Ich bin allein

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
DasM

Beitragvon DasM » 12.09.2006, 15:24

Ich bin allein



Versuche
deine Tränen
zu verstehen.
Wie lange du
schon weinst
habe ich vergessen.

Bleib noch,
schreit mir dein Herz
entgegen.
Bitte bleib noch.

Du siehst mich an
und
ich löse deine Hand
von der meinen.
Erkläre dir mein Leben
und trete zwei Schritte
zurück.

Ich liebe dich,
rufst du.
Doch die Nacht
tötet die Verzweiflung
in deiner Stimme.

Ich bin allein.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.09.2006, 21:35

Hallo Buchstabe M.,
willkommen erstmal :-)

Ich versuche mal meine Eindrücke durch eine andere Setzung zu verdeutlichen, ich nehme einfach die Zeilenumbrüche raus:


Ich bin allein. Versuche deine Tränen zu verstehen. Wie lange du schon weinst habe ich vergessen.
Bleib noch, schreit mir dein Herz entgegen. Bitte bleib noch. Du siehst mich an
und ich löse deine Hand von der meinen. Erkläre dir mein Leben und trete zwei Schritte
zurück. Ich liebe dich, rufst du. Doch die Nacht tötet die Verzweiflung in deiner Stimme. Ich bin allein.


Natürlich soll das jetzt nicht bedeuten, dass ich damit sagen will, dass dies hier kein Gedicht ist, darum gehts auch gar nicht. Es gibt aber Gedichte, mit denen kann man das auch machen und trotzdem wirken sie extrem verdichtet. Hier geht mir das nicht so. Alles ist mir noch zu nah am Gedanken bei gleichzeitiger niedriger Verdichtung. Zudem haben viele gängige Phrasen in den Text Einzug erhalten, die zusätzlich seine Wirkung mindern:

das schreiende Herz, die Hand lösen, das Leben erklären, ich liebe dich, und die dann hereinbrechende, vernichtende nacht - alles wie es immer erzählt wird, sodass ich den Schmerz nicht lesen kann. Denn die gesetzte Konklusion "ich bin allein" ist durchaus eine, deren Thematik und deren Herleitung ich im text als serh interessant finde. Warum ist jemand mit jemand anderem allein?

Zudem scheint mir "moralisch" das Ich egozentrischer als es vorgibt. Es beginnt zwar mit der Sorge um da Du, den Blick auf das Du, doch in Wahrheit ist es auch schon da in meinen Augen bei sich. Das ganze kann man sicher auch auch bewusste Swetzung lesen (das Ich ist dann ein Ich, was nicht lieben kann, darum die Tränen des Du) - aber auch dann wäre es mir noch um eine Wendung noch eine Stufe höher zu egozentrisch - denn warum wird der Texte dann geschrieben? Aus Selbstmitleid?

Hm - ich kann aus den genannten Gründen nicht in das Thema des Textes eintauchen.

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

königindernacht

Beitragvon königindernacht » 12.09.2006, 22:27

Liebes M,

ich verstehe Lisas Kritik und ich verstehe dich, neige ich doch ab und zu auch noch dazu, bestimmte gängige Formulierungen zu nutzen. Manche schreiben dann hier liebevoll von einer Neigung zum Kitsch.
Ich lese deinen Text laut, so, wie du ihn gesetzt hast und er klingt wirklich gut.
Die Lösung, um es besonders zu machen, liegt sicherlich in der Idee einer Verdichtung.

Nicht desto trotz gefällt mir dein Text, denn ich kann diese Empfindungen nachvollziehen,

herzlichst, KÖ

aram
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Beitragvon aram » 12.09.2006, 22:59

hallo m,

auch für mich ist dieser text eher prosa - das muss jedoch nicht unbedingt mangel bedeuten.

hier wirkt es allerdings so - wenn der text so gemeint ist, würde ich ihn erst mal einfach in die entsprechende rubrik (erzählgedichte - oder lyrische prosa, je nach setzung) stellen.

(deshalb gibt es ja gattungsbegriffe - nicht zum 'schubladisieren', sondern weil man als leser texten unterschiedlicher gattung gar nicht gerecht wird, wenn man sie einheitlich 'anliest' - eine art 'aktives hören' ermöglicht erst resonanz. {= kühne a.sche these, vermutlich etwas romantisch verklärt})

vom thema und inhalt her spricht mich der text an. ich finde die realität des lyr.ich gut beschrieben und sehe über die art der beschreibung keine 'mangelnde distanz' des autors. die informationen werden mir textlich so vermittelt, dass die diskrepanz offensichtlich wird, ohne 'aufgedrückt'zu werden. das finde ich gut, mir gefällt die lakonische art.

Lisa hat geschrieben:(das Ich ist dann ein Ich, was nicht lieben kann, darum die Tränen des Du) - aber auch dann wäre es mir noch um eine Wendung noch eine Stufe höher zu egozentrisch - denn warum wird der Texte dann geschrieben? Aus Selbstmitleid?


lisa, setzt du da nicht lyr.ich und autor gleich? oder kritisierst du, dass ein egozentrisches lyr.ich dargestellt wird?
findest du anhaltspunkte am text, dass der autor 'zu wenig distanz zum lyr. ich' hat, d.h. findest du im text irgendetwas verschwommen /vermischt, unklar ausgearbeitet?

mit besten grüßen, aram

Louisa

Beitragvon Louisa » 12.09.2006, 23:18

Hallo M (vielleicht Manfred?),

also da ich Deine Texte heute ja eigentlich ganz gut behandelt habe, kann ich bei diesem ja etwas ruppiger werden:

Der Anfang ist ganz in Ordnung, obwohl das auch jemand in einer Fernsehserie zu seiner liebsten Blondine sagen könnte (beim Abschied)...aber an sich ist es ja ganz schön!

-Die zweite Strophe gefällt mir gar nicht. Das hört sich sehr theatralisch an. "Dein Herz schreit mir entgegen: BLEIB DOCH!" Also wenn es schon schreit, dann das hier: "Poch. Poch. Poch."

Du siehst mich an
und
ich löse deine Hand
von der meinen.


-das finde ich wieder gut! Das kann man sich vorstellen, das ist körperlich, das ist Abschied.

Aber dann erklärt er/sie sein ganzes Leben? Das ist mir viel zu allgemein und verschwommen. Dieses "zwei Schritte zurück gehen" ist ein bisschen abschätzig, finde ich. Als ob eine Bedrohung vom Gegenüber ausgeht... Aber es ist nicht sooo schlimm-

Dann ruft nicht mehr das Herz, sondern "Du"... auch das finde ich wieder sehr fernsehserien-mäßig... Wer ruft denn in solchen Augenblicken wirklich: "Oh bleib doch, ich liebe Dich!" ?

-Also ich würde da ganz andere Sachen von mir geben und auch nicht "schreien"...schon gar nicht mein Herz!

Doch die Nacht
tötet die Verzweiflung
in deiner Stimme.


-das finde ich wieder sehr gut! Ich mag es, wenn die Nacht jemand umbringt (auch wenn es hier nur die Verzweiflung ist...umso besser!)

-Der letzte Satz wäre mir auch so klar gewesen... Aber es ist doch "seine" Schuld!? Müsste es nicht eigentlich mitfühlender heißen: "Sie ist allein" ? (bzw. "Er ist allein")

Auch hier bin ich wieder der Meinung man könnte viel mehr aus der Situation heraus holen!

Viel Erfolg dabei und liebe Grüße,
l.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.09.2006, 12:48

Lieber aram, da ich das ich im Kontrast zu einem Du gesetzt habe, habe ich darauf verzichtet, lyr. davor zu schreiben. Natürlich meine ich in allen Fällen das lyr. Ich. Die Wendung von mir:
denn warum wird der Texte dann geschrieben? Aus Selbstmitleid?
vestärkt dabei sicher noch den Eindruck, da gefährlich ungenau: Ich meine aber, warum reizt es den Autor ein Gedicht zu schreiben, in der ein lyr. ich diese Perspektive einnimmt. Besser so ,aram, hast recht :blume0030:. Kann ja keiner wissen.

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

DasM

Beitragvon DasM » 13.09.2006, 15:58

hallo,

erstmal muss ich wieder ein riesiges danke loswerden, wie ausführlich auf den text eingegangen worden ist.

im gleichen atemzug muss ich aber auch erwähnen, das ich hier denke, das die kritik den text ein wenig seziert.
er ist natürlich prosaisch, aber ihn umzustellen und in einer "geschlossenen Form" darzustellen, ist eigentlich nur wie malen.
natürlich bleibt ein text immer nur worte. aber das was der autor aus diesen worten macht, das ist erst das gedicht. darüber gibt es ja tausende grundsatzdiskussionen, die aber nie weiterführen.

man nehme einen maler, der eine rose malt aus rot und weiß. es bleibt immer rot und weiß,
wenn dann ein kritiker sagt es sei rot und weiß. hat er recht.
versteht ihr was ich damit meine?

zum text:
ihr habt ebenso recht, das der text sehr profan ist. das ist mir leider nicht anders gelungen. ersollte eine gewisse schwere bekommen, aber das scheine ich nicht hinbekommen zu haben......sorry....versuche ich nochmal.



@KÖ: wenn das bild real ist, freue ich mich dich mal gesehen zu haben, wir kennen uns aus anderen foren.( verrat mich nicht wenn du es weißt )


liebe grüß
M
Zuletzt geändert von DasM am 13.09.2006, 17:57, insgesamt 1-mal geändert.

Gast

Beitragvon Gast » 13.09.2006, 17:36

Hallo DasM,

eine detaillierte Kritik seziert immer...
selbst eine positive ;-)

Was ist eine "rode" bitte

LGG

Louisa

Beitragvon Louisa » 13.09.2006, 17:44

Hallo M!

im gleichen atemzug muss ich aber auch erwähnen, das ich hier denke, das die kritik den text ein wenig seziert.


-Also ich denke das macht eine gute Kritik erst aus...

Wenn wir ein unbegründetes Pauschalurteil gefällt hätten, könntest Du ja nichts damir anfangen, aber ich dneke so lässt sich noch an diesem Text und dem Thema arbeiten!

Ist eine Rode nicht einerseits eine Blume, aber auch ein Vogel?

Grüßlein, l.

DasM

Beitragvon DasM » 14.09.2006, 16:40

hallo.

1. entschuldigung wegen der rode, sollte natürlich rose heissen.

2. die intetion des textes ist nicht selbstmitleid. der text handelt von der trennung von seiner langjährigen partnerin. das gefühl der zerissenheit ist längst gewichen und auch das "bemitleiden" des anderen ist nicht mehr mittelpunkt der empfondungen der beziehung. letztendlich ist alles geklärt und der letzte sat deutet nur noch auf die bestandskraft des erwarteten hin


michael

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 14.09.2006, 20:28

Lieber DasM,

ich möchte an dieser Stelle (als Freund moderner Lyrik und verfechter prosaischer Gedichte, die man nicht unbedingt als solche bezeichnen muss) mal eine Lanze für Dein Gedicht brechen.

Natürlich ist die typographische Form ein ernstzunehmender Bestandteil eines Gedichts. Wenn Du also eine solche Form gewählt hast, dann sicher aus Gründen, die Du vorher reflektiert hast.

An Deiner Seite befindet sich übrigens ein kluger Literaturwissenschaftler namens Günter Waldmann, der eine großartige "Einführung in die produktionsorientierte Literaturwissenschaft" geschrieben hat. (Ich entschuldige mich hiermit förmlich für den blöden Titel.)

Ich würde hier nicht schreiben, wenn ich dieses Buch nicht einmal (rein dienstlich) gelesen hätte.

Eine der ersten Übungen besteht in der graphischen Umstellung eines Prosatextes. Es geht dabei unter anderem um das "Enjambement" (hoffentlich richtig geschrieben). Deshalb nannte ich mein allererstes Gedicht für den Wettbewerb des Forums: Eine kleine Übung im Enjambement.

Waldmann macht in dieser Einführung genau das, liebe Lisa, was Du hier mit dasMs Gedicht gemacht hast. Allerdings bei einem Gedicht von (ich glaube) Marie-Luise Kaschnitz (Buch ist leider in der Uni-Bib. und nicht hier).

Daher halte ich den Einwand, man könne das Gedicht auch in einen Prosastück umstellen, nicht für überzeugend.

Natürlich kann das immer noch bedeuten, dass es Dich, Lisa, als Leserin nicht anspricht.

Ein weiterer Punkt hat mich an diesem Beitrag interessiert: Lisa, Du merkst an, dass das lyrische Ich hier möglicherweise in Selbstmitleid ertrinkt. Bei meinen Gedichten stimmt das oft. Hier erkenne ich aber in der letzten Zeile eine ganz andere Bedeutung.
Alleinsein ist nicht gleich Einsamsein. Es kann auch als befreiender Zustand empfunden werden.

Das lyrische Ich ist gleichsam erleichtert, dass die Sache vom Tisch ist. Deshalb gefällt mir das Bild von der Hand, die aus dem Griff der anderen gelöst wird, sehr gut.

Liebe Lisa, verzeih mir bitte, wenn meine Lesart der Deinen diametral gegenübersteht, aber ich halte dieses Gedicht für einen gelungenen Auftakt und würde mich über mehr von "dasM" freuen.

Beste Grüße

Paul Ost

P.S.: Liebe Gerda und liebe Louisa,

seid doch nicht so streng wegen des Vertippers (Rode). Viele unserer Texte leiden unter Flüchtigkeitsfehler. Das liegt halt in der Natur der Sache, wenn man online schreibt.

Gast

Beitragvon Gast » 14.09.2006, 20:40

Lieber Paul, ich war nicht streng sondern ratlos - ganz ernsthaft an Rose hatte ich nicht gedacht, vielleicht deshalb weil ich glaubte, diese "rode" wäre etwas, was ich nicht kenne, und bei Rot und Weiß denke ich ohnehin nicht automatisch am Rose.
auch nur so nebenbei...
LGG

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 14.09.2006, 20:51

Hallo M,

dein Text macht mich betroffen. Eine Trennung beschrieben aus der Sicht dessen, der sie will und auch verkraftet. Einmal nicht aus der Sicht dessen, der einen Schmerz zu verarbeiten sucht. Eigentlich wird der ganze Vorgang kühl distanziert beobachtend beschrieben. Es wird deutlich, dass keine Gefühle mehr für das Gegenüber da sind. Die Hand wird gelöst, der Abstand demonstriert, die Gefühle des Gegenübers wahrgenommen, aber nicht mehr beantwortet. Selbst die Verzweiflung, die tötende Nacht, in die das Gegenüber fällt, löst nichts mehr aus. Es gibt kein Zurück. Keine Hilfe, kein Hilfsangebot. Aus. Und dann die letzte Feststellung, ohne jegliche Emotion, ohne jegliche Weinerlichkeit: Ich bin allein.

Warum soll man solches nicht auch zum Thema machen? Herzschmerz schreib ich doch schon *zwinker*

tulpenrot
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

Gast

Beitragvon Gast » 14.09.2006, 21:45

Hallo tulpenrot,

wenn ich deinem Kommentar folge, dann ist aber der letzte Satz nicht konsequent.

Passen würde da dann doch eher: Du bleibst allein... oder ich lass dich allein...

Vielleicht sagt Michael mal was dazu.
LGG


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