WORT DER WOCHE ~ Papier ~

Benutzeravatar
birke
Beiträge: 5243
Registriert: 19.05.2012
Geschlecht:

Beitragvon birke » 22.01.2016, 16:31

WORT DER WOCHE

- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -


~ Papier ~
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 23.01.2016, 17:09

Die geheime Chronik

Aus allen Zeiten wurde sie geschrieben. Auf zwei Palmblättern wird sie fortgesetzt. Jedes Leben, aus jeder Weltenzeit, wird gewissenhaft Zeile für Zeile gesetzt. Und sei das Jetzige ein kurzes, gewiss ist: der Beginn des schon begonnenen, nächsten Lebens findet dort bereits seine Niederschrift. Niemand ist ein leeres Blatt Papier.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5720
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 25.01.2016, 00:50

„Die Schande ist ein Schlaf gleich einem anderen, ein gar tiefer Schlaf, eine Trunkenheit ohne Träume …"

Ich las Georges Bernanos, ein, wie ich glaube, katholischer Schriftsteller der Vorkriegszeit. (Es ist spannend, wie er in 1936 in seltsamer Hellsichtigkeit die Wirkung der Atombombe beschreibt; wie kleine Kinder ihre Lungen in den Schoß der Mütter speien werden und wie der Mensch, der den Tod gebracht hat, keine andere Sorge haben wird als die, ob er pünktlich zum Essen kommt. Bernanos schreibt auch, dass der Täter "nur eine andere Hose" anziehen müsse, und schon dürfe er "wieder Hostien austeilen". Trotzdem halte ich ihn für einen katholischen Schriftsteller.)

Ich las: „Die Schande ist ein Schaf gleich einem anderen“ und sah sofort das Schaf meiner Schande vor mir, ein dämlich aussehendes Schaf mit X-Beinen, ausgeprägter Ramsnase und einem langen, lockigen Fell, das vor Dreck starrte. Es stand inmitten einer Herde gleichartiger Schafe, jedes Schaf die Schande eines anderen Menschen, und Gott saß auf seinem Thron und schied die Schafe von den Böcken, wie es geschrieben steht, ohne zu merken, dass die Schafe schlimmer waren als de Böcke. Die Böcke standen auf den Hinterbeinen und schrieen ein schrilles „Meh“, die Schafe standen reglos in der Herde und blökten ein gleichmütiges „Bah“. Das Schaf meiner Schande konnte ich unter der ungeheuren Masse gleichartiger zotteliger Rücken nicht mehr ausmachen. Irgendwo mochte es dazwischen stehen und blöken, es könne nichts dafür, es habe die gleichen Rechte wie jedes andere Schaf. Es habe ein Recht, ein Recht, ein Recht.

Papier ist geduldig. Ich las ein paar Zeilen wieder zurück; ja, es ging um Schlaf, nicht um ein Schaf, und ich las weiter von einem Schmerz, der darin besteht, dass man nicht leidet. „Selbst der Schmerz versagt sich mir, ich fühle mich entsetzlich wohl.“

(Georges Bernanos, Tagebuch eines Landpfarrers, 1936)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 31.01.2016, 20:42

Papa schrieb sehr schnell etwas auf einen Block. Hektisch schaute er um sich. Verdächtig. Er sah nicht, dass ich ihn beobachtete. Gutes Versteck. Papa riss den Zettel ab und lief aus dem Haus. Sofort rannte ich zum Block und schraffierte neugierig mit Bleistift den Abdruck. Ich war die einzige, die seine krakelige Handschrift lesen konnte. Mist. Es war auf Englisch. Nur das Wort 'sorry' verstand ich.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste