Weihnachtsangst

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 23.12.2010, 21:28

Weihnachtsangst

Weihnachten habe ich immer mehr Angst als sonst. Als Kind habe ich Weihnachten genossen, die Geborgenheit, die Freude war immens. Aber heranwachsend entdeckte ich, dass es eine Inszenierung meiner Mutter war. Ihr Vater hatte getrunken, ihre Mutter wurde wegen Hysterie mehrfach in sog. „Nervenheilanstalten“ eingeliefert, außerdem frömmelte sie und schlug das Kind, das meine Mutter damals war, wenn sie nicht mitfrömmelte. Das war alles so grässlich, dass meine Mutter sich schwor: „Wenn ich einmal Kinder habe, sollen sie es besser haben.“

Sie inszenierte die Geborgenheit mit Geheimnis, Glockenklingeln, Weihnachtsbaum, Lichterglanz, bunten Tellern, Selbstgebackenem und Geschenken. Aber mir ist heute, als hätte ich die Ungeborgenheit, die hinter der Inszenierung lauerte, schon als Kind geahnt. Nach Weihnachten tat sich eine furchtbare Leere für mich auf. Mir war dann, als sei das Schöne nur ein einziger Trug gewesen, kein Betrug, niemandem vorwerfbar, sondern ein Trug. Die Geschenke blieben in ihrer banalen Konkretheit hinter der Vorfreude auf sie weit zurück, der Weihnachtsbaum mit den abgebrannten Kerzenstümpfchen sah kläglich aus und begann zu nadeln, eine Alltäglichkeit von niederschmetternder Gewalt machte sich breit.

„Warum feiern wir eigentlich Weihnachten – wo wir doch nicht in der Kirche sind?“ Diese Frage richtete ich von Jahr zu Jahr bohrender an meine Eltern, und als dann das Bekenntnis kam, jetzt würden die Tage doch wieder länger, es sei eine Art von Sonnenwendfeier, da nagelte ich sie auf nationalsozialistisches Gedankengut fest und schämte mich meines Elternhauses. Dann ließ ich mich taufen und versuchte, dem Fest durch Verlesen der Weihnachtsgeschichte einen Inhalt zu geben. Mein armer Vater! Als Atheist erlitt er Höllenqualen, seinen Sohn bei dieser Verirrung aus Toleranzgründen machen lassen zu müssen!

Die Toleranz meines Vaters tat ihre Wirkung. Ich begann die Weihnachtsgeschichte aus eigener Überzeugung als ein bezauberndes, aber verlogenes Märchen abzulehnen. Wo war der „Friede auf Erden“ geblieben, den es versprach? War das nicht das von Heinrich Heine so wortgewaltig verhöhnte „Eiapopeia vom Himmel“? Es dauerte nicht mehr lange, da stellte ich mit meiner lieben Frau drei Kinder in die Welt. Und was taten wir? Wir inszenierten ihnen die Weihnachtsgeborgenheitswelt, wie sie uns inszeniert worden war. Die Augen strahlten, die Kinder waren glücklich – ohne Engelshaar und Krippenmärchen, aber auch ohne Sonnenwendfeier – einfach als Lichtfest in lichtarmer Zeit, und auch dies ohne Mystik, selbst dann noch, als uns die Waldörfler zum Kampf des Lichts gegen die Finsternis zu bekehren versuchten. Dieses Fest hat eine Macht jenseits von Religion und Ideologie. Ich liebe es – aber auch heute noch ist das Eis der Geborgenheit dünn, unter dem die Abgründe ihres Gegenteils sich auftun.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 23.12.2010, 22:00

Am Ende ist immerhin eine dünne Geborgenheits-Eisschicht gewachsen, die die anfängliche Angst weihnachtlich einhüllt - ischa schomma was.
Quoth, wie kann man zum Kampf des Lichts gegen die Finsternis bekehrt werden? Machste mir das mal vor?

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 23.12.2010, 22:22

Nabnd Quoth,

muss wieder sagen: Dein Schreiben gefällt mir. Warum? Zum einen, weil es präzise ist, -- punktgenau, schwafellos, anschaulich. Zum anderen, weil die Satzbauten abwechslungsreich sind. Mir scheint's, als würden sämtliche Gestaltungsmöglichkeiten der deutschen Grammatik ausgeschöpft; auf eine unterhaltsame, inhaltsdienliche Weise. Obacht, wenn ich positiv von "abwechslungsreichen Satzbauten" spreche, meine ich keineswegs lange Schachtelsätze oder sowas, sondern -- ein Beispiel -- kompakte elegante Ausdrücke wie etwa "Aber heranwachsend entdeckte ich, ...". Vier Wörter, wofür Unerfahrene wie ich zwölf bräuchten.

Zum Inhalt: Ja.


Ahoi

Pjotr

Klara
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Beitragvon Klara » 25.12.2010, 11:21

Oh Quoth, das ist ein wunderschöner Text!
voller Demut, Menschlichkeit, Genauigkeit - und vor allem NICHTVERLOGENHEIT.

Manches kommt mir bekannt vor, sowohl das Kleine (das Erleben als Kind) wie das Große (das Wirken als Eltern) wie das Suchen wie das Nichtfinden, wie das Trotzdemmachen wie der Zweifel an und die Sehnsucht nach Religiosität.

Aber Geborgenheit findet sich in der kleinsten Hütte, mit oder ohne Gott, nur ein Mensch muss da sein, am besten mindestens einer, sicherer leuchtet sie ohne Lametta - Sicherheit hingegen findet man wohl an Weihnachten noch weniger als sonst: nirgendwo.

(Ich kenne eine Mutter, die fühlt sich nur sicher/geborgen, wenn sie (sich) bedroht (fühlt), Grenzen übertritt oder dazu manipuliert, die ihren zu übertreten. Die Kinder dieser Mutter fühlen sich deshalb, fürchte ich, lebenslang bedroht und ständig aufgefordert, auf scheinbar übertriebene Weise ihre eigenen Grenzen zu ziehen, sich, nicht nur von der Mutter, AB zu grenzen. Dennoch gilt es, mit dieser Mutter Weihnachten zu feiern, als wäre so gut wie alles gut, und immer gut gewesen. Schon um der neuen Kinder willen.)

Weihnachten ist, glaub ich, für alle immer schwierig: Die Erwartung der Kinder, die Erwartung an die Kinder, die kindischen, mehr oder weniger kränkelnden Großeltern, die notwendige Enttäuschung, die verlorene Unschuld, die vergebliche Sehnsucht nach Heile in der Heiligkeit. Die Klarheit deines Textes hat da etwas aufrichtig Heilsames.

Danke für diesen ehrlichen Text.

Und alles Gute für die Weihnacht! Es ist eine heilige Zeit, eine unheilige Zeit, ob man will oder nicht - und man kann und muss jedes Jahr etwas draus machen, ob man will oder nicht. Mit Mühe, Geduld und Spucke und ein bisschen Wärme. (Man vergebe mir mein unter "Kritisches/Satirisches" womöglich deplatziertes Pathos...)

herzlich
klara

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.12.2010, 14:23

Lieber Quoth,

da stimme ich mit ein, Weihnachten ist eine der Ereignisse, an denen man wie unter eine Lupe ahnen kann, was für Mechanismen die ganze Zeit zwischen Menschen uns besonders Eltern und Kindern und wieder deren Kindern herrschen. Denn eigentlich ist es ja nicht das Weihnachtsfest, was die Weihnachtsangst hervorruft, sondern der Rest der zeit bzw. dieses abgespaltenen "Wirklichkeiten".

Ich finde auch, dass dein Text sehr nichtverlogen ankommt und auf weiche Weise präzise ist.
Einzig beim letzten Absatz ist mir noch etwas die "positive" Wendung (ist ja eigentlich keine, aber eine Art offene, schmerzzugewandte Haltung) mit dem Wechsel zur eigenen Familie vermischt, so als ob man spürt, dass die Erzählinstanz da nicht ganz "auseinander" oder sagen wir besser zusammenhalten halten kann, was vorher so sichtbar gehalten wird. Es ist natürlich auch klar, dass dies an dieser Stelle geschieht, dass hier der "blinde Fleck" am größten ist (wenn er auch sehr klein ist), und das Dasein an sich ist auch verzeihlich, menschlich, aber irgendwas an der Art und Weise stört mich noch..ich kann mal wieder nicht sagen, was genau.

Trotzdem, feiner Text!
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 25.12.2010, 20:08

Quoth hat geschrieben:Ich liebe es – aber auch heute noch ist das Eis der Geborgenheit dünn, unter dem die Abgründe ihres Gegenteils sich auftun.


dieser Text ist mehrfach als besonders ehrlich, unverlogen gewürdigt worden. ich frage mich, was das bedeutet, und ich frage mich auch, woraus dieses Urteil sich speist. Denn ich lese diesen Satz, den ich oben zitiert habe, und ich lese die Angst am Anfang, und ich lese dazwischen das was das Eis hält, was die Angst nährt. Ich meine Eis der Geborgenheit? Das ist aufschlussreich, ja, vielleicht sogar ehrlich, ehrlich darin, dass hier jemand davon erzählt, dass er nicht vertrauen kann, dass die Angst so groß und stark ist, dass selbst Geborgenheit wie etwas erscheint, dass nicht nur dünn und brüchig sondern auch noch extrem kalt ist.
ich finde das ist ein sehr trauriger Text, um so trauriger, weil er vermutlich wirklich ehrlich ist.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 25.12.2010, 21:49

Hallo Xanthippe,
es war eher dieses Eis, das mir durch den Kopf ging.

Hallo Lisa,
"Die abgespaltenen Wirklichkeiten", das trifft's für meine Begriffe sehr gut.

Liebe Klara,
vielen Dank für das "wunderschön". Ja, als Kind ist man bereit, sie zu empfangen, die Geborgenheit, als Erwachsener muss man sie geben, geben können, und der Übergang zwischen beidem, der Rollenwechsel ist schwer.

Hallo Pjotr,
warum sagst Du, Du seist unerfahren und weitschweifig? Fishing for compliments? Ich finde Deine Beiträge immer präzis und in Ordnung.

Hallo Amanita,
mag sein, dass sie nicht alle so sind; aber uns wollten sie irgend so eine dualistisch/gnostische Weltsicht warm machen.

Mit Dank für Lektüre und Kommentierung
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 25.12.2010, 22:07

Quoth, ich meinte eher die Formulierung: Ich kann doch nicht dazu bekehrt werden, dass sich Licht und Dunkel bekämpfen?

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 26.12.2010, 00:43

Quoth, Fischen ist nicht meine Absicht, igitt, wenn das so ankommt, ist mir das peinlich. Und, siehst Du, wieder wird mein Geschriebenes nicht ganz verstanden. Also. -- (Und nochmal: Bitte nicht anbeißen, ich bin kein Fischer, sondern ein glücklicher Schüler.)

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Beitragvon Pjotr » 26.12.2010, 00:53

[Quoth] ... als uns die Waldörfler zum Kampf des Lichts gegen die Finsternis zu bekehren versuchten. [/Quoth]

Statt zu bekehren vielleicht aufzurufen?

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Beitragvon Amanita » 26.12.2010, 06:16

Ich wäre eher für "predigen" oder so ...

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Beitragvon leonie » 26.12.2010, 14:34

Lieber Quoth,

ich wollte mich einreihen in den Reigen derer, die sich von dieser Geschichte angesprochen und berührt fühlen und dadurch ins Nachdenken gekommen sind. Über den Rollenwechsel zum Beispiel, den ich auch inzwischen selber volllziehen musste.

Danke dafür

Liebe Grüße

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 26.12.2010, 16:40

Hallo Quoth,

meiner Meinung nach stellt sich der Text selbst das Bein, auf dem er zu stehen gedachte. Zwei Begriffe stechen in ihm hervor. Zum einen die titelgebende Angst (die allerdings danach nicht mehr erwähnt wird), und dann noch die Geborgenheit. Sie beziehen sich offensichtlich insofern aufeinander, als dass die Geborgenheit, die beim Weihnachtsfest empfunden wird, sich als dünnes Eis erwiesen könnte, dass nur allzuleicht einbricht.
Die hier beschriebene Geborgenheit ist aber nur eine Inszenierung, die vom Erzähler in der Kindheit zunächst genossen, dann hinterfragt und letztlich abgelehnt wird, nur um sie am Ende doch wieder selbst aufzuführen.
Soweit, so zeitgemäß. Aber um welche Art Geborgenheit handelt es sich in diesem Text? Es ist von Anfang an eine familiäre Geborgenheit, keine religiöse oder metaphysische. Wenn aber familiäre Geborgenheit zu Weihnachten inszeniert wird, ist sie den Rest des Jahres wohl nicht oder kaum vorhanden. Ich behaupte, Kinder durschauen relativ schnell die Inszenierung hinter Weihnachten. Bezieht sich diese nur auf das erwähnte "Eiapopeia", können sie damit sehr gut leben. Wird aber Geborgenheit und Wärme inszeniert, die es sonst nicht gibt, dann sind schwere Enttäuschungen vorprogrammiert.

Ich frage mich also, vor was hat der Erzähler nun Angst? Welches Eis ist denn so dünn? Das der familiären Geborgenheit, weil man sie nur inszeniert? Oder einfach nur davor, dass festtägliches Wohlgefühl durch unerwartete und negative Ereignisse zerplatzen könnte?

Der Text wurde als ehrlich bezeichnet. Dieses Attribut für einem fiktionalen Text (der es für mich ist) halte ich für wenig aussagekräftig. Wann ist ein fiktionaler Text denn unehrlich?
Dennoch ist die Bezeichnung interessant. Wahrscheinlich rührt sie daher, dass sich da jemand als aufgeklärt präsentiert und trotzdem offen sagt, im Falle von Weihnachten lässt er mal alle Aufgeklärtheit fahren, und macht das Spiel mit, weil es ja so schön ist. Bzw. der Kinder wegen.
Aber nochmal die Frage: Woher kommt dann die Angst?
Als aufgeklärter Mensch müsste er sich der Fragilität einer jedweden angenehmen Lebenssituation bewusst sein, und das zu jeder Zeit im Jahr.
Also entweder ist die Geborgenheit in seiner Familie wirklich nur eine Inszenierung zur Weihnachtszeit und er befürchtet dieses dünne Eis könnte einbrechen, was dann aber den postulierten Ehrlichkeitsfaktor stark herabsenken würde (meine liebe Frau etc.). Oder die Aufklärungsarbeit ist im Falle des Erzählers dann doch nicht so ganz gelungen und er spricht einem willkürlich gewählten Datum eine Signifikanz zu, die man nur als religiös oder eben metaphysisch bezeichnen kann.

Gruß

Sam

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 26.12.2010, 17:48

Ja, das war auch mein "Problem": Wo ist die Angst vom Anfang geblieben?

Dass der Protagonist hin- und hergerissen ist zwischen Geborgenheitsgefühl und dem Drang, Weihnachten immer mal wieder definieren zu müssen, glaube ich ihm sofort. Aber wer Weihnachten liebt, wird weder Angst noch das Bedürfnis verspüren, Weihnachten zu hinterfragen. Und wer den Sinn des Weihnachtsfestes anzweifelt, wird damit wohl keine Geborgenheit verbinden.
Ich oute mich: Ich gehöre zu jenen Menschen, die mit Weihnachten so gar nichts anfangen können. Ich empfinde den Text als weder stimmig noch "ehrlich" (womit ich natürlich nicht sagen will, dass er unehrlich ist).


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