► Text zeigen
- die sagt mir vergleichsweise weniger zu.


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