Anna und ich

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 04.07.2009, 14:07

Anna und ich

Ist es denn Annas Schuld dass nichts so ist
wie es sein könnte?
Keine anliegenden Ohren
keine elfenbeinfarbene Haut
nur Mann und Kind
und ein Ballon der platzt
obwohl ihn niemand in die Luft geworfen hat
Als dürfte man nur Menschen lieben
die nach Kleingeld riechen

Mamatschi schenk mir ein Pferdchen
mit dem ich durch die Felder sprengen kann
Alraunen und Akazien
Zartbitterschokolade
für den Schlaf der Vögel
scharf wie gebrochene Versprechen

Die Bettler verkaufen Knoten
auf denen man Akkordeon spielen kann
zum Gelächter im Dorf
weil der silberne Löffel endlich laufen lernt

Wie schön sich Annas feine Stimme
in den Teppich webt
als wäre Schönheit eine Entschuldigung
als gäbe Liebe einem das Recht
auf mehr
auf mehr als schiefertafelig angekreidete Unschuldsbrüche
und Stolz wäre mehr als ein Fleck
auf der Landkarte eines nicht ganz so reinen Gewissens
wie weiße Bettwäsche
mit hässlichen Rändern
und Pantoffeln
die verloren in der Ecke stehen
und vergebens versuchen die Vorwürfe zu überhören

Als ich Anna traf
war ihr die Saumseligkeit längst aus den Augen gefallen
Sie war zwei Männern begegnet
Einer versuchte sich für sie umzubringen
Der andere ihr zu vergeben

Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch
er vertrocknet als Anna zum Bahnhof geht
und jemand sagt
man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen
wer sagt das denn
und was fangen wir an
mit so einem Satz
Anna und ich

carl
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Beitragvon carl » 11.07.2009, 12:31

Hallo Xanthippe!

Ich lese dein Gedicht von der Zeile her:
"man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen".

Dann gibt es zwei Lesarten für mich:
Anna & Ich sind ein (heimliches) Paar.
Anna & Ich sind dieselbe Person.

Ich interpretiere das Gedicht mal in der 2. Variante.
Dann sieht sich das lyr. Ich selbst zu bei seinen Erfahrungen als Anna!
"Als ich Anna traf".
Wir sind nicht nur eine(r). Nicht nur diese eine klein(geld)liche Existenz als Ehefrau und Mutter.
Eines Tages begegnet uns eine andere Seite von uns. Die bisher nicht sein durfte. Von der wir vielleicht nicht einmal wussten.
"Ist es denn Annas Schlud dass nichts so ist / wie es sein könnte?"
Oft treffen wir auch ganz konkret jemanden.
Den wir dann zu lieben glauben. Oder tatsächlich lieben.
"man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen".
Anna hat einen Liebhaber.

Wenn ich mir die "Saumseligkeit" in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung vorstelle: Säumen hat etwas von Bummeln, Zögern (aber nicht aus Angst, sondern im Genuss des Augenblicks), Verweilen.
Für mich ein Sommerbild. Am Wiesensaum, zeit- und ortsvergessen, kindlich selig bummeln.
Ein starkes Bild für Unbekümmertheit, Unschuld.
Die ist Anna aus den Augen gefallen.
Denn Anna hat (mindestens) zwei Männer.
Ihren Mann, der ihr vergeben will. Wie großzügig.
Und der andere, der Lover, der sie zu einer Entscheidung zwingen will.
Beide brauchen sie.
Aber brauchen sie wirklich Anna?
"Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch".

Dies Frage "wer bin ich", "was fangen wir an/ Anna & ich/ mit so einem Satz" sprich: in so einer Sitution?

Diese Frage ist eingebettet in eine Situation, die so gar nichts Romantisches und von Verliebtsein hat.
Der Ballon der Illusionen ist schon geplatzt, bevor er abgehoben hat.
Oder war es ein Kondom?
Über bleibt das Gefühl von Schäbigkeit. Schuldgefühle. Gebrochene Versprechen.
Anna geht von ihrem Stelldichein zum Bahnhof.
Über bleibt nur die Erinnerung an befleckte Laken und emotionale Leere.
Was fangen wir nun an mit dieser Lage, Anna & ich?

Ist Schönheit eine Entschuldigung?
Ist die Sehnsucht zu berühren ein ausreichender Grund?
Ist Liebe ein Anspruch auf mehr?

Diese Fragen stellt das Gedicht. Und beantwortet sie indirekt.

Bleibt nur die Stelle, die mich als Leser stört, wie ein Loch im Zahn:
"Wie schön sich Annas feine Stimme/ in den Teppich webt/ als wäre Schönheit eine Entschuldigung"

Das ist zuviel an Selbst-Beobachtung.
Das ist selbstvergessen ge- und erlebt.
Also ist Anna doch eine andere, die Geliebte des lyr. Ichs?

Und? Wo wäre jetzt der Unterschied?
"Was fangen wir an/ mit so einem Satz/ Anna & ich"?

LG,C.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.07.2009, 13:56

Liebe Xanthi,

Für mich handelt die Geschichte von zwei Freundinnen: Anna und ich, das LyrIch. Anna ist schön, viel schöner als das LI, geliebter.

Irgendwann verlieren sich die beiden, beim Wiedersehen ist Annas Schönheit verloren/entzaubert, sie selbst mM verletzt und desillusioniert, während das weniger schöne LI sein Leben besser im Griff hat.

Mir gefällt der Text, weil man viel eigenes hineininterpretieren und herauslesen kann.

Lieben Gruß
Elsa
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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 11.07.2009, 22:10

lieber carl, liebe elsa,
ich bin überwältigt. Nein, wirklich so eine detaillierte Interpretation, lieber Carl, das finde ich ganz wunderbar, die werde ich noch mehrmals lesen und mir meine ureigenen Gedanken dazu machen und dir dann gegebenenfalls noch ausführlicher antworten. Zunächst nur mein ganz ganz herzlicher Dank an euch beide, weil ihr mir die Frage, die ich ja gar nicht gestellt habe (laut und deutlich) beantwortet habt. Es ist nämlich eine sehr bestimmte Anna gemeint in diesem Gedicht und ich merke, nein, das merkt der Leser nicht, aber andererseits scheint es auch ohne dieses Wissen zu funktionieren. Das finde ich sehr spannend. Dafür meinen herzlichen Dank
Xanthi

Max

Beitragvon Max » 11.07.2009, 22:37

Liebe Xanthi,

ich habe mich ein wenig in Deinem reichhaltigen Gedicht verloren. Es imoniert durch seine vielen Vergleiche und Bilder, von denen mir

Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch


gut gefällt.

Manches Mal, aber steh ich auch ein wenig hilflos vor den Bildern, vielleicht am meisten bei

Zartbitterschokolade
für den Schlaf der Vögel
scharf wie gebrochene Versprechen


wo ich das "scharf" einfach nicht verstehe ... ich meine schon für das versprechen, aber nicht für die Schokolade und für keinen anderen Bezug.

Liebe Grüße
Max

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.07.2009, 21:20

Liebe Xanthippe,

wie freue ich mich, dass noch Kommentare zu diesem Text eingegangen sind, ich habe den Text diese Tage immer wieder gelesen und kam nur nicht zu einem Kommentar, der mehr sagt als dass mir dieser Text außerordentlich gut gefällt! (Ich habe jetzt allerdings keine Kommentare gelesen, zumal Carl den ersten verfasst hat und der meist alles sp präzise sagt, dass man meint, nichts mehr zu sagen zu haben .-) ).

Der Text ist für mich wie ein Lied...ich meine jetzt nicht vom tatsächlichen Klang..er spricht unheimlich das Kondensierte in mir an (wie ich es nenne), den so hochentworfenen Wunsch, nach etwas, was niemand ist, aber von dem man meint, es in seiner/ mit seiner Sehnsucht von allen am besten zu kennen, eben weil man es nicht ist. Ich finde, du hast das, was Frauen quält und zugleich die Möglichkeit verschafft, sich über das bloße Dasein zu erheben zu etwas absolut Gedachtem, schmerzvoll getroffen - ich will nicht sagen, dass Frauen darin aufgehen oder dass es nur dies gibt, aber meines Erachtens ist es ein Stück vom Kern und diesen Kern hast du bloß gelegt - dass man Nein sagen möchte und Ja...

Das alles macht die Sprache (wie überraschend .-) )...sie wirkt, als spräche oder erlebe das gerade jemand hinter der Zimmerwand in der nächsten Wohnung und zugleich ist es ein hochstilisierter Gesang...das ist eine Mischung! Die Bider finde ich so einfach wie sie oft in orientalischen Geschichten vorkommen und doch europäisch, und in ihrer Einfachheit sind sie so wirkstark..märchenhaft aber eben nicht in einem Märchen gesprochen; und so fühlt es sich ja ein wenig an, als sei man verflucht in einer Welt, in der es keine Flüche gibt...

"Saumseligkeit" - das perfekte Wort...für alles, um das es in dem Text kreist...mit dem perfekten Klang...dass man meint, darum baut sich der ganze Text und seine Wahrheit auf.
Und dann die letzte Strophe: Man fürchtet um sie, es kann noch alles kaputt gehen, aber du hast sie ganz phantastisch durchkomponiert mit dem allgemeineren und sogar an vieles Literarische referierende Holunderbusch zuerst und dann dieser Wende nochmals zu Anna und dem Ich am Bahnhof.

Und ich finde schön, wie offen bleibt, ob Anna und das Ich eine Person sind oder tatsächlich zwei (auch wenn es wohl zwei sind wegen des Bahnhofs = Wiedersehen), aber trotzdem bleibt da ein offener Bereich, das schafft einen sehr gelungenen Zwischenzustand des Textes:er darf behaupten, sowohl ein privates Verhältnis als auch eine "anthropolische" Allgemeinaussage über das Weibliche zu sein (dies übrigens auch geschickt unterstützt durch das Präsens). Und zugleich wird darin ausgedrückt wie das ganze Wünschen auch davon abhängt, eine Frau unter anderen Frauen zu sein und doch allein damit und sich zu sein...

Elsa, würdest du, mit Xanthippes Einverständnis, diesen Text lesen? Ich glaube, deine Stimme würde das ganz großartig interpretieren!

Was mir beim ersten Lesen nicht ganz gefallen hat, waren die anliegenden Ohren und die Elfenbeinhaut (beides zusammen. die Mischung, die Ohren allein mit etwas ähnlichem Konkreten fände ich gut, aber mit der typischen Elfenbeinhaut seltsam) - die Bilder sind zwar gesichert, dass heißt, ich würde sie nicht als Missklang bezeichnen, aber ich würde noch einmal nachdenken, ob dir da nicht noch etwas feineres einfällt.

Ach, ich hätte Lust gerade darüber philosophisch zu werden, aber leider fehlt mir die Zeit...och hoffe, ich konnte trotzdem ein wenig andeuten, wie ich den Text verstanden habe und wie sehr er mir gefallen hat!

Tolle Eingebung, das alles in einem Verhältnis zwischen Frau und Frau und nicht Frau und Mann auszudrücken - sehr klug!

Mehr davon!

liebe Grüße,
Lisa
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Elsa
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Beitragvon Elsa » 13.07.2009, 09:05

Elsa, würdest du, mit Xanthippes Einverständnis, diesen Text lesen? Ich glaube, deine Stimme würde das ganz großartig interpretieren!


Es wäre mir eine Ehre und Freude! Aber erst nach dem 8.August, wenn ich wieder daheim bei meiner Technik bin :-)

Liebe Grüße
Elsa
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 13.07.2009, 11:29

Liebe Xanthippe,

diesen Text mag ich sehr wegen seiner Skizzenhaftigkeit und wegen der surrealen Bildern (besonders die Strophe mit dem Bettler!). Ich dachte eigentlich an einen Mutter - Tochter - Konflikt. Ehe und Kinder sind nicht so gelungen, wie die Mutter es wünschte. Mütter mäkeln ja gern am Leben der Töchter herum und treffen dabei manch wunde Punkte. Aber vielleicht hat carl auch Recht mit dem, was er heraus liest. Am Ende zählt ja eigentlich nicht mehr, was die Autorin zu dem Text veranlasst hat, sondern was der Leser damit machen kann.

Ich könnte mir den Text zart illustriert vorstellen, er fordert geradezu dazu heraus, sich Bilder auszudenken.

Für mich ist es lyrische Prosa. Ich habe ihn mir mal ohne Umbrüche aufgeschrieben, dafür mit Zeichensetzung und finde es angenehmer zu lesen (mit der Einschränkung, dass auf dem Bildschirm eigentlich die Zeilen bei Prosa IMMER zu lang sind). Du benutzt ja viele Relativsätze, das sind für mich dann größere semantische Bögen, zu denen meiner Meinung nach der Fließtext besser passt:





Ist es denn Annas Schuld dass nichts so ist wie es sein könnte? Keine anliegenden Ohren keine elfenbeinfarbene Haut nur Mann und Kind und ein Ballon der platzt obwohl ihn niemand in die Luft geworfen hat. Als dürfte man nur Menschen lieben, die nach Kleingeld riechen

Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen, mit dem ich durch die Felder sprengen kann! Alraunen und Akazien, Zartbitterschokolade für den Schlaf der Vögel, scharf wie gebrochene Versprechen.

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Als ich Anna traf, war ihr die Saumseligkeit längst aus den Augen gefallen. Sie war zwei Männern begegnet. Einer versuchte sich für sie umzubringen. Der andere ihr zu vergeben.

Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch, er vertrocknet, als Anna zum Bahnhof geht und jemand sagt: Man braucht einen anderen, um sich selbst zu erkennen. Wer sagt das denn und was fangen wir an mit so einem Satz, Anna und ich?


Viele Grüße
fenestra

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.07.2009, 11:49

Liebe Elsa,

oh, ja, aber nicht vergessen! .-)


liebe fenestra,

Xanthippe schreibt oft in diesem Erzählton Lyrik - ich weiß zwar, was du meinst, aber es gibt Texte, die gewinnen gerade ihren Reiz daraus, dass sie an der Schwelle zur Prosa doch auf der Lyrikseite bleiben. Und das ist für mich hier der Fall.

liebe Grüße,
Lisa
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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 19.07.2009, 15:20

ich danke euch allen sehr und ganz herzlich für eure rückmeldungen. ich habe wirklich nicht gewusst, ob dieser text funktioniert und das war der grund, warum ich ihn eingestellt habe.
ich weiß gar nicht, ob das nicht vielleicht ganz überflüssig ist, aber ich verrate euch jetzt mal, dass es in diesem gedicht ursprünglich um anna karenina ging, also die anna war diese. und ich habe eben so gar nicht gewusst, ob es funktioniert, ohne den leser ganz ausdrücklich darauf hinzuweisen, so dass ich eine zeitlang anna karenina und ich als überschrift hatte, aber das ging irgendwie gar nicht. und jetzt bin ich sehr sehr glücklich, dass sich so viele lesearten ergeben, dass ihr mir so viele lesearten zurückgemeldet habt, in denen es gar keine rolle spielt wer anna ist, bzw. in denen gerade das, dass nicht klar ist, wer anna ist, eine rolle spielt...
noch einmal ganz herzlichen dank. und übrigens habe ich das gedicht schon einmal selbst eingelesen und habe auch noch die datei, vielleicht sollte ich sie mal schicken?
danke sagt
xanthi

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.07.2009, 19:59

Hallo Elke,
und übrigens habe ich das gedicht schon einmal selbst eingelesen und habe auch noch die datei, vielleicht sollte ich sie mal schicken?

ja, ich würde das sehr gerne von dir hören. ,-)

Saludos
Mucki

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Beitragvon Lisa » 19.07.2009, 21:16

Unbedingt Xanthippe!

ich kenne die Anna ja gar nicht und bekomme gleich Lust sie zu lesen, werde es aber wohl gerade nicht schaffen :-(

Ich fände es interessant, wenn jemand, der diese Figur kennt, noch etwas dazu schreiben könnte!

liebe Grüße,
LIsa
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Elsa
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Beitragvon Elsa » 20.07.2009, 12:04

Liebe Elke,

Das ist ja interessant! Um die Karenina geht es, die sich am Ende, aufgerieben von der Liebe vor den Zug stürzt? Das würde jetzt eine ganz andere Interpretation verlangen, keine Frage.

Aber eben eine "flachere", was mich betrifft, denn damit wäre Anna nur mehr Fiktion und das Ich die reflektierende Leserin, hm ...

Daher belasse ich es bei meiner Sichtweise.

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 24.02.2010, 10:46

wenn ein text die bezeichnung erzählgedicht verdient, dann dieser, Xanthippe.


der erfüllt das, was ich mir unter diesem begriff vorstelle und lässt mich satt und bereichert zurück.

letztlich ist egal, ob der leser weiß, dass anna karenina gemeint war. der text macht in seiner art und weise ohnehin deutlich - auf der gefühlsebene, die er in den zeilen mittransportiert - , dass eine bestimmte anna gemeint ist, deren "schicksal" (eigentlich ein doofes wort, das ich nicht mag, aber ich find grad kein passenderes) das LIch sich annimmt. es sich zu herzen nimmt und von dort kommend im text beleuchtet.

bilder wie

Mamatschi schenk mir ein Pferdchen
mit dem ich durch die Felder sprengen kann
Alraunen und Akazien
Zartbitterschokolade
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scharf wie gebrochene Versprechen

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weben den situationshintergrund wie feinen, reichen gobelin, kaum überschaubar, in dem anna sich zurechtzufinden hat. mit all den widersprüchen oder unerwarteten "haken", wie eben zum beispiel scharfer zartbitterschokolade - ein versprechen von etwas, das sich in sein gegenteil gekehrt hat. jedenfalls lese ich es so.

was fröhlich wirkt, ist oft nur schein. vieles, was das kind anna als widerspruch empfindet, wird von den erwachsenen nur belacht. nie erklärt. eine situation, die man - wenn man sich zurückerinnert an eigene kindertage - nur zu gut kennt und wie ratlos und hilflos man sich gefühlt hat. und ohne anhaltspunkt. aufklärung gibt ja keiner.

und so lese ich auch die letzte strophe
Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch
er vertrocknet als Anna zum Bahnhof geht
und jemand sagt
man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen
wer sagt das denn
als diesen unerfüllten wunsch nach einer erklärung, wie all das vermeintlich und auch von anderen so gepriesene gute und schöne, das anna doch umgab, nicht wieder gutes und schönes hervorgebracht hat. weil die anderen um sie nicht damit umzugehen verstanden
und auch keiner ihr je das rüstzeug oder möglichkeiten zum stellen der richtigen fragen gegeben hatte.

die ursache für das verzweifeln ist hier wunderbar detailreich beleuchtet, erzählt eben. ohne jemals zu offensichtlich schon frühzeitig in eine richtung zu drängen. das bild ergibt sich erst im ganzen. die erzählung hält also den spannungsbogen bis zum schluss - und gibt dort auch aufschluss, ohne diesen dadurch zu zerstören. da hallt gewaltig viel nach. auch noch nach dem letzten wort.


feinste erzählkunst und dramatik. leise entfaltet und wunderschön eindringlich.

sehr sehr gern gelesen und hoffentlich so kommentiert, dass ich dem halbwegs gerecht werde.
danke.


gruß,

keinsilbig


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