Na und

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Kurt
Beiträge: 1270
Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 16.10.2014, 06:55

Jetzt ist es passiert. In meiner Nachbarschaft. Alle sind aufgebracht, würden den Kerl am liebsten lynchen. Seine neunjährige Tochter soll er sexuell missbraucht haben, auf grauenvolle Weise. In der Kneipe erzählen sie die blutigen Details. Offensichtlich langweilt das nur einen – mich, während alle anderen es nicht fassen können. Der angetrunkene und verzweifelte Bruder des Täters droht ihn umzubringen, spricht von Familienschande und dem Riesenkerl strömen Tränen aus den Augen, als er sein Mitleid bekundet, mit seiner kleinen Nichte.

Mich lässt es natürlich ebenfalls nicht unberührt, aber ich finde es nicht unbegreiflich, mich langweilt ‘s, spreche von alten Mäuseböcken, von denen ich schon lange weiß, dass es nicht ungewöhnlich ist, die eigenen, noch nicht geschlechtsreifen Töchter, zu besteigen. Nun will mich die aufgebrachte Meute verprügeln. Kann ich verstehen.

Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Der Bürgersteig spielt mir einen Streich, schwankt stark, kann mich aber nicht überraschen. Plötzlich spüre ich irgendetwas Hartes an meinem Rücken. Jemand will mir mein Geld abknöpfen. Ich drehe mich mit einem leichten Schlenker um, zeige mich von seinem auf mich gerichteten Schießeisen unbeeindruckt, schlage ihm mit meiner starken Rechten die Nase ein. Er stolpert rückwärts, fällt zu Boden, glotzt mich ungläubig an.

Ich zücke mein Portemonnaie, schüttele den gesamten Inhalt aus, über dem wie gelähmt auf dem Asphalt liegenden Ganoven. Die fünfzig Euro hat er sich redlich verdient, denn so wie bei dem habe ich mich noch nirgends gelangweilt.
Zuletzt geändert von Kurt am 04.11.2014, 16:11, insgesamt 4-mal geändert.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Kurt
Beiträge: 1270
Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 17.10.2014, 13:22

Hallo Leute,

ich wollte mit diesem Knäuel von Informationen zeigen, dass mir der ganze Hintergrund nicht fremd ist.

In der knappen Satire kann ich da natürlich nicht alles berücksichtigen. Ich wollte einen Prot. darstellen, der nicht auf die übliche Weise auf so ein Verbrechen reagiert, wie alle anderen (in der Kneipe), und dem dadurch von den „Scheinheiligen“ Prügel angedroht wird. Die Scheinheiligkeit zu entlarven oder auf die Schippe zu nehmen bzw. auch zu Moralisieren, ist in so kurzer Form wohl kaum zu bewältigen, war auch nie mein Anliegen. Ich denke mal, die meisten Leser würde es ohnehin langweilen.

Ich fand es geeignet, den Prot. als jemanden zu zeigen, dem nichts mehr erschüttern kann, und der mit Langeweile reagiert, während die (sensationshungrige) Meute aufgebracht ist.

Die „verrückte“ Pointe stand als erstes fest bei der Planung.
Den Schlusssatz hatte ich geändert, weil ich befürchtete, die Leser könnten den Prot. als abgestumpften/gleichgültigen Typen in Bezug auf sein ganzes Leben wahrnehmen.

Aber ich werde den letzten Satz in der ursprünglichen Fassung belassen. Ich bin auch inzwischen zu der Ansicht gelangt, wenn ein Leser Langeweile (hier in Zusammenhang mit Verbrechen) mit allgemeiner Abgestumpftheit/Gleichgültigkeit gleichsetzt, dann kann ich ihm auch nicht helfen. Außerdem würde ein abgestumpfter Prot. sich wohl schlecht als Ich-Erzähler eignen, widerspräche sich irgendwie.

Danke euch für die Stellungnahmen.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Kurt
Beiträge: 1270
Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 17.10.2014, 16:48

Witzfigur würde mir auch gefallen. Der Prot. verhält sich ja ein bisserl wie Eulenspiegel. „Mich lässt es natürlich ebenfalls nicht unberührt, aber ich finde es nicht unbegreiflich, mich langweilt ‘s, spreche von alten Mäuseböcken, von denen ich schon lange weiß, dass es nicht ungewöhnlich ist, die eigenen, noch nicht geschlechtsreifen Töchter, zu besteigen. Nun will mich die aufgebrachte Meute verprügeln. Kann ich verstehen.“

Der Unterschied zur tragischen Figur liegt jedoch darin, dass er es bewusst inszeniert bzw. herausfordert. (Kann ich verstehen.)
Und welch wunderbare Wahrheit wird damit freigesetzt. Wer dies nicht erkennt, sollte aufhören Texte anderer Leute zu interpretieren.

LG Kurt :rolleyes:
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 18.10.2014, 00:28

botschaft verstanden! versprochen, ich werde keine wunderbaren wahrheiten mehr falsch verstehen! ich ziehe mich ganz aus dem kommentiergeschäft raus.

Kurt
Beiträge: 1270
Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 18.10.2014, 01:21

Na, na, geliebte nera, du wirst dich doch von einem Ahnungslosen wie mich nicht vom Kommentieren abbringen lassen. Ohjeh. Nochmal ein Versuch zum Text:

Ja, irgendwie scheint mir die Geschichte einen gewissen Reiz auszuüben. Ich würde es darauf zurückführen, weil hier ein Eulenspiegel bzw. Schelm sein Unwesen treibt, wenn alle anderen fassungslos erscheinen, hat er ganz einfache Antworten darauf:
spreche von alten Mäuseböcken, von denen ich schon lange weiß, dass es nicht ungewöhnlich ist, die eigenen, noch nicht geschlechtsreifen Töchter, zu besteigen.

Und welch wunderbare Wahrheit setzt er damit frei, wenn ihn doch die aufgebrachte Meute verprügeln will? Nun, Mäuse handeln ohne Moral. Tragischerweise trifft es aber genau zu auf den Kinderschänder.

Während alle anderen sich schwer tun bei den Vorfällen, bewältigt der Prot. sie auf einfältige, aber verblüffende Weise, ja ist gelangweilt über ihm nicht ungewöhnlich erscheinende Taten.

Zeichnet das einen Schelm aus? Witzig ist es doch. Nur dieser Schelm hier ist keine tragische Figur, sondern zelebriert bewusst eine schelmische Antwort auf das widrige Dasein.

So würde ich es interpretieren. Allerdings halte ich meinen Versuch für unzulänglich, unbefriedigend; bin halt kein Fachmann. Alkoholiker finde ich schlecht, Schelm treffender. Und wie gesagt, wer hier Langweilen mit Abgestumpftheit gleichsetzt, dem kann ich nicht helfen.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2216
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 18.10.2014, 02:49

ach geliebtes kurtchen. red nich so ein ralphmüll. ein text ist ein text ein text. ich mochte diesen text, bis du ihn (für mich) totinterpretiert hast mit deinem heiligen-narr-gerede. "so würde ich interpretieren" was soll das denn heißen? das ist doch dein text. sag einfach: so habe ich das gemeint! und wenn das nicht so bei mir angekommen ist, ist es vielleicht mein problem. und du hast völlig recht: das thema langeweile ist spannend, auch in bezug auf abgestumpfheit. und verachtung ist ganz sicher genauso ein aspekt in diesem reigen der banalität des "bösen".

Kurt
Beiträge: 1270
Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 18.10.2014, 07:56

Och, du mochtest den Text. Hätte ich das gewusst, hätte ich ihn gar nicht so dolle aufzublasen brauchen. Nun isser gepatzt, peng – Klappe die letzte: das Kurtchen läuft heulend davon, ins hoffentlich schönwettermachende Wochenende.

LG
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Nifl
Beiträge: 3881
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 21.10.2014, 19:07

Flora hat geschrieben:
Seine zehnjährige Tochter soll er sexuell missbraucht haben, auf grauenvolle Weise.
Klimperer hat geschrieben:Auf die menschliche Sexualität bezogen, sehe ich bei Menschen, deren unübliche Praktiken bekannt werden, eher Opfer als Monster. In erster Linie Opfer der sexuellen Unterdrückung.
.

Dass du dich nicht bemüßigt fühlst das klarzustellen, Klimperer, finde ich extrem.

Zu deinem Text, Kurt, wurde ja schon viel geschrieben, ich empfinde das Wort "Langweile" dennoch nicht als hundertprozentig passend. Hat nicht Langweile immer auch eine lethargische Komponente? Die sehe ich bei deinem Protag nicht, denn er handelt ja, ist aktiv, wach, sogar aggressiv, das passt für mich nicht.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 15 Gäste