Versuch über die Geistlosigkeit

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Insa
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Beitragvon Insa » 17.10.2013, 16:20

VERSUCH ÜBER DIE GEISTLOSIGKEIT (Letzte Version: Dank an FLORA!)

Betrete ich das Wohnzimmer meiner Großmutter, so begrüßt sie mich mit strahlenden Augen und zahnlosem Lächeln. Sie winkt mich mit gekrümmtem Zeigefinger herbei und flüstert mir eine Weisheit ins Ohr. Einen geistvollen Ausspruch, über den ich noch lange nachdenke und den ich nach ihrem Tod immer und immer wieder zitieren werde. Um die ungebrochene Geistesgegenwärtigkeit meiner Großmutter zu rühmen. Um die pure Essenz, die sich aus ihrem langen Leben ergab, weiterzugeben.

So stelle ich es mir gerne vor.

Tatsächlich erkennt mich meine Großmutter schon lang nicht mehr, gibt anstatt Weisheiten die meiste Zeit zusammenhanglosen Schwachsinn von sich und hat vor allem noch immer ihre eigenen Zähne. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ihren Geist los. Und die Sache mit den Zähnen ist dabei die größte Tragödie. Denn meine Großmutter war familienintern berühmt und berüchtigt dafür, dass sie den allergrößten Wert auf die Pflege ihrer Zähne legte. Nichts erschien ihr schlimmer, ja demütigender, als ein „Kukident-Weib“ zu werden, wie sie es nannte. „Ich sterbe mit eigenen Zähnen“, verkündete sie zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Und waren wir Enkel bei ihr zu Besuch, dann wurden drei Mal am Tag ausgiebig die Zähne geputzt. Natürlich hassten wir das, tolerierten es aber, denn immerhin war meine Großmutter ungeschlagener Champion im Marathon-Vorlesen und das entschädigte für einiges.

Überhaupt war das Lesen die zweite Leidenschaft meiner Großmutter, gleich nach dem Zähneputzen. Sie schickte ganze Tage lang ihren Geist durch die Höhen und Tiefen der Figuren in zahllosen Geschichten, litt mit ihnen, freute sich mit ihnen, analysierte, verstand.
Heute starrt meine Großmutter nur verständnislos in die Seiten der Bücher, die man ihr hinlegt, in der Hoffnung, sie könnten auf irgendeine magische Weise ihren Geist wieder in Gang bringen.
Heute sind ihr größtes Problem die eigenen Zähne.

Fremde Damen putzen sie ihr, um Entzündungen zu vermeiden und das behagt ihr gar nicht. „Oh hätte ich doch diese verdammten Stumpen nicht“ stöhnt sie, und windet sich, und versteht nicht, warum das alles geschieht. Sie gäbe vermutlich ein Königreich für die dritten Zähne, nur ist es jetzt zu spät dafür. Meine Großmutter ist nun dazu verdammt, mit den eigenen Zähnen zu sterben.

Ich sitze mit der alten Dame vor dem Fernseher. Dort berichtet man uns von den Entwicklungen im World Wide Web, von den Auswirkungen der Globalisierung und der unausweichlichen Umstellung aufs E-Book. Ich bin ganz dabei, es rattert in meinem Geiste, ich siebe die relevanten Informationen aus, erschrecke mich über dies, bin erleichtert über das und forme mir aus all dem meine wahrscheinlichste Zukunft.

Ich schaue hinüber zu meiner Großmutter. Sie sitzt da in grenzenlosem Erstaunen, wie ein Säugling, der das erste Mal Bauklötze sieht. Ihr Becher mit warmer Schokolade ist in ihrer Hand in eine gefährliche Schieflage geraten und jetzt kippt er aus und die Schokolade ergießt sich über ihren gelben Morgenrock. Sie schaut die Sauerei und dann mich an. „Ich bin ein Trottel“ sagt sie und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. Ich säubere sie und schalte dann um in eine Talkshow.

Ein jungdynamischer Politiker, mit sehr weißen Zähnen, echauffiert sich über die Panikmache zum Thema Altenpflege. „Man soll nicht immer den Teufel an die Wand malen“ sagt er. Unseren Alten gehe es doch gut und immer diese Behauptung wir würden sie wegsperren, „ich sehe sie doch überall“, sagt er. Meine Großmutter verfällt einem Heiterkeitsausbruch. „So ein rotes Gesicht! Was der für ein rotes Gesicht hat!“ Der Jungdynamische redet immer weiter. Ihn regt das wirklich auf, mit der Panikmache. Ich hingegen frage mich jeden Tag, was die Frauen, die sich um die körperlichen Bedürfnisse meiner geistlosen Großmutter kümmern, eigentlich motiviert, ihr Bestes zu geben. Denn ich hoffe und glaube, dass sie das tun. Wer würde schließlich merken, ob meine Großmutter Verstopfung hat und ihr jeder Klogang zur schmerzhaften Tortur wird? Sie selbst hätte es ja nach jedem Mal vergessen. Und die Pflegerin, die sich Mühe damit macht, etwas zu unternehmen, die ein Mittel besorgt, es anwendet und mit all den unappetitlichen Konsequenzen umgeht: von wem wird sie gelobt? Von meiner Großmutter nicht, soviel steht fest, denn die weiß ja nicht, wie ihr geschieht.

Bevor ich gehe, schalte ich auf den Kinderkanal um, meine Großmutter entspannt sich und schaut selig lächelnd zu, wie eine Zeichentrickfigur sich den vielfältigen Herausforderungen ihres Daseins widmet.

Ich sitze im Cafe mit einer Freundin, die gerade ihr drittes Kind bekommen hat und nun die Wiederaufnahme ihrer Arbeit vorbereitet. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, vor allem aber über die Welt. Gemeinsam sorgen wir uns um das Bildungssystem und fragen uns, wie wichtig es sei, sich immer wieder Zeit zum Reisen zu nehmen. Rauszukommen und andere Dinge zu sehen, sich inspirieren zu lassen, den „Geist zu lüften“. Wir fragen uns, ob wir gerüstet sind, um unseren Kindern den richtigen Umgang mit dieser komplexen Welt beizubringen. Wir fragen uns, ob wir eigentlich wissen, was wichtig ist. „Man müsste viel mehr im Jetzt sein, im Augenblick“ sagt meine Freundin. Wir überlegen, ob wir einen Meditationskurs belegen sollten. Aber dann müssen wir aufbrechen – Kinder müssen zu Tanzschulen gebracht, Einkäufe erledigt, Abendeinladungen vorbereitet werden.

Der Begriff „Demenz“ kommt von „Demens“ und das heißt soviel wie „ohne Geist“. Geister machen einem Angst, das weiß jedes Kind. Meine Großmutter hat – seit sie ohne Geist ist - viel weniger Angst, als früher, denn sie macht sich ja um nichts mehr Sorgen. Wenn etwas Unangenehmes passiert, entsteht keine bleibende Furcht daraus. Das Zähne putzen ist zwar immer aufs Neue furchtbar. Aber zwischen Zähne putzen und Zähne putzen ist kein Gedanke, der Zeit erschaffen und Teil dieses riesenhaften Furchtsamkeits-Netzwerkes werden könnte, in dem „wir Anderen“ uns nahezu pausenlos aufhalten. Außer dem, was gerade im Moment geschieht, gibt es für meine Großmutter keine Bewertungen, keine Hoffnungen, kein Bereuen und keine Sehnsüchte. Wovor sollte sich ein geistloser Mensch denn fürchten, außer vor der Furcht der anderen?

Ich bin es, der diese Geistlosigkeit Angst macht. Für mich ist sie in der Tat eine immense Provokation. Denn meine Großmutter straft meine Individualität Lügen. Nur die einfache Tatsache ihres Zustandes zieht meine unablässigen Bemühungen, eine Spur im Lauf der Zeit zu ziehen, um eine eigene Geschichte zu kämpfen, über mich hinaus zu wirken, ins Lächerliche. Meine Großmutter führt mich quasi ad absurdum. Und darüber bin ich mindestens beleidigt.

Ich bin dabei, eine größere Reise vorzubereiten. Jede Reise, die ich mache – sei sie beruflich oder privat – plane ich sorgfältig, auf dass sie größtmöglichen Nutzen bringe. Ich versuche soviel zu sehen und zu erleben wie nur geht. Alles wird gesammelt und meinem geistigen Archiv einverleibt: Eindrücke, Souvenirs, Adressen. Dies alles macht mich zu Jemandem. Während ich also an meinem Schreibtisch Reiseführer studiere, im Internet nach Geheimtipps suche und mir vorstelle, was ich alles Tolles erleben werde, fällt mir ein, dass meine Großmutter, die Weitgereiste, sich heute nicht mal erinnert, dass sie 10 Jahre ihres Lebens in Asien verbracht hat. Die Freude weicht einer unbestimmten Wut. Seit ich denken kann, habe ich mich mit der ungewöhnlichen Geschichte meiner Großmutter geschmückt, sie wie ein unverwechselbares Accessoire durch die Zeit getragen. Auf diese Weise reichte ihre Identität bis zu mir, vermochte sogar noch mich, die Enkelin, interessanter zu machen.

Insofern erlebe ich es als Affront, dass all das lautlos verschwinden konnte aus dem Geist meiner Großmutter, so dass kein Unterschied mehr ist, zwischen ihr und jeder anderen, die heute vor dem Fernseher ihren Kakao über den Morgenrock ausschüttet. Meine Großmutter hat über ihren Geist auch ihre Geschichte verloren. Macht die Tatsache, dass ein ganzes Leben vergessbar ist, es auch automatisch beliebig? Bedeutet das, all die Mühe, die ich auf die Vorbereitung meiner Reise verwende ist wiederum … vergeblich? Weil in Wahrheit nichts über den Augenblick hinausweist? Das zu akzeptieren wäre ein echt harter Brocken.

Dabei birgt ja die Tatsache, dass meine Großmutter alles vergisst, genau betrachtet, eine Menge Vorteile. Ich muss mir beispielsweise niemals ein schlechtes Gewissen machen, wenn ich einen Besuch bei ihr versäumt habe. Denn sie zählt meine Besuche nicht und erinnert sich nicht an sie. So könnte ich mich entschließen, nur zu ihr zu gehen, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mich bei ihr auszuruhen. Denn naturgemäß lässt sich bei einem Wesen, das ohne Sehnsucht und ohne Bedauern ist, gut Ruhe finden. Wie bei einem alten Baum. (Von dem ich übrigens nicht behaupten wollte, dass er ohne Geist sei). Gehe ich allerdings wider besseres Wissen zu meiner Großmutter, obwohl mir gar nicht danach ist und werde ich entsprechend ungeduldig, so ist auch das ohne Konsequenz. Sie schaut mich vielleicht erschrocken an, weil meine Nervosität ihre Geistlosigkeit stört und ich streiche ihr übers Haar, atme tief durch und beruhige mich. Dann fragt sie mich freundlich wer ich bin, ich sage „Niemand“ und ich gehe.

Geschieht nicht meiner Großmutter eigentlich genau das, was in den spirituellen Lehren aller Zeiten angestrebt wird? Aber meine Großmutter hat sich nie einen Gott erlaubt. Ist also die Demenz das Nirwana der Ungläubigen? Eine Hilfe der Schöpfung, um denen endgültiges Loslassen zu ermöglichen, die im Leben dafür keine Praxis gefunden haben? Es würde mich ernsthaft interessieren, inwiefern die Demenz vor allem Menschen betrifft, die nie eine friedvolle Beziehung zum Tod gefunden, zugelassen, gesucht, gekannt haben. Was übrigens auch zutiefst religiöse Menschen nicht ausschließt. Was überhaupt … eigentlich niemanden ausschließt, den ich kenne.

Im Altenheim treffe ich auf dem Flur eine zierliche alte Dame. Ich kann davon ausgehen, dass auch sie dement ist, alle hier sind es. Sie nimmt mich beim Arm, ihr Blick flattert unruhig. „Der Dachboden“ flüstert sie eindringlich. Ich schaue sie an, ohne etwas zu sagen, aber so, dass sie sich ermuntert fühlt, weiterzusprechen. „Wir müssen ihn ganz dringend endlich ausräumen!“ Ich weiß, dass diese Frau nicht mehr in meiner Realität zuhause ist und dass ich sie jetzt freundlich beruhigen sollte. Aber mit einem Schlag erscheint mir ihr Ansinnen von einer so bezwingenden Logik, es scheint mir jetzt und hier wirklich so wichtig und notwendig, endlich den verdammten Dachboden auszuräumen, dass ich sie an der Hand nehme und „Das machen wir!“ sage. Wir steuern Hand in Hand auf das Treppenhaus des Altenheimes zu. Keine Ahnung, was geschehen wird, wenn wir oben angekommen sind – hat dieses Haus überhaupt einen zugänglichen Dachboden? Auf halber Treppe bleibt die alte Dame stehen. Sie klammert sich an meinen Arm, Tränen stehen in ihren Augen: „Ich habe solche Angst vor dem Leben!“ sagt sie so laut und deutlich, dass es im gesamten Treppenhaus widerhallt.

Und ich verstehe: Sie hat noch zu viele Dinge auf dem Dachboden. In anderen Worten und radikal ausgedrückt: Sie ist noch nicht geistlos genug, um ihren Dachboden endlich den anderen zu überlassen. Denen, die in ihrer Gier noch in jedem Haufen Kram etwas Begehrenswertes finden. Ich hole Luft, um diese bedeutsame Erkenntnis mit ihr zu teilen. Doch sie kommt mir zuvor. „Wer zum Teufel sind Sie?“ fragt sie mich zornig. „Wollen Sie mich entführen?“ Sie lässt mich los und macht sich an den Abstieg. „Nicht mit mir“ höre ich sie noch murmeln. „Nirgends ist man vor denen sicher.

Ich sitze in der U-Bahn auf dem Weg von einem Termin zum nächsten. Ich bin dabei jede Menge Dinge anzuzetteln, die wiederum andere Menschen bewegen sollen, ihrerseits jede Menge Dinge anzuzetteln. All diese Dinge zusammen sollen möglichst viel Zukunft schaffen. Sie sollen Geld in Bewegung bringen, Ideen vernetzen, Reisen ermöglichen. Die meisten Leute, die hier mit mir in der U-Bahn sitzen tun dasselbe. Irgendwo sitzt auch immer einer, der sich ausgeklinkt hat und mit trübem Blick ins Nichts starrt. Meine Großmutter, die sich ihr ganzes langes Leben lang bemüht hat, Dinge anzuzetteln, die wiederum Menschen angeregt haben, ihrerseits Dinge anzuzetteln, sitzt jetzt auch irgendwo und starrt mit trübem Blick ins Nichts.

Von meinen eigenen Gedanken plötzlich erschöpft, schließe ich die Augen. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern sehe ich voraus:

Meine Großmutter wird auf ihrem Totenbett ein Mensch ohne Geschichte sein.
Sich selbst vorausgegangen.
Aber ich werde Liebe sehen in ihrem letzten Blick.
Und ihr Blick meint mich.









1. Version
Betrete ich das Wohnzimmer meiner Großmutter, so begrüßt sie mich mit strahlenden Augen und zahnlosem Lächeln. Sie winkt mich mit gekrümmtem Zeigefinger herbei und flüstert mir eine Weisheit ins Ohr. Einen geistvollen Ausspruch, über den ich noch lange nachdenke und den ich nach ihrem Tod immer und immer wieder zitieren werde. Um die Geistesgegenwärtigkeit meiner Großmutter zu rühmen. Um die pure Essenz, die sich aus ihrem langen Leben ergab, weiterzugeben.
Ein Klischee. Unser Bild vom Alter. Unser Bild vom Alter aus sicherer Entfernung, versteht sich.

Tatsächlich erkennt mich meine Großmutter schon lang nicht mehr, gibt anstatt Weisheiten die meiste Zeit zusammenhanglosen Schwachsinn von sich und hat vor allem noch immer ihre eigenen Zähne. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ihren Geist los. Und die Sache mit den Zähnen ist dabei die größte Tragödie. Denn meine Großmutter war familienintern berühmt und berüchtigt dafür, dass sie den allergrößten Wert auf die Pflege ihrer Zähne legte. Nichts erschien ihr schlimmer, ja demütigender, als ein „Kukident-Weib“ zu werden, wie sie es nannte. „Ich sterbe mit eigenen Zähnen“, verkündete sie zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Und waren wir Enkel bei ihr zu Besuch, dann wurden drei Mal am Tag ausgiebig die Zähne geputzt. Natürlich hassten wir das, tolerierten es aber, denn immerhin war meine Großmutter ungeschlagener Champion im Marathon-Vorlesen und das entschädigte für einiges.
Überhaupt war das Lesen die zweite Leidenschaft meiner Großmutter, gleich nach dem Zähneputzen. Sie schickte ganze Tage lang ihren Geist durch die Höhen und Tiefen der Figuren in zahllosen Geschichten, litt mit ihnen, freute sich mit ihnen, analysierte, verstand.
Heute starrt meine Großmutter nur verständnislos in die Seiten der Bücher, die man ihr hinlegt, in der Hoffnung, sie könnten auf irgendeine magische Weise ihren Geist wieder in Gang bringen.
Heute sind ihr größtes Problem die eigenen Zähne.
Fremde Damen putzen sie ihr, um Entzündungen zu vermeiden und das behagt ihr gar nicht. „Oh hätte ich doch diese verdammten Stumpen nicht“ stöhnt sie und windet sich und versteht nicht, warum das alles geschieht. Sie gäbe vermutlich ein Königreich für die dritten Zähne, nur ist es jetzt zu spät dafür. Meine Großmutter ist nun dazu verdammt, mit den eigenen Zähnen zu sterben.

Ich sitze mit der alten Dame vor dem Fernseher. Dort berichtet man uns von den Entwicklungen im World Wide Web, von den Auswirkungen der Globalisierung und der unausweichlichen Umstellung aufs E-Book. Ich bin ganz dabei, es rattert in meinem Geiste, ich siebe die relevanten Informationen aus, erschrecke mich über dies, bin erleichtert über das und forme mir aus all dem meine wahrscheinlichste Zukunft. Ich schaue hinüber zu meiner Großmutter. Sie sitzt da in grenzenlosem Erstaunen, wie ein Säugling, der das erste Mal Bauklötze sieht. Ihr Becher mit warmer Schokolade ist in ihrer Hand in eine gefährliche Schieflage geraten und jetzt kippt er aus und die Schokolade ergießt sich über ihren gelben Morgenrock. Sie schaut die Sauerei und dann mich an. „Ich bin ein Idiot“ sagt sie … und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. Ich säubere sie und schalte dann um in eine Talkshow. Ein jungdynamischer Politiker, mit sehr weißen Zähnen, echauffiert sich über die Panikmache zum Thema Altenpflege. „Man soll nicht immer den Teufel an die Wand malen“ sagt er. Unseren Alten gehe es doch gut und immer diese Behauptung wir würden sie wegsperren, „ich sehe sie doch überall“, sagt er. Und das klingt geradezu empört. So, als sei es eine Zumutung mit der Frage konfrontiert zu werden, wes Geistes Kind wir sind, angesichts des langsamen Verfalls geistiger Leistungskraft, den fast jeder von uns eines Tages erleben dürfte. Meine Großmutter verfällt einem Heiterkeitsausbruch. „So ein rotes Gesicht! Was der für ein rotes Gesicht hat!“ Sie könnte sich ausschütten. Der Jungdynamische redet immer weiter. Ihn regt das wirklich auf, mit der Panikmache. Ich hingegen frage mich jeden Tag, was die Frauen, die sich um die körperlichen Bedürfnisse meiner geistlosen Großmutter kümmern, eigentlich motiviert, ihr Bestes zu geben. Denn ich hoffe und glaube, dass sie das tun. Aber das System, nach dem wir alle leben, in dem Unzufriedenheit eine auswirkungsreiche geistige Maßeinheit ist und Zufriedenheit ein Motor, der etwas bewegt, greift hier ja nicht. Wer würde merken, ob meine Großmutter Verstopfung hat und ihr jeder Klogang zur schmerzhaften Tortur wird? Sie selbst hätte es ja nach jedem Mal vergessen. Und die Pflegerin, die sich Mühe damit macht, etwas zu unternehmen, die ein Mittel besorgt, es anwendet und mit all den unappetitlichen Konsequenzen umgeht: von wem wird sie gelobt? Von meiner Großmutter nicht, soviel steht fest, denn die weiß ja nicht, wie ihr geschieht. Wie ungeheuer einfach da nicht „sein Bestes“ zu tun, es sich lieber leicht zu machen. Woher wissen wir also, ob hier jemand unnötig den Teufel an die Wand malt, oder ob der Teufel längst höchstpersönlich mit unseren Alten auf dem Klo hockt?
Während ich da neben meiner Großmutter auf dem Sofa sitze, frage ich mich, ob dieser jungdynamische Politiker mit den weißen Zähnen für sich wohl irgendeinen Deal herausgeschlagen hat, der ihn davor bewahren wird, je „ein Alter“ zu werden? Und wenn ja, mit wem? Bevor ich gehe, schalte ich auf den Kinderkanal um, meine Großmutter entspannt sich und schaut selig lächelnd zu, wie eine Zeichentrickfigur sich den vielfältigen Herausforderungen ihres Daseins widmet.

Ich sitze im Cafe mit einer Freundin, die gerade ihr drittes Kind bekommen hat und nun die Wiederaufnahme ihrer Arbeit vorbereitet. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, vor allem aber über die Welt. Gemeinsam sorgen wir uns um das Bildungssystem und fragen uns, wie wichtig es sei, sich immer wieder Zeit zum Reisen zu nehmen. Rauszukommen und andere Dinge zu sehen, sich inspirieren zu lassen, den „Geist zu lüften“. Wir fragen uns, ob wir gerüstet sind, um unseren Kindern den richtigen Umgang mit dieser komplexen Welt beizubringen. Wir fragen uns, ob wir eigentlich wissen, was wichtig ist. „Man müsste viel mehr im Jetzt sein, im
Augenblick“ sagt meine Freundin. „Ständig hasten wir mit Volldampf in die Zukunft, die doch nie so wird, wie wir sie uns vorgestellt haben.“ „Oder wir ärgern uns über Vergangenes, trauern ihm nach“ ergänze ich. Wir überlegen, ob wir einen Meditationskurs belegen sollten, um zu lernen im Jetzt zu sein.
Aber dann müssen wir aufbrechen – Kinder müssen zu Tanzschulen gebracht, Einkäufe erledigt, Abendeinladungen vorbereitet werden. Und so versinken wir wieder in Vergangenem und Zukünftigen, in Wünschen, Sorgen und Mühen, die in allererster Linie unser immer reger Geist erschafft.
Den Menschen, der sich vergessen hat, betrifft das alles nicht mehr, und es scheint, dass ihm das nicht grundsätzlich Angst macht. Nicht solange seine Umgebung davon absieht panisch zu reagieren.

Der Begriff „Demenz“ kommt von „Dementia“ und das heißt soviel wie „ohne Geist“. Geister machen einem Angst, das weiß jedes Kind. Meine Großmutter hat – seit sie ohne Geist ist - viel weniger Angst, als früher, denn sie macht sich ja um nichts mehr Sorgen. Wenn etwas Unangenehmes passiert, entsteht keine bleibende Furcht daraus. Das Zähne putzen ist zwar immer aufs Neue furchtbar. Aber zwischen Zähne putzen und Zähne putzen ist kein Gedanke, der Zeit erschaffen und Teil dieses riesenhaften Furchtsamkeits-Netzwerkes werden könnte, in dem „wir Anderen“ uns nahezu pausenlos aufhalten. Außer dem, was gerade im Moment geschieht, gibt es für meine Großmutter keine Bewertungen, keine Hoffnungen, kein Bereuen und keine Sehnsüchte. Wovor sollte sich ein geistloser Mensch denn fürchten, außer vor der Furcht der anderen? Es sind ja „wir Anderen“, die wir mit den Geistern der Vergangenheit und Zukunft leben – ja aus ihnen bestehen - denen diese Geistlosigkeit Angst macht. Für uns ist sie in der Tat eine immense Provokation. Und wir müssen sie deshalb auf jeden Fall zur Krankheit deklarieren. Denn sonst ließe sich die Tatsache, dass eine so radikale Auflösung des Egos und seines größten Instruments – dem Verstand – bei lebendigem Leibe möglich, sogar wahrscheinlich ist, nur auf eine einzige Art deuten:
Alles, was wir mehrheitlich tun, um ein sinnvolles Leben zu führen, ist vollkommen vergeblich.
Natürlich wussten wir das irgendwie längst. Aber mit der „Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens“ als rhetorischer Figur oder literarischem Motiv lässt es sich nonchalant leben. In der Verkörperung durch eine uns nahestehende Person jedoch, wird sie zu einer physischen Bedrohung, ja, einem kriegerischen Angriff auf unsere eigene Identität.
Meine Großmutter straft nämlich genau genommen meine Individualität Lügen.
Nur die einfache Tatsache ihres Zustandes zieht meine unablässigen Bemühungen, eine Spur im Lauf der Zeit zu ziehen, um eine eigene Geschichte zu kämpfen, über mich hinaus zu wirken, ins Lächerliche. Meine Großmutter führt mich quasi ad absurdum. Und darüber bin ich mindestens beleidigt.

Ich bereite eine größere Reise vor. Jede Reise, die ich mache – sei sie beruflich oder privat – plane ich sorgfältig, auf dass sie größtmöglichen Nutzen bringe. Ich versuche soviel zu sehen und zu erleben wie nur geht. Alles wird gesammelt und meinem geistigen Archiv einverleibt: Eindrücke, Souvenirs, Adressen. Dies alles macht mich zu Jemandem. Während ich also an meinem Schreibtisch Reiseführer studiere, im Internet nach Geheimtipps suche und mir vorstelle, was ich alles Tolles erleben werde, fällt mir ein, dass meine Großmutter, die Weitgereiste, sich heute nicht mal erinnert, dass sie 10 Jahre ihres Lebens in Asien verbracht hat. Die Freude weicht einer unbestimmten Wut. Seit ich denken kann, habe ich mich mit der ungewöhnlichen Geschichte meiner Großmutter geschmückt, sie wie ein unverwechselbares Accessoire durch die Zeit getragen. Auf diese Weise reichte ihre Identität bis zu mir, vermochte sogar noch mich, die Enkelin, interessanter zu machen. Schienen doch meine eigenen Lebensentscheidungen so beliebig dagegen. In Zeiten, in denen nichts sein muss und alles geht.
Man wird also verstehen, dass ich es als Affront erlebe, dass all das lautlos verschwinden konnte aus dem Geist meiner Großmutter, so dass kein Unterschied mehr ist, zwischen ihr und jeder anderen, die heute vor dem Fernseher ihre Schokolade über den Morgenrock ausschüttet. Meine Großmutter hat über ihren Geist auch ihre Geschichte verloren. Macht die Tatsache, dass ein ganzes Leben vergessbar ist, es auch automatisch beliebig? Bedeutet das, all die Mühe, die ich auf die Vorbereitung meiner Reise verwende ist wiederum … vergeblich? Weil in Wahrheit nichts über den Augenblick hinausweist? Das zu akzeptieren wäre ein echt harter Brocken.
Dabei birgt ja die Tatsache, dass meine Großmutter alles vergisst, genau betrachtet, eine Menge Vorteile. Ich muss mir beispielsweise niemals ein schlechtes Gewissen machen, wenn ich einen Besuch bei ihr versäumt habe. Denn sie zählt meine Besuche nicht und erinnert sich nicht an sie. So könnte ich mich entschließen, nur zu ihr zu gehen, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mich bei ihr auszuruhen. Denn naturgemäß lässt sich bei einem Wesen, das ohne Sehnsucht und ohne Bedauern ist, gut Ruhe finden. Wie bei einem alten Baum. (Von dem ich übrigens nicht behaupten wollte, dass er ohne Geist sei). Gehe ich allerdings wider besseres Wissen zu meiner Großmutter, obwohl mir gar nicht danach ist und werde ich entsprechend ungeduldig, so ist auch das ohne Konsequenz. Sie schaut mich vielleicht erschrocken an, weil meine Energie ihre Geistlosigkeit stört und ich streiche ihr übers Haar, atme tief durch und beruhige mich. Dann fragt sie mich freundlich wer ich bin, ich sage „Niemand“ und ich gehe.

Geschieht nicht meiner Großmutter eigentlich genau das, was in den spirituellen Lehren aller Zeiten angestrebt wird? Es scheint ihr nur das Bewusstsein über den Prozess zu fehlen. Aber ist nicht im letzten Sinne auch die Neudefinition von Bewusstsein ein erstrebenswerter Teil spiritueller Erkenntnis? Dies alles ist umso merkwürdiger, als meine Großmutter sich nie einen Gott erlaubt hat.
Ist also die Demenz das Nirwana der Ungläubigen? Eine Hilfe der Schöpfung, um denen endgültiges Loslassen zu ermöglichen, die im Leben dafür keine Praxis gefunden haben?
Es würde mich ernsthaft interessieren, inwiefern die Demenz vor allem Menschen betrifft, die nie eine friedvolle Beziehung zum Tod gefunden, zugelassen, gesucht, gekannt haben. Was übrigens auch zutiefst religiöse Menschen nicht ausschließt. Was überhaupt … eigentlich niemanden ausschließt, den ich kenne.

Im Altenheim treffe ich auf dem Flur eine zierliche alte Dame. Ich kann davon ausgehen, dass auch sie dement ist, alle hier sind es. Sie nimmt mich beim Arm, ihr Blick flattert unruhig. „Der Dachboden“ flüstert sie eindringlich. Ich schaue sie an, ohne etwas zu sagen, aber so, dass sie sich ermuntert fühlt, weiterzusprechen. „Wir müssen ihn ganz dringend endlich ausräumen!“ Ich weiß, dass diese Frau nicht mehr in meiner Realität zuhause ist und dass ich sie jetzt freundlich beruhigen sollte. Aber mit einem Schlag erscheint mir ihr Ansinnen von einer so bezwingenden Logik, es scheint mir jetzt und hier wirklich so wichtig und notwendig, endlich den verdammten Dachboden auszuräumen, dass ich sie an der Hand nehme und „Das machen wir!“ sage. Wir steuern Hand in Hand auf das Treppenhaus des Altenheimes zu. Keine Ahnung, was geschehen wird, wenn wir oben angekommen sind – hat dieses Haus überhaupt einen zugänglichen Dachboden? Auf halber Treppe bleibt die alte Dame stehen. Sie klammert sich an meinen Arm, Tränen stehen in ihren Augen: „Ich habe solche Angst vor dem Leben!“ sagt sie so laut und deutlich, dass es im gesamten Treppenhaus widerhallt. Ich stehe fassungslos. Diese alte Frau erwartet den Tod, sie ist wahrhaftig an der Endstation. Jedem würde einleuchten, wenn sie Angst vor dem Sterben hätte. Aber dies? Wir schauen uns einen Moment lang unbewegt in die Augen: in ihren steht die Angst vor dem Leben, in meinen die Angst vor ihr. Dann verstehe ich: Sie hat zu viele Dinge auf dem Dachboden, ihr Geist ist noch zu voll. In anderen Worten und radikal ausgedrückt: Sie ist noch nicht dement genug um in Frieden zu sterben.
Sie ist noch nicht geistlos genug, um ihren Dachboden endlich den anderen zu überlassen, denen, die in ihrer Gier noch in jedem Haufen Kram etwas Begehrenswertes finden. In diesem Augenblick erscheint mir die Geistlosigkeit als ein wirklich gnadenvoller Zustand, etwas zutiefst Erstrebenswertes. Ich möchte dieser alten Frau, die mich immer noch am Arm hält, das gerne sagen. Ich hole Luft, um diese bedeutsame Erkenntnis mit ihr zu teilen. Doch sie kommt mir zuvor. „Wer zum Teufel sind Sie?“ fragt sie mich zornig. „Wollen Sie mich entführen?“ Sie lässt mich los und macht sich an den Abstieg. „Nicht mit mir“ höre ich sie noch murmeln. „Nirgends ist man vor denen sicher.“

Ich sitze in der U-Bahn auf dem Weg von einem Termin zum nächsten. Ich bin dabei jede Menge Dinge anzuzetteln, die wiederum andere Menschen bewegen sollen, ihrerseits jede Menge Dinge anzuzetteln. All diese Dinge zusammen sollen möglichst viel Zukunft schaffen. Sie sollen Geld in Bewegung bringen, Ideen vernetzen, Reisen ermöglichen. Die meisten Leute, die hier mit mir in der U-Bahn sitzen tun dasselbe. Irgendwo sitzt auch immer einer, der sich ausgeklinkt hat und mit trübem Blick ins Nichts starrt. Meine Großmutter, die sich ihr ganzes langes Leben lang bemüht hat, Dinge anzuzetteln, die wiederum Menschen angeregt haben, ihrerseits Dinge anzuzetteln, sitzt jetzt auch irgendwo und starrt mit trübem Blick ins Nichts.
Von meinen eigenen Gedanken plötzlich erschöpft, schließe ich die Augen. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern entsteht eine Vision:

Lange Menschen-Schlangen haben sich strahlenförmig vor einem Tor gebildet. Vielleicht ist es auch kein Tor, sondern nur ein einfacher Strich auf dem Boden. Ich stehe noch zu weit entfernt, um das zu sehen. Ich bin auch nicht sonderlich scharf darauf hinzukommen. Eine Einstellung, die so ziemlich alle mit mir teilen, die auf derselben Höhe stehen wie ich. Aber irgendwie scheint es keine Möglichkeit zu geben, sich aus der Schlange zu entfernen. Egal wohin man sich stellt, unversehens steht man wieder an. Die meisten von uns wissen, dass das Tor – oder der Strich – oder was es auch sein mag, eine Grenze markiert. Eine Grenze, die Vergessen ist … endgültiges Scheitern oder Erlösung, Eingeständnis der Vergeblichkeit oder allumfassendes Verständnis des letzten Sinns. Und während wir anstehen, versuchen wir uns mit möglichst viel zu beladen, wir schrecken auch nicht davor zurück anderer Leute Dachböden auszuräumen – weil wir hoffen, wenigstens einen klitzekleinen Teil von alldem mit hinübernehmen zu können. Während wir langsam vorrücken, versuchen wir außerdem denen, die wir mit unserer Stimme erreichen können, soviel wie möglich von uns zu erzählen. Und die anderen versuchen uns mindestens genauso viel von sich zu erzählen. Es ist ein Wahnsinnspalaver. Wir tauschen auch Sachen, mit denen wir uns beladen haben aus. Wenn wir zum Beispiel glauben, eine Sache würde besser zu unseren Geschichten passen und entsprechend leichter zu tragen sein. Weil uns nicht entgeht, dass die, die sich der Grenze nähern immer mehr von ihrer Ladung verlieren.

Woher ich es weiß, weiß ich nicht. Aber ich weiß: ich werde an dieser Grenze stehen, sei es nun ein Tor, oder nur ein Strich auf dem Boden. Ich werde eine Stimme hören, die vermutlich aus meinem tiefsten Innern kommt und - je nachdem, wer ich bis hierhin war - freundlich oder ungeduldig rufen wird:
DER NÄCHSTE BITTE?!
Es scheint mir sinnlos, Kraft und Energie auf den Versuch zu verschwenden der Schlange zu entkommen, indem man zum Beispiel Haken schlägt, Richtungen wechselt oder sich einfach versteckt. Sinn würde es höchstens machen, in der Blüte der eigenen geistigen Kraft eine „Kultur des Loslassens“ zu entwickeln und zu teilen. Unwichtiges gehen zu lassen, sich beizeiten auf Wesentliches zu besinnen und vor allem: Dieses Thema nicht allein den Esoterikern und den Geistlosen zu überlassen.

Auf ihrem Totenbett ist meine Großmutter ein Mensch ohne Geschichte. Sie kennt mich nicht. Und das hier habe ich mir nicht ausgedacht: Die letzten Worte, die meine Großmutter an mich richtet sind: „Ich liebe dich.“


2. Version:

Betrete ich das Wohnzimmer meiner Großmutter, so begrüßt sie mich mit strahlenden Augen und zahnlosem Lächeln. Sie winkt mich mit gekrümmtem Zeigefinger herbei und flüstert mir eine Weisheit ins Ohr. Einen geistvollen Ausspruch, über den ich noch lange nachdenke und den ich nach ihrem Tod immer und immer wieder zitieren werde. Um die Geistesgegenwärtigkeit meiner Großmutter zu rühmen. Um die pure Essenz, die sich aus ihrem langen Leben ergab, weiterzugeben.
Ein Klischee. Unser Bild vom Alter. Unser Bild vom Alter aus sicherer Entfernung, versteht sich.

Tatsächlich erkennt mich meine Großmutter schon lang nicht mehr, gibt anstatt Weisheiten die meiste Zeit zusammenhanglosen Schwachsinn von sich und hat vor allem noch immer ihre eigenen Zähne. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ihren Geist los. Und die Sache mit den Zähnen ist dabei die größte Tragödie. Denn meine Großmutter war familienintern berühmt und berüchtigt dafür, dass sie den allergrößten Wert auf die Pflege ihrer Zähne legte. Nichts erschien ihr schlimmer, ja demütigender, als ein „Kukident-Weib“ zu werden, wie sie es nannte. „Ich sterbe mit eigenen Zähnen“, verkündete sie zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Und waren wir Enkel bei ihr zu Besuch, dann wurden drei Mal am Tag ausgiebig die Zähne geputzt. Natürlich hassten wir das, tolerierten es aber, denn immerhin war meine Großmutter ungeschlagener Champion im Marathon-Vorlesen und das entschädigte für einiges.
Überhaupt war das Lesen die zweite Leidenschaft meiner Großmutter, gleich nach dem Zähneputzen. Sie schickte ganze Tage lang ihren Geist durch die Höhen und Tiefen der Figuren in zahllosen Geschichten, litt mit ihnen, freute sich mit ihnen, analysierte, verstand.
Heute starrt meine Großmutter nur verständnislos in die Seiten der Bücher, die man ihr hinlegt, in der Hoffnung, sie könnten auf irgendeine magische Weise ihren Geist wieder in Gang bringen.
Heute sind ihr größtes Problem die eigenen Zähne.
Fremde Damen putzen sie ihr, um Entzündungen zu vermeiden und das behagt ihr gar nicht. „Oh hätte ich doch diese verdammten Stumpen nicht“ stöhnt sie und windet sich und versteht nicht, warum das alles geschieht. Sie gäbe vermutlich ein Königreich für die dritten Zähne, nur ist es jetzt zu spät dafür. Meine Großmutter ist nun dazu verdammt, mit den eigenen Zähnen zu sterben.

Ich sitze mit der alten Dame vor dem Fernseher. Dort berichtet man uns von den Entwicklungen im World Wide Web, von den Auswirkungen der Globalisierung und der unausweichlichen Umstellung aufs E-Book. Ich bin ganz dabei, es rattert in meinem Geiste, ich siebe die relevanten Informationen aus, erschrecke mich über dies, bin erleichtert über das und forme mir aus all dem meine wahrscheinlichste Zukunft. Ich schaue hinüber zu meiner Großmutter. Sie sitzt da in grenzenlosem Erstaunen, wie ein Säugling, der das erste Mal Bauklötze sieht. Ihr Becher mit warmer Schokolade ist in ihrer Hand in eine gefährliche Schieflage geraten und jetzt kippt er aus und die Schokolade ergießt sich über ihren gelben Morgenrock. Sie schaut die Sauerei und dann mich an. „Ich bin ein Idiot“ sagt sie … und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. Ich säubere sie und schalte dann um in eine Talkshow. Ein jungdynamischer Politiker, mit sehr weißen Zähnen, echauffiert sich über die Panikmache zum Thema Altenpflege. „Man soll nicht immer den Teufel an die Wand malen“ sagt er. Unseren Alten gehe es doch gut und immer diese Behauptung wir würden sie wegsperren, „ich sehe sie doch überall“, sagt er. Und das klingt geradezu empört. So, als sei es eine Zumutung mit der Frage konfrontiert zu werden, wes Geistes Kind wir sind, angesichts des langsamen Verfalls geistiger Leistungskraft, den fast jeder von uns eines Tages erleben dürfte. Meine Großmutter verfällt einem Heiterkeitsausbruch. „So ein rotes Gesicht! Was der für ein rotes Gesicht hat!“ Sie könnte sich ausschütten. Der Jungdynamische redet immer weiter. Ihn regt das wirklich auf, mit der Panikmache. Ich hingegen frage mich jeden Tag, was die Frauen, die sich um die körperlichen Bedürfnisse meiner geistlosen Großmutter kümmern, eigentlich motiviert, ihr Bestes zu geben. Denn ich hoffe und glaube, dass sie das tun. Aber das System, nach dem wir alle leben, in dem Unzufriedenheit eine auswirkungsreiche geistige Maßeinheit ist und Zufriedenheit ein Motor, der etwas bewegt, greift hier ja nicht. Wer würde merken, ob meine Großmutter Verstopfung hat und ihr jeder Klogang zur schmerzhaften Tortur wird? Sie selbst hätte es ja nach jedem Mal vergessen. Und die Pflegerin, die sich Mühe damit macht, etwas zu unternehmen, die ein Mittel besorgt, es anwendet und mit all den unappetitlichen Konsequenzen umgeht: von wem wird sie gelobt? Von meiner Großmutter nicht, soviel steht fest, denn die weiß ja nicht, wie ihr geschieht. Wie ungeheuer einfach da nicht „sein Bestes“ zu tun, es sich lieber leicht zu machen. Woher wissen wir also, ob hier jemand unnötig den Teufel an die Wand malt, oder ob der Teufel längst höchstpersönlich mit unseren Alten auf dem Klo hockt?
Während ich da neben meiner Großmutter auf dem Sofa sitze, frage ich mich, ob dieser jungdynamische Politiker mit den weißen Zähnen für sich wohl irgendeinen Deal herausgeschlagen hat, der ihn davor bewahren wird, je „ein Alter“ zu werden? Und wenn ja, mit wem? Bevor ich gehe, schalte ich auf den Kinderkanal um, meine Großmutter entspannt sich und schaut selig lächelnd zu, wie eine Zeichentrickfigur sich den vielfältigen Herausforderungen ihres Daseins widmet.

Der Begriff „Demenz“ kommt von „Dementia“ und das heißt soviel wie „ohne Geist“. Geister machen einem Angst, das weiß jedes Kind. Meine Großmutter hat – seit sie ohne Geist ist - viel weniger Angst, als früher, denn sie macht sich ja um nichts mehr Sorgen. Wenn etwas Unangenehmes passiert, entsteht keine bleibende Furcht daraus. Das Zähne putzen ist zwar immer aufs Neue furchtbar. Aber zwischen Zähne putzen und Zähne putzen ist kein Gedanke, der Zeit erschaffen und Teil dieses riesenhaften Furchtsamkeits-Netzwerkes werden könnte, in dem „wir Anderen“ uns nahezu pausenlos aufhalten. Außer dem, was gerade im Moment geschieht, gibt es für meine Großmutter keine Bewertungen, keine Hoffnungen, kein Bereuen und keine Sehnsüchte. Wovor sollte sich ein geistloser Mensch denn fürchten, außer vor der Furcht der anderen? Es sind ja „wir Anderen“, die wir mit den Geistern der Vergangenheit und Zukunft leben – ja aus ihnen bestehen - denen diese Geistlosigkeit Angst macht. Für uns ist sie in der Tat eine immense Provokation. Und wir müssen sie deshalb auf jeden Fall zur Krankheit deklarieren. Denn sonst ließe sich die Tatsache, dass eine so radikale Auflösung des Egos und seines größten Instruments – dem Verstand – bei lebendigem Leibe möglich, sogar wahrscheinlich ist, nur auf eine einzige Art deuten:
Alles, was wir mehrheitlich tun, um ein sinnvolles Leben zu führen, ist vollkommen vergeblich.
Natürlich wussten wir das irgendwie längst. Aber mit der „Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens“ als rhetorischer Figur oder literarischem Motiv lässt es sich nonchalant leben. In der Verkörperung durch eine uns nahestehende Person jedoch, wird sie zu einer physischen Bedrohung, ja, einem kriegerischen Angriff auf unsere eigene Identität.
Meine Großmutter straft nämlich genau genommen meine Individualität Lügen.
Nur die einfache Tatsache ihres Zustandes zieht meine unablässigen Bemühungen, eine Spur im Lauf der Zeit zu ziehen, um eine eigene Geschichte zu kämpfen, über mich hinaus zu wirken, ins Lächerliche. Meine Großmutter führt mich quasi ad absurdum. Und darüber bin ich mindestens beleidigt.

Ich bereite eine größere Reise vor. Jede Reise, die ich mache – sei sie beruflich oder privat – plane ich sorgfältig, auf dass sie größtmöglichen Nutzen bringe. Ich versuche soviel zu sehen und zu erleben wie nur geht. Alles wird gesammelt und meinem geistigen Archiv einverleibt: Eindrücke, Souvenirs, Adressen. Dies alles macht mich zu Jemandem. Während ich also an meinem Schreibtisch Reiseführer studiere, im Internet nach Geheimtipps suche und mir vorstelle, was ich alles Tolles erleben werde, fällt mir ein, dass meine Großmutter, die Weitgereiste, sich heute nicht mal erinnert, dass sie 10 Jahre ihres Lebens in Asien verbracht hat. Die Freude weicht einer unbestimmten Wut. Seit ich denken kann, habe ich mich mit der ungewöhnlichen Geschichte meiner Großmutter geschmückt, sie wie ein unverwechselbares Accessoire durch die Zeit getragen. Auf diese Weise reichte ihre Identität bis zu mir, vermochte sogar noch mich, die Enkelin, interessanter zu machen. Schienen doch meine eigenen Lebensentscheidungen so beliebig dagegen. In Zeiten, in denen nichts sein muss und alles geht.
Man wird also verstehen, dass ich es als Affront erlebe, dass all das lautlos verschwinden konnte aus dem Geist meiner Großmutter, so dass kein Unterschied mehr ist, zwischen ihr und jeder anderen, die heute vor dem Fernseher ihre Schokolade über den Morgenrock ausschüttet. Meine Großmutter hat über ihren Geist auch ihre Geschichte verloren. Macht die Tatsache, dass ein ganzes Leben vergessbar ist, es auch automatisch beliebig? Bedeutet das, all die Mühe, die ich auf die Vorbereitung meiner Reise verwende ist wiederum … vergeblich? Weil in Wahrheit nichts über den Augenblick hinausweist? Das zu akzeptieren wäre ein echt harter Brocken.
Dabei birgt ja die Tatsache, dass meine Großmutter alles vergisst, genau betrachtet, eine Menge Vorteile. Ich muss mir beispielsweise niemals ein schlechtes Gewissen machen, wenn ich einen Besuch bei ihr versäumt habe. Denn sie zählt meine Besuche nicht und erinnert sich nicht an sie. So könnte ich mich entschließen, nur zu ihr zu gehen, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mich bei ihr auszuruhen. Denn naturgemäß lässt sich bei einem Wesen, das ohne Sehnsucht und ohne Bedauern ist, gut Ruhe finden. Wie bei einem alten Baum. (Von dem ich übrigens nicht behaupten wollte, dass er ohne Geist sei). Gehe ich allerdings wider besseres Wissen zu meiner Großmutter, obwohl mir gar nicht danach ist und werde ich entsprechend ungeduldig, so ist auch das ohne Konsequenz. Sie schaut mich vielleicht erschrocken an, weil meine Energie ihre Geistlosigkeit stört und ich streiche ihr übers Haar, atme tief durch und beruhige mich. Dann fragt sie mich freundlich wer ich bin, ich sage „Niemand“ und ich gehe.

Geschieht nicht meiner Großmutter eigentlich genau das, was in den spirituellen Lehren aller Zeiten angestrebt wird? Es scheint ihr nur das Bewusstsein über den Prozess zu fehlen. Aber ist nicht im letzten Sinne auch die Neudefinition von Bewusstsein ein erstrebenswerter Teil spiritueller Erkenntnis? Dies alles ist umso merkwürdiger, als meine Großmutter sich nie einen Gott erlaubt hat.
Ist also die Demenz das Nirwana der Ungläubigen? Eine Hilfe der Schöpfung, um denen endgültiges Loslassen zu ermöglichen, die im Leben dafür keine Praxis gefunden haben?
Es würde mich ernsthaft interessieren, inwiefern die Demenz vor allem Menschen betrifft, die nie eine friedvolle Beziehung zum Tod gefunden, zugelassen, gesucht, gekannt haben. Was übrigens auch zutiefst religiöse Menschen nicht ausschließt. Was überhaupt … eigentlich niemanden ausschließt, den ich kenne.

Im Altenheim treffe ich auf dem Flur eine zierliche alte Dame. Ich kann davon ausgehen, dass auch sie dement ist, alle hier sind es. Sie nimmt mich beim Arm, ihr Blick flattert unruhig. „Der Dachboden“ flüstert sie eindringlich. Ich schaue sie an, ohne etwas zu sagen, aber so, dass sie sich ermuntert fühlt, weiterzusprechen. „Wir müssen ihn ganz dringend endlich ausräumen!“ Ich weiß, dass diese Frau nicht mehr in meiner Realität zuhause ist und dass ich sie jetzt freundlich beruhigen sollte. Aber mit einem Schlag erscheint mir ihr Ansinnen von einer so bezwingenden Logik, es scheint mir jetzt und hier wirklich so wichtig und notwendig, endlich den verdammten Dachboden auszuräumen, dass ich sie an der Hand nehme und „Das machen wir!“ sage. Wir steuern Hand in Hand auf das Treppenhaus des Altenheimes zu. Keine Ahnung, was geschehen wird, wenn wir oben angekommen sind – hat dieses Haus überhaupt einen zugänglichen Dachboden? Auf halber Treppe bleibt die alte Dame stehen. Sie klammert sich an meinen Arm, Tränen stehen in ihren Augen: „Ich habe solche Angst vor dem Leben!“ sagt sie so laut und deutlich, dass es im gesamten Treppenhaus widerhallt. Ich stehe fassungslos. Diese alte Frau erwartet den Tod, sie ist wahrhaftig an der Endstation. Jedem würde einleuchten, wenn sie Angst vor dem Sterben hätte. Aber dies? Wir schauen uns einen Moment lang unbewegt in die Augen: in ihren steht die Angst vor dem Leben, in meinen die Angst vor ihr. Dann verstehe ich: Sie hat zu viele Dinge auf dem Dachboden, ihr Geist ist noch zu voll. In anderen Worten und radikal ausgedrückt: Sie ist noch nicht dement genug um in Frieden zu sterben.
Sie ist noch nicht geistlos genug, um ihren Dachboden endlich den anderen zu überlassen, denen, die in ihrer Gier noch in jedem Haufen Kram etwas Begehrenswertes finden. In diesem Augenblick erscheint mir die Geistlosigkeit als ein wirklich gnadenvoller Zustand, etwas zutiefst Erstrebenswertes. Ich möchte dieser alten Frau, die mich immer noch am Arm hält, das gerne sagen. Ich hole Luft, um diese bedeutsame Erkenntnis mit ihr zu teilen. Doch sie kommt mir zuvor. „Wer zum Teufel sind Sie?“ fragt sie mich zornig. „Wollen Sie mich entführen?“ Sie lässt mich los und macht sich an den Abstieg. „Nicht mit mir“ höre ich sie noch murmeln. „Nirgends ist man vor denen sicher.“

Ich sitze in der U-Bahn auf dem Weg von einem Termin zum nächsten. Ich bin dabei jede Menge Dinge anzuzetteln, die wiederum andere Menschen bewegen sollen, ihrerseits jede Menge Dinge anzuzetteln. All diese Dinge zusammen sollen möglichst viel Zukunft schaffen. Sie sollen Geld in Bewegung bringen, Ideen vernetzen, Reisen ermöglichen. Die meisten Leute, die hier mit mir in der U-Bahn sitzen tun dasselbe. Irgendwo sitzt auch immer einer, der sich ausgeklinkt hat und mit trübem Blick ins Nichts starrt. Meine Großmutter, die sich ihr ganzes langes Leben lang bemüht hat, Dinge anzuzetteln, die wiederum Menschen angeregt haben, ihrerseits Dinge anzuzetteln, sitzt jetzt auch irgendwo und starrt mit trübem Blick ins Nichts.
Von meinen eigenen Gedanken plötzlich erschöpft, schließe ich die Augen. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern entsteht eine Vision:

Lange Menschen-Schlangen haben sich strahlenförmig vor einem Tor gebildet. Vielleicht ist es auch kein Tor, sondern nur ein einfacher Strich auf dem Boden. Ich stehe noch zu weit entfernt, um das zu sehen. Ich bin auch nicht sonderlich scharf darauf hinzukommen. Eine Einstellung, die so ziemlich alle mit mir teilen, die auf derselben Höhe stehen wie ich. Aber irgendwie scheint es keine Möglichkeit zu geben, sich aus der Schlange zu entfernen. Egal wohin man sich stellt, unversehens steht man wieder an. Die meisten von uns wissen, dass das Tor – oder der Strich – oder was es auch sein mag, eine Grenze markiert. Eine Grenze, die Vergessen ist … endgültiges Scheitern oder Erlösung, Eingeständnis der Vergeblichkeit oder allumfassendes Verständnis des letzten Sinns. Und während wir anstehen, versuchen wir uns mit möglichst viel zu beladen, wir schrecken auch nicht davor zurück anderer Leute Dachböden auszuräumen – weil wir hoffen, wenigstens einen klitzekleinen Teil von alldem mit hinübernehmen zu können. Während wir langsam vorrücken, versuchen wir außerdem denen, die wir mit unserer Stimme erreichen können, soviel wie möglich von uns zu erzählen. Und die anderen versuchen uns mindestens genauso viel von sich zu erzählen. Es ist ein Wahnsinnspalaver. Wir tauschen auch Sachen, mit denen wir uns beladen haben aus. Wenn wir zum Beispiel glauben, eine Sache würde besser zu unseren Geschichten passen und entsprechend leichter zu tragen sein. Weil uns nicht entgeht, dass die, die sich der Grenze nähern immer mehr von ihrer Ladung verlieren.

Woher ich es weiß, weiß ich nicht. Aber ich weiß: ich werde an dieser Grenze stehen, sei es nun ein Tor, oder nur ein Strich auf dem Boden. Ich werde eine Stimme hören, die vermutlich aus meinem tiefsten Innern kommt und - je nachdem, wer ich bis hierhin war - freundlich oder ungeduldig rufen wird:
DER NÄCHSTE BITTE?!
Es scheint mir sinnlos, Kraft und Energie auf den Versuch zu verschwenden der Schlange zu entkommen, indem man zum Beispiel Haken schlägt, Richtungen wechselt oder sich einfach versteckt. Sinn würde es höchstens machen, in der Blüte der eigenen geistigen Kraft eine „Kultur des Loslassens“ zu entwickeln und zu teilen. Unwichtiges gehen zu lassen, sich beizeiten auf Wesentliches zu besinnen und vor allem: Dieses Thema nicht allein den Esoterikern und den Geistlosen zu überlassen.

Auf ihrem Totenbett wird meine Großmutter ein Mensch ohne Geschichte sein. Sich selbst vorausgegangen.
Aber ich werde Liebe sehen in ihrem letzten Blick. Und ihr Blick meint mich.
Zuletzt geändert von Insa am 09.04.2014, 17:42, insgesamt 6-mal geändert.

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Beitragvon Ylvi » 15.11.2013, 22:29

Viel Spaß am See, Insa. Vielleicht kann ich die Stellen bis dahin herausdröseln, ich überlege noch. :)
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Beitragvon Ylvi » 16.11.2013, 08:52

Hallo Insa,

gut, dass du den Text nochmal hochgeholt hast. Kannst du deine 1. Version im Kopf dazustellen, damit man vergleichen kann und die Entwicklung nachvollziehen? Soweit ich auf die Schnelle gesehen habe, ist der Absatz mit der Freundin raus und du hast das Ende umgeschrieben. Ich hoffe, ich komme morgen dazu dir etwas dazu zu schreiben.

Liebe Grüße
Flora
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Beitragvon Insa » 16.11.2013, 12:35

Ja - genau das ist passiert! Ich setze die erste Version wieder drüber. Es hat keine Eile - ich finde es ohnehin unglaublich, dass hier eine so ernsthafte Beschäftigung mit doch recht voluminösen Texten stattfindet ... Also bitte lass Dir alle Zeit - ich werde mich immer freuen!

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Beitragvon Ylvi » 17.11.2013, 14:13

Hallo Insa,

so, jetzt bin ich den Text nochmal ganz durchgegangen und habe dir die Stellen markiert, an denen ich ein bisschen zucke. Das heißt natürlich nicht, dass du sie alle rausnehmen, oder umändern sollst, es soll nur aufzeigen ... vielleicht findest du beim einen oder anderen noch einen Ansatz weiter zu feilen, oder zu kürzen. Den Absatz mit der Freundin würde ich z.B. nicht ganz rausnehmen, aber etwas reduzieren, wirklich bei der Begegnung bleiben. Er ist ja auch der Anknüpfungspunkt für die Reisegedanken.

Den Satz "Ich bin ein Idiot." würde ich nochmal überdenken. Das scheint mir irgendwie nicht zur älteren Generation zu passen. Ich bin ein Schussellinchen. Ich bin ein Tollpatsch. Ich bin ein Dussel. Wie blöd. ... ?

Die weißen Zähne würde ich glaube ich nicht auch noch beim Politiker reinbringen, das überzieht das Thema für mich ein wenig.

Betrete ich das Wohnzimmer meiner Großmutter, so begrüßt sie mich mit strahlenden Augen und zahnlosem Lächeln. Sie winkt mich mit gekrümmtem Zeigefinger herbei und flüstert mir eine Weisheit ins Ohr. Einen geistvollen Ausspruch, über den ich noch lange nachdenke und den ich nach ihrem Tod immer und immer wieder zitieren werde. Um die Geistesgegenwärtigkeit meiner Großmutter zu rühmen. Um die pure Essenz, die sich aus ihrem langen Leben ergab, weiterzugeben.
Ein Klischee. Unser Bild vom Alter. Unser Bild vom Alter aus sicherer Entfernung, versteht sich.

Tatsächlich erkennt mich meine Großmutter schon lang nicht mehr, gibt anstatt Weisheiten die meiste Zeit zusammenhanglosen Schwachsinn von sich und hat vor allem noch immer ihre eigenen Zähne. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ihren Geist los. Und die Sache mit den Zähnen ist dabei die größte Tragödie. Denn meine Großmutter war familienintern berühmt und berüchtigt dafür, dass sie den allergrößten Wert auf die Pflege ihrer Zähne legte. Nichts erschien ihr schlimmer, ja demütigender, als ein „Kukident-Weib“ zu werden, wie sie es nannte. „Ich sterbe mit eigenen Zähnen“, verkündete sie zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Und waren wir Enkel bei ihr zu Besuch, dann wurden drei Mal am Tag ausgiebig die Zähne geputzt. Natürlich hassten wir das, tolerierten es aber, denn immerhin war meine Großmutter ungeschlagener Champion im Marathon-Vorlesen und das entschädigte für einiges.
Überhaupt war das Lesen die zweite Leidenschaft meiner Großmutter, gleich nach dem Zähneputzen. Sie schickte ganze Tage lang ihren Geist durch die Höhen und Tiefen der Figuren in zahllosen Geschichten, litt mit ihnen, freute sich mit ihnen, analysierte, verstand.
Heute starrt meine Großmutter nur verständnislos in die Seiten der Bücher, die man ihr hinlegt, in der Hoffnung, sie könnten auf irgendeine magische Weise ihren Geist wieder in Gang bringen.
Heute sind ihr größtes Problem die eigenen Zähne.
Fremde Damen putzen sie ihr, um Entzündungen zu vermeiden und das behagt ihr gar nicht. „Oh hätte ich doch diese verdammten Stumpen nicht“ stöhnt sie und windet sich und versteht nicht, warum das alles geschieht. Sie gäbe vermutlich ein Königreich für die dritten Zähne, nur ist es jetzt zu spät dafür. Meine Großmutter ist nun dazu verdammt, mit den eigenen Zähnen zu sterben.

Ich sitze mit der alten Dame vor dem Fernseher. Dort berichtet man uns von den Entwicklungen im World Wide Web, von den Auswirkungen der Globalisierung und der unausweichlichen Umstellung aufs E-Book. Ich bin ganz dabei, es rattert in meinem Geiste, ich siebe die relevanten Informationen aus, erschrecke mich über dies, bin erleichtert über das und forme mir aus all dem meine wahrscheinlichste Zukunft. Ich schaue hinüber zu meiner Großmutter. Sie sitzt da in grenzenlosem Erstaunen, wie ein Säugling, der das erste Mal Bauklötze sieht. Ihr Becher mit warmer Schokolade ist in ihrer Hand in eine gefährliche Schieflage geraten und jetzt kippt er aus und die Schokolade ergießt sich über ihren gelben Morgenrock. Sie schaut die Sauerei und dann mich an. „Ich bin ein Idiot“ sagt sie … und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. Ich säubere sie und schalte dann um in eine Talkshow. Ein jungdynamischer Politiker, mit sehr weißen Zähnen, echauffiert sich über die Panikmache zum Thema Altenpflege. „Man soll nicht immer den Teufel an die Wand malen“ sagt er. Unseren Alten gehe es doch gut und immer diese Behauptung wir würden sie wegsperren, „ich sehe sie doch überall“, sagt er. Und das klingt geradezu empört. So, als sei es eine Zumutung mit der Frage konfrontiert zu werden, wes Geistes Kind wir sind, angesichts des langsamen Verfalls geistiger Leistungskraft, den fast jeder von uns eines Tages erleben dürfte. Meine Großmutter verfällt einem Heiterkeitsausbruch. „So ein rotes Gesicht! Was der für ein rotes Gesicht hat!“ Sie könnte sich ausschütten. Der Jungdynamische redet immer weiter. Ihn regt das wirklich auf, mit der Panikmache. Ich hingegen frage mich jeden Tag, was die Frauen, die sich um die körperlichen Bedürfnisse meiner geistlosen Großmutter kümmern, eigentlich motiviert, ihr Bestes zu geben. Denn ich hoffe und glaube, dass sie das tun. Aber das System, nach dem wir alle leben, in dem Unzufriedenheit eine auswirkungsreiche geistige Maßeinheit ist und Zufriedenheit ein Motor, der etwas bewegt, greift hier ja nicht. Wer würde merken, ob meine Großmutter Verstopfung hat und ihr jeder Klogang zur schmerzhaften Tortur wird? Sie selbst hätte es ja nach jedem Mal vergessen. Und die Pflegerin, die sich Mühe damit macht, etwas zu unternehmen, die ein Mittel besorgt, es anwendet und mit all den unappetitlichen Konsequenzen umgeht: von wem wird sie gelobt? Von meiner Großmutter nicht, soviel steht fest, denn die weiß ja nicht, wie ihr geschieht. Wie ungeheuer einfach da nicht „sein Bestes“ zu tun, es sich lieber leicht zu machen. Woher wissen wir also, ob hier jemand unnötig den Teufel an die Wand malt, oder ob der Teufel längst höchstpersönlich mit unseren Alten auf dem Klo hockt?
Während ich da neben meiner Großmutter auf dem Sofa sitze, frage ich mich, ob dieser jungdynamische Politiker mit den weißen Zähnen für sich wohl irgendeinen Deal herausgeschlagen hat, der ihn davor bewahren wird, je „ein Alter“ zu werden? Und wenn ja, mit wem?
Bevor ich gehe, schalte ich auf den Kinderkanal um, meine Großmutter entspannt sich und schaut selig lächelnd zu, wie eine Zeichentrickfigur sich den vielfältigen Herausforderungen ihres Daseins widmet.

Ich sitze im Cafe mit einer Freundin, die gerade ihr drittes Kind bekommen hat und nun die Wiederaufnahme ihrer Arbeit vorbereitet. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, vor allem aber über die Welt. Gemeinsam sorgen wir uns um das Bildungssystem und fragen uns, wie wichtig es sei, sich immer wieder Zeit zum Reisen zu nehmen. Rauszukommen und andere Dinge zu sehen, sich inspirieren zu lassen, den „Geist zu lüften“. Wir fragen uns, ob wir gerüstet sind, um unseren Kindern den richtigen Umgang mit dieser komplexen Welt beizubringen. Wir fragen uns, ob wir eigentlich wissen, was wichtig ist. „Man müsste viel mehr im Jetzt sein, im
Augenblick“ sagt meine Freundin. „Ständig hasten wir mit Volldampf in die Zukunft, die doch nie so wird, wie wir sie uns vorgestellt haben.“ „Oder wir ärgern uns über Vergangenes, trauern ihm nach“ ergänze ich. Wir überlegen, ob wir einen Meditationskurs belegen sollten, um zu lernen im Jetzt zu sein.
Aber dann müssen wir aufbrechen – Kinder müssen zu Tanzschulen gebracht, Einkäufe erledigt, Abendeinladungen vorbereitet werden. Und so versinken wir wieder in Vergangenem und Zukünftigen, in Wünschen, Sorgen und Mühen, die in allererster Linie unser immer reger Geist erschafft.
Den Menschen, der sich vergessen hat, betrifft das alles nicht mehr, und es scheint, dass ihm das nicht grundsätzlich Angst macht. Nicht solange seine Umgebung davon absieht panisch zu reagieren.


Der Begriff „Demenz“ kommt von „Dementia“ und das heißt soviel wie „ohne Geist“. Geister machen einem Angst, das weiß jedes Kind. Meine Großmutter hat – seit sie ohne Geist ist - viel weniger Angst, als früher, denn sie macht sich ja um nichts mehr Sorgen. Wenn etwas Unangenehmes passiert, entsteht keine bleibende Furcht daraus. Das Zähne putzen ist zwar immer aufs Neue furchtbar. Aber zwischen Zähne putzen und Zähne putzen ist kein Gedanke, der Zeit erschaffen und Teil dieses riesenhaften Furchtsamkeits-Netzwerkes werden könnte, in dem „wir Anderen“ uns nahezu pausenlos aufhalten. Außer dem, was gerade im Moment geschieht, gibt es für meine Großmutter keine Bewertungen, keine Hoffnungen, kein Bereuen und keine Sehnsüchte. Wovor sollte sich ein geistloser Mensch denn fürchten, außer vor der Furcht der anderen? Es sind ja „wir Anderen“, die wir mit den Geistern der Vergangenheit und Zukunft leben – ja aus ihnen bestehen - denen Mir macht diese Geistlosigkeit Angst macht. Für uns michist sie in der Tat eine immense Provokation. Und wir müssen sie deshalb auf jeden Fall zur Krankheit deklarieren. Denn sonst ließe sich die Tatsache, dass eine so radikale Auflösung des Egos und seines größten Instruments – dem Verstand – bei lebendigem Leibe möglich, sogar wahrscheinlich ist, nur auf eine einzige Art deuten:
Alles, was wir mehrheitlich tun, um ein sinnvolles Leben zu führen, ist vollkommen vergeblich.
Natürlich wussten wir das irgendwie längst. Aber mit der „Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens“ als rhetorischer Figur oder literarischem Motiv lässt es sich nonchalant leben. In der Verkörperung durch eine uns nahestehende Person jedoch, wird sie zu einer physischen Bedrohung, ja, einem kriegerischen Angriff auf unsere eigene Identität.

Meine Großmutter straft nämlich genau genommen meine Individualität Lügen.
Nur die einfache Tatsache ihres Zustandes zieht meine unablässigen Bemühungen, eine Spur im Lauf der Zeit zu ziehen, um eine eigene Geschichte zu kämpfen, über mich hinaus zu wirken, ins Lächerliche. Meine Großmutter führt mich quasi ad absurdum. Und darüber bin ich mindestens beleidigt.

Ich bereite eine größere Reise vor. Jede Reise, die ich mache – sei sie beruflich oder privat – plane ich sorgfältig, auf dass sie größtmöglichen Nutzen bringe. Ich versuche soviel zu sehen und zu erleben wie nur geht. Alles wird gesammelt und meinem geistigen Archiv einverleibt: Eindrücke, Souvenirs, Adressen. Dies alles macht mich zu Jemandem. Während ich also an meinem Schreibtisch Reiseführer studiere, im Internet nach Geheimtipps suche und mir vorstelle, was ich alles Tolles erleben werde, fällt mir ein, dass meine Großmutter, die Weitgereiste, sich heute nicht mal erinnert, dass sie 10 Jahre ihres Lebens in Asien verbracht hat. Die Freude weicht einer unbestimmten Wut. Seit ich denken kann, habe ich mich mit der ungewöhnlichen Geschichte meiner Großmutter geschmückt, sie wie ein unverwechselbares Accessoire durch die Zeit getragen. Auf diese Weise reichte ihre Identität bis zu mir, vermochte sogar noch mich, die Enkelin, interessanter zu machen. Schienen doch meine eigenen Lebensentscheidungen so beliebig dagegen. In Zeiten, in denen nichts sein muss und alles geht.
Man wird also verstehen,
dass ich es als Affront erlebe, dass all das lautlos verschwinden konnte aus dem Geist meiner Großmutter, so dass kein Unterschied mehr ist, zwischen ihr und jeder anderen, die heute vor dem Fernseher ihre Schokolade über den Morgenrock ausschüttet. Meine Großmutter hat über ihren Geist auch ihre Geschichte verloren. Macht die Tatsache, dass ein ganzes Leben vergessbar ist, es auch automatisch beliebig? Bedeutet das, all die Mühe, die ich auf die Vorbereitung meiner Reise verwende ist wiederum … vergeblich? Weil in Wahrheit nichts über den Augenblick hinausweist? Das zu akzeptieren wäre ein echt harter Brocken.
Dabei birgt ja die Tatsache, dass meine Großmutter alles vergisst, genau betrachtet, eine Menge Vorteile. Ich muss mir beispielsweise niemals ein schlechtes Gewissen machen, wenn ich einen Besuch bei ihr versäumt habe. Denn sie zählt meine Besuche nicht und erinnert sich nicht an sie. So könnte ich mich entschließen, nur zu ihr zu gehen, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mich bei ihr auszuruhen. Denn naturgemäß lässt sich bei einem Wesen, das ohne Sehnsucht und ohne Bedauern ist, gut Ruhe finden. Wie bei einem alten Baum. (Von dem ich übrigens nicht behaupten wollte, dass er ohne Geist sei). Gehe ich allerdings wider besseres Wissen zu meiner Großmutter, obwohl mir gar nicht danach ist und werde ich entsprechend ungeduldig, so ist auch das ohne Konsequenz. Sie schaut mich vielleicht erschrocken an, weil meine Energie ihre Geistlosigkeit stört und ich streiche ihr übers Haar, atme tief durch und beruhige mich. Dann fragt sie mich freundlich wer ich bin, ich sage „Niemand“ und ich gehe.

Geschieht nicht meiner Großmutter eigentlich genau das, was in den spirituellen Lehren aller Zeiten angestrebt wird? Es scheint ihr nur das Bewusstsein über den Prozess zu fehlen. Aber ist nicht im letzten Sinne auch die Neudefinition von Bewusstsein ein erstrebenswerter Teil spiritueller Erkenntnis? Dies alles ist umso merkwürdiger, als meine Großmutter sich nie einen Gott erlaubt hat.
Ist also die Demenz das Nirwana der Ungläubigen? Eine Hilfe der Schöpfung, um denen endgültiges Loslassen zu ermöglichen, die im Leben dafür keine Praxis gefunden haben?
Es würde mich ernsthaft interessieren, inwiefern die Demenz vor allem Menschen betrifft, die nie eine friedvolle Beziehung zum Tod gefunden, zugelassen, gesucht, gekannt haben. Was übrigens auch zutiefst religiöse Menschen nicht ausschließt. Was überhaupt … eigentlich niemanden ausschließt, den ich kenne.

Im Altenheim treffe ich auf dem Flur eine zierliche alte Dame. Ich kann davon ausgehen, dass auch sie dement ist, alle hier sind es. Sie nimmt mich beim Arm, ihr Blick flattert unruhig. „Der Dachboden“ flüstert sie eindringlich. Ich schaue sie an, ohne etwas zu sagen, aber so, dass sie sich ermuntert fühlt, weiterzusprechen. „Wir müssen ihn ganz dringend endlich ausräumen!“ Ich weiß, dass diese Frau nicht mehr in meiner Realität zuhause ist und dass ich sie jetzt freundlich beruhigen sollte. Aber mit einem Schlag erscheint mir ihr Ansinnen von einer so bezwingenden Logik, es scheint mir jetzt und hier wirklich so wichtig und notwendig, endlich den verdammten Dachboden auszuräumen, dass ich sie an der Hand nehme und „Das machen wir!“ sage. Wir steuern Hand in Hand auf das Treppenhaus des Altenheimes zu. Keine Ahnung, was geschehen wird, wenn wir oben angekommen sind – hat dieses Haus überhaupt einen zugänglichen Dachboden? Auf halber Treppe bleibt die alte Dame stehen. Sie klammert sich an meinen Arm, Tränen stehen in ihren Augen: „Ich habe solche Angst vor dem Leben!“ sagt sie so laut und deutlich, dass es im gesamten Treppenhaus widerhallt. Ich stehe fassungslos. Diese alte Frau erwartet den Tod, sie ist wahrhaftig an der Endstation. Jedem würde einleuchten, wenn sie Angst vor dem Sterben hätte. Aber dies? Wir schauen uns einen Moment lang unbewegt in die Augen: in ihren steht die Angst vor dem Leben, in meinen die Angst vor ihr. Dann verstehe ich: Sie hat zu viele Dinge auf dem Dachboden, ihr Geist ist noch zu voll. In anderen Worten und radikal ausgedrückt: Sie ist noch nicht dement genug um in Frieden zu sterben.
Sie ist noch nicht geistlos genug, um ihren Dachboden endlich den anderen zu überlassen, denen, die in ihrer Gier noch in jedem Haufen Kram etwas Begehrenswertes finden. In diesem Augenblick erscheint mir die Geistlosigkeit als ein wirklich gnadenvoller Zustand, etwas zutiefst Erstrebenswertes. Ich möchte dieser alten Frau, die mich immer noch am Arm hält, das gerne sagen. Ich hole Luft, um diese bedeutsame Erkenntnis mit ihr zu teilen. Doch sie kommt mir zuvor. „Wer zum Teufel sind Sie?“ fragt sie mich zornig. „Wollen Sie mich entführen?“ Sie lässt mich los und macht sich an den Abstieg. „Nicht mit mir“ höre ich sie noch murmeln. „Nirgends ist man vor denen sicher.“

Ich sitze in der U-Bahn auf dem Weg von einem Termin zum nächsten. Ich bin dabei jede Menge Dinge anzuzetteln, die wiederum andere Menschen bewegen sollen, ihrerseits jede Menge Dinge anzuzetteln. All diese Dinge zusammen sollen möglichst viel Zukunft schaffen. Sie sollen Geld in Bewegung bringen, Ideen vernetzen, Reisen ermöglichen. Die meisten Leute, die hier mit mir in der U-Bahn sitzen tun dasselbe. Irgendwo sitzt auch immer einer, der sich ausgeklinkt hat und mit trübem Blick ins Nichts starrt. Meine Großmutter, die sich ihr ganzes langes Leben lang bemüht hat, Dinge anzuzetteln, die wiederum Menschen angeregt haben, ihrerseits Dinge anzuzetteln, sitzt jetzt auch irgendwo und starrt mit trübem Blick ins Nichts.
Von meinen eigenen Gedanken plötzlich erschöpft, schließe ich die Augen. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern entsteht eine Vision:


Lange Menschen-Schlangen haben sich strahlenförmig vor einem Tor gebildet. Vielleicht ist es auch kein Tor, sondern nur ein einfacher Strich auf dem Boden. Ich stehe noch zu weit entfernt, um das zu sehen. Ich bin auch nicht sonderlich scharf darauf hinzukommen. Eine Einstellung, die so ziemlich alle mit mir teilen, die auf derselben Höhe stehen wie ich. Aber irgendwie scheint es keine Möglichkeit zu geben, sich aus der Schlange zu entfernen. Egal wohin man sich stellt, unversehens steht man wieder an. Die meisten von uns wissen, dass das Tor – oder der Strich – oder was es auch sein mag, eine Grenze markiert. Eine Grenze, die Vergessen ist … endgültiges Scheitern oder Erlösung, Eingeständnis der Vergeblichkeit oder allumfassendes Verständnis des letzten Sinns. Und während wir anstehen, versuchen wir uns mit möglichst viel zu beladen, wir schrecken auch nicht davor zurück anderer Leute Dachböden auszuräumen – weil wir hoffen, wenigstens einen klitzekleinen Teil von alldem mit hinübernehmen zu können. Während wir langsam vorrücken, versuchen wir außerdem denen, die wir mit unserer Stimme erreichen können, soviel wie möglich von uns zu erzählen. Und die anderen versuchen uns mindestens genauso viel von sich zu erzählen. Es ist ein Wahnsinnspalaver. Wir tauschen auch Sachen, mit denen wir uns beladen haben aus. Wenn wir zum Beispiel glauben, eine Sache würde besser zu unseren Geschichten passen und entsprechend leichter zu tragen sein. Weil uns nicht entgeht, dass die, die sich der Grenze nähern immer mehr von ihrer Ladung verlieren.

Woher ich es weiß, weiß ich nicht. Aber ich weiß: ich werde an dieser Grenze stehen, sei es nun ein Tor, oder nur ein Strich auf dem Boden. Ich werde eine Stimme hören, die vermutlich aus meinem tiefsten Innern kommt und - je nachdem, wer ich bis hierhin war - freundlich oder ungeduldig rufen wird:
DER NÄCHSTE BITTE?!
Es scheint mir sinnlos, Kraft und Energie auf den Versuch zu verschwenden der Schlange zu entkommen, indem man zum Beispiel Haken schlägt, Richtungen wechselt oder sich einfach versteckt. Sinn würde es höchstens machen, in der Blüte der eigenen geistigen Kraft eine „Kultur des Loslassens“ zu entwickeln und zu teilen. Unwichtiges gehen zu lassen, sich beizeiten auf Wesentliches zu besinnen und vor allem: Dieses Thema nicht allein den Esoterikern und den Geistlosen zu überlassen.
Hier würde ich gerne eine Vision sehen, die mir nicht alles erklärt, sondern die wirklich sichtbar macht und weniger "man" und "wir" und dafür mehr "ich". Kleine Beispiele, konkrete Beobachtungen, mit was beladen sich die Menschen, was erzählt jemand, was wird getauscht ... Gerade der Satz mit der Blüte der geistigen Kraft ist mir persönlich zu viel. Aber du siehst ja, dass er anderen besonders gefällt.

Auf ihrem Totenbett wird meine Großmutter ein Mensch ohne Geschichte sein. Sich selbst vorausgegangen.
Aber ich werde Liebe sehen in ihrem letzten Blick, und ihr Blick meint mich.
Das neue Ende gefällt mir sehr gut! Ich würde nur vor das "und" einen Punkt setzen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Insa
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Beitragvon Insa » 17.11.2013, 22:37

Ich danke Dir. Werde alle Anregungen "bearbeiten" und freue mich!

EMO

Beitragvon EMO » 18.11.2013, 18:08

Hej Insa,

ich habe gerade deine Version 2 gelesen und habe sie einfach auf mich einwirken lassen.
Und die Wirkung, als Erzählung, ist so kraftvoll, dass mir etwaige Lust am Text herumzumängeln einfach vergangen ist.
Das haben dazu besser Geeignete bereits getan.
Danke für deine Erzählung!

Mvh, EMO

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Beitragvon Insa » 18.11.2013, 18:13

EMO: Wie schön!

Insa
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Beitragvon Insa » 09.04.2014, 17:40

Ich habe den Text neu eingestellt - und fast alle Vorschläge von Flora berücksichtigt. Was den Text auf jeden Fall positiv verdichtet hat (wie ich ich finde:)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 10.04.2014, 07:56

Hallo Insa,

klasse, dass du daran weitergearbeitet hast und es nochmal zeigst. Und es freut mich natürlich sehr, dass meine Anmerkungen dabei geholfen haben. Schön geworden! Das merke ich mir gleich für die nächste Monatswahl vor.
"Trottel" ist gut. :)

Liebe Grüße
Flora
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Beitragvon Insa » 10.04.2014, 12:15

Danke Flora!

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nera
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Beitragvon nera » 10.04.2014, 14:10

jetzt erst gelesen, klasse!

Ada
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Beitragvon Ada » 12.04.2014, 18:05

Hallo Insa,

danke für diesen einfühlsamen Text. Ich habe häufig Kontakt zu Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Vieles, von dem, was Du beschreibst, kann ich nachvollziehen. Dennoch wirkt Deine Geschichte sehr persönlich, sehr individuell. Ich lese sie als Anregung über Erinnerungen und ihren Wert und die Veränderung bei ihrem Verlust nachzudenken.

Lieben Gruß
Sabine

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.04.2014, 00:39

Hallo Insa,

durch die Änderungen hat dein Text noch einmal sehr gewonnen. Fein!

Saludos
Gabriella

Insa
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Beitragvon Insa » 14.04.2014, 14:04

Danke Sabine: Fürs Lesen und "Verstehen"
Danke Gabriella: Fürs nochmalige Lesen!
Und vor allem: Danke an den BLAUEN SALON für diese Gelegenheit, so unterstützt, an Texten zu arbeiten.


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