Aphorismus

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Niko

Beitragvon Niko » 23.08.2016, 23:30

Ich bin, was ich nicht bin.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 24.08.2016, 00:18

Ich vermute, auf der linken Seite des Kommas ist etwas anderes gemeint als rechts des Kommas. Und deshalb ist der Satz inhaltlich wohl nicht paradox. Ansonsten wäre er ja paradox und somit unwahr, nicht?

Ich meine das ernst. Der sprechende Kopf denkt hier beispielsweise folgendes:

"Ich halte mich für dick, was ich gemäß Industrie-Norm nicht bin."

Links des Kommas ist das eigene Urteil abgebildet, und rechts das der Industrie. Zwei verschiedene Urteile müssen nicht notwendig gleich sein. Also ist dieses Beispiel nicht paradox.

Niko

Beitragvon Niko » 01.09.2016, 08:20

entschuldige, pjotr, der aphorismus war schon wieder von meinem horizont verdrängt.

man ist vieles. besteht aus hoffnung, liebe, vorsätzen und was weiß ich noch.....
aber was ich meine ist, dass man oft auf das reduziert ist, was man sich zwar vorgenommen hatte zu sein, es aber nicht erreicht hat. und dieses bewusstsein, diese last quasi das sein bestimmt.

verstehst du meine wirre gedankenführung?

herzliche grüße - niko

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Beitragvon Pjotr » 01.09.2016, 08:38

Ja, verstehe ich. Verstand ich schon beim ersten Lesen.

Ich wollte meinen Kommentar nur ein bisschen auffüllen mit intellektuellen Nebengedanken :-)


Ahoy

P.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.09.2016, 08:39

Ich verstehe es sehr gut (womöglich, weil es auf mich besonders gut passt ...).
dass man oft auf das reduziert ist, was man sich zwar vorgenommen hatte zu sein,

... und mehr noch: Auch das, was ich auf keinen Fall sein möchte, gehört zu mir.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Beitragvon Pjotr » 01.09.2016, 08:47

Um mal kurz auf der intellektuellen Schiene zu bleiben:

Das Nichtsosein ist letztendlich auch ein bestimmtes Sosein. Wenn ich sage, ich bin nicht laut, klingt das zwar wie eine Negation, aber letztendlich ist das ein positives Leisesein.

Das ist so ähnlich wie mit dem halbvollen Wasserglas.

Also, ob X-Sein oder Nicht-X-Sein, das Resultat ist ein und dasselbe.

Niko

Beitragvon Niko » 01.09.2016, 10:03

Einspruch, eure intellektualität!
Wenn ich sage"ich bin nicht laut" kann das vieles bedeuten. A) ich bin das Gegenteil von laut, b) ein abstreiten der Tatsache, laut zu sein, wohlwissend, dass man doch so ganz leise auch nicht ist. C) verzweifelt.... Man bemüht sich, leise zu sein, erkennt aber, dass man es nicht schafft, kann es allerdings nicht zugeben. d) ein vehement Einspruch, weil man sich kontrolliert und weiß, dass man zumindest jetzt NICHT laut war. e) schuldhaft..resignierend.... Ich schaffe es nicht, laut zu sein. Herausgeschrien oder hervorgewimmert. F) zustimmend, fröhlich...Ich habs geschafft, nicht laut zu sein....

Ließe sich noch vorsetzen, wird mir aber zu viel :pfeifen:

Und das sosein bzw. nichtsosein muss ja kein Indiz dafür sein, dass alles gut ist. Manche sind, was sie sind und sind glücklich, andere hängen an dem, was sie verpasst haben. Letztlich aber kann man auch sagen, dass wir die Summe unserer Fehler sind. Und etwas zu sein, was man nicht ist, kann darunter fallen. Es ist ein Fehler (auch Fehler sind subjektiv), dem nachzuhängen, was unerreicht ist, oder die Fehler als Fehler zu sehen.
Fehler sind Chancen.

Intellektuell ausgewrungene grüße.......niko

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 01.09.2016, 10:44

"Jeder erfindet sich eine Geschichte, die er dann (oft unter den größten Aufopferungen) für sein Leben hält."

Max Frisch

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Beitragvon Pjotr » 01.09.2016, 10:59

Niko hat geschrieben:Einspruch, eure intellektualität!
Wenn ich sage"ich bin nicht laut" kann das vieles bedeuten. A) ich bin das Gegenteil von laut, b) ein abstreiten der Tatsache, laut zu sein, wohlwissend, dass man doch so ganz leise auch nicht ist. C) verzweifelt.... Man bemüht sich, leise zu sein, erkennt aber, dass man es nicht schafft, kann es allerdings nicht zugeben. d) ein vehement Einspruch, weil man sich kontrolliert und weiß, dass man zumindest jetzt NICHT laut war. e) schuldhaft..resignierend.... Ich schaffe es nicht, laut zu sein. Herausgeschrien oder hervorgewimmert. F) zustimmend, fröhlich...Ich habs geschafft, nicht laut zu sein....

Ließe sich noch vorsetzen, wird mir aber zu viel :pfeifen:

Ja, genau. Das sind alles nicht-negierte Eigenschaften. Das ist doch was. Das ist nicht nix.


Niko hat geschrieben:Und das sosein bzw. nichtsosein muss ja kein Indiz dafür sein, dass alles gut ist. Manche sind, was sie sind und sind glücklich, andere hängen an dem, was sie verpasst haben. Letztlich aber kann man auch sagen, dass wir die Summe unserer Fehler sind. Und etwas zu sein, was man nicht ist, kann darunter fallen. Es ist ein Fehler (auch Fehler sind subjektiv), dem nachzuhängen, was unerreicht ist, oder die Fehler als Fehler zu sehen.
Fehler sind Chancen.

Sicher. Die Begriffe positiv und negativ meine ich hier nicht wertend, sondern rein sprachlogisch im Sinn von "nicht" und "nicht nicht".


Ahoy

P.

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Beitragvon Zefira » 01.09.2016, 11:41

Ich wollte gerade auf Max' Text In Mathe war ich immer schlecht verweisen.
Kernpunkt ist, dass manche Leute offenbar stolz darauf sind, nicht rechnen zu können, während wohl niemand stolz verkünden wird, nicht lesen und schreiben zu können. Ich kenne Leute, die stolz darauf sind, keine Socken stopfen und keinen Knopf annähen zu können, aber in diesen Fällen ist wohl meistens gemeint: "dafür hatte ich immer Personal". Im Fall der Rechenfähigkeit kann das aber kaum gelten, oder gibt es dafür auch Personal?
Wie auch immer, manche Menschen empfinden es anscheinend als persönliches Plus, dass sie nicht rechnen können.


Übrigens las ich gestern im Wurfblättchen der Welthungerhilfe einen Artikel über Alphabetisierungskurse in Zentralafrika: Die 65jährige Bäuerin Rebecca hat endlich rechnen gelernt und ist natürlich stolz darauf, möchte ein Vorbild für Mädchen sein (ihr wurde der Schulbesuch als Kind verboten, weil das für Mädchen unnötig sei), aber vor allem ist sie froh, dass sie auf dem Markt nicht mehr übers Ohr gehauen wird.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 02.09.2016, 09:46

"Ich bin, was ich nicht bin."

Das ist ein Paradoxon.

Um diese auf den ersten Blick widersprüchliche Aussage zu verstehen, müssen wir unser Augenmerk auf das Wort "was" konzentrieren.

Es ist ein großer Unterschied, ob man "was" oder "wer" meint.

Man könnte nicht sagen, oder doch als ein extremes Paradoxon: Ich bin nicht, wer ich bin.

Was Niko meint, könnten die Meisten Menschen, auf jeden Fall sehr viele, von sich behaupten.

"Wer" drückt das Wesentliche, das Wesen eines Menschen, einer Person aus. Während "was" ist eher das, was man, im Laufe des Lebens, wird.

"Wer sind Sie?" ist eine andere Frage als "Was sind Sie?"

Die zweite Frage geht mehr in Richtung: "Was sind Sie von Beruf?"

Die Anderen sehen, was wir geworden sind, was wir beruflich oder hobbymäßig machen, nicht, oder sehr schwer, "wer" wir wirklich sind.

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Beitragvon Pjotr » 02.09.2016, 09:56

Meine Gedanken dazu:

"Wer" bezieht sich auf die Identität. Identität entwickelt sich mit der Zeit und ist unlöschbar.

"Was" bezieht sich auf den Augenblick. Der kann sich in der nächsten Sekunde ändern.

Niko

Beitragvon Niko » 02.09.2016, 12:54

Mit dem ersten Teil, pjotr, geb ich dir völlig recht. Beim zweiten Abschnitt habe ich meine Zweifel. Es ist - für mich - nicht auf den Augenblick bezogen.
Würde ich geschrieben haben "Ich bin der, der ich nicht bin" oder "ich bin das, was ich nicht bin" würde es klarer. Vielleicht....
Das würde es mehr auf den Punkt bringen. Was denkt ihr?

Vielen Dank an euch!

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Beitragvon Pjotr » 02.09.2016, 13:10

Augenblick oder Zeitabschnitt. Auf das Jahr genau oder die Sekunde genau - das ist egal. Es ist auf jeden Fall zeitweise. "Was bin ich? Müde. Was bin ich? Wach. Was bin ich? Hungrig. Was bin ich? Satt. Wer bin ich? Niko. Wer bin ich? Niko. Wer bin ich? Niko."

Klimperers Anregung finde ich gut. Die Unterscheidung zwischen Wer und Was ist eine weitere Möglichkeit zur Auflösung des Paradoxons. Der Text will ja nur scheinbar paradox sein. Also, wenn man das Wer und Was genauer ausspricht, dann bekommt man zudem eine originellere Satzform:

Ich bin der, was ich nicht bin.

Ich bin das, wer ich nicht bin.

Ich bin wer, was ich nicht bin.


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