Zehn Menschen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 07.04.2007, 15:10

Zehn Menschen

1
Wahrscheinlich ist seine Freundlichkeit nur ein Ablenkungsmanöver. Buntes Geschenkpapier, mit dem er einen leeren Karton umwickelt. Wenn er jemandem beim Umzug hilft, bei einer Party den ganzen Abend am Grill steht, wenn er einem Bekannten Geld leiht oder einen Kollegen zum Flughafen bringt; all diese vorbehaltlose Bereitwilligkeit, bloß um niemanden merken zu lassen, dass er die meiste Zeit nur an sich selbst denkt und keinen Menschen wirklich mag.

2
Seine dritte Frau verließ ihn aus den gleichen Gründen wie die beiden davor. Und weil sie entdeckte, dass er täglich ins Waschbecken des Gästeklos onanierte. Mittlerweile gewohnt verlassen zu werden, nahm er es hin und genoss das Alleinsein. Dann wurde er vierzig und bekam immer mehr Lust junge Mädchen zu vögeln. Also begann er sich gesund zu ernähren, ging jeden zweiten Tag in ein Fitnessstudio, anschließend ins Solarium, spielte Tennis und fuhr Fahrrad. Er rasierte sich eine Glatze, die er jeden Morgen polierte, rasierte Brust-, Achsel- und Schamhaare, rieb sich täglich mit Stutenmilch ein und ließ sich einmal die Woche die Fingernägel maniküren. Die halbseitige Lähmung, verursacht durch einen Schlaganfall kurz vor seinem sechsundvierzigsten Geburtstag, empfand er in erster Linie als Demütigung. Bis zu seinem Tod in Folge weiterer Hirninfarkte vier Jahre später, beschäftigte er sich ausschließlich mit esoterischer Literatur.

3
Jeden Morgen hat sie das Gefühl, es wäre nicht ihr Gesicht, das da im Spiegel auftaucht. Ein Gesicht wie eine Schlagzeile, aufgedunsen und vordergründig. Früher hatte ich ein anderes Gesicht, denkt sie, ein Gesicht, das wie der Anfang einer guten Geschichte war. Nach diesem Gesicht sehnt sie sich. Dieses Gesicht hätte wieder etwas mit ihr zu tun. Mit diesem Gesicht würde es ihr viel leichter fallen, sich selbst gegenüber zu treten. Das fremde Gesicht aber am Morgen schreckt sie ab und lässt sie befürchten, vielleicht doch nie ein anderes Gesicht gehabt zu haben.

4
Nachts fährt er U-Bahn. Er steigt ein, setzt sich in Fahrtrichtung an einen Fensterplatz, schlägt die Beine übereinander und schaut auf vorbeiflitzende Betonwände und Kabelkanäle. Fährt die Bahn in eine Haltestelle ein, schließt er die Augen bis der Zug die Station wieder verlassen hat. Setzt sich jemand ihm gegenüber, sieht er nur kurz auf und starrt dann wieder durch sein eigenes Spiegelbild hindurch. Lässt sich jemand direkt neben ihm nieder, steht er auf und wechselte den Platz. Ist der Wagon, in dem er sich befindet, ganz leer, streckt er die Beine von sich, breitet die Arme über der Rückenlehne aus und seufzt laut und zufrieden, während er lächelnd seine Blicke überall umherschweifen lässt.

5
Als ihr Zwillingsbruder starb, verweigerte sie für mehrere Tage das Essen. Neben dem Appetit, der schließlich wiederkam, verlor sie auch ihren Geschmack. Wenn jemand, den man so geliebt hat, für immer geht, pflegte sie zu sagen, dann ist es völlig normal, dass er etwas von einem mitnimmt. So betrachtete sie ihre Geschmacklosigkeit als Abschiedsgeschenk von und an ihren Bruder. Zwei Jahre später machte sie ihr Abitur und begann zu studieren. Die Präsenz des Verstorbenen in Form der Unfähigkeit zu schmecken zerstörte die meisten ihrer Beziehungen, da keiner der jungen Männer ihr so nahe kommen konnte wie der toter Bruder, der ihr ja direkt auf der Zunge saß. Auch dem Mann, den sie einige Zeit nach ihrem Studienabschluss heiratete, gelang das nicht und er verließ sie nach wenigen Ehejahren. Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag, ergab das Blutbild unter anderem einen starken Zinkmangel, der durch ein wenig teures, rezeptfreies Präparat wieder ausgeglichen wurde. Keine vierundzwanzig Stunden nachdem sie die Medizin das erste Mal genommen hatte, war ihr Geschmackssinn wieder vollständig hergestellt.

6
Er hält sich für einen Philosophen, nur weil er ständig verzweifelt ist. Weil er andauernd über seine Verzweiflung nachdenken muss. Wenn man so ausschließlich verzweifelt ist, denkt er, dann ist die Verzweiflung eine wirklich große Sache. Tagtäglich reitet er auf seiner Verzweiflung aus und erlebt die Welt im Auf und Ab ihres gleichmäßigen Trabes. Irgendwann schreibt er auf, was er alles über seine Verzweiflung herausgefunden hat. Dabei stellt er fest, dass all seine Überlegungen unnütz und sinnlos gewesen sind, weil er die ganze Zeit ein Gefühl für einen Gedanken gehalten hat - und verzweifelt.

7
Jetzt fährt er schon seit zwanzig Jahren mit der gleichen Bahnlinie zur Arbeit und doch sieht er jeden Tag neue Gesichter. Der Vorrat der Stadt an Gesichtern scheint unerschöpflich zu sein. Er fragt sich, wie das wohl wäre, wenn man die Gesichter aller Menschen auf dieser Welt schon einmal gesehen hätte. Mit einer solchen Anzahl an gesehenen Gesichtern müsste einem doch alles möglich sein. Er könnte Generalsekretär der UNO werden. Er wäre ja sozusagen per Du mit der ganzen Menschheit. Selbstzufrieden kaut er auf diesem Gedanken ein paar Tage herum, bis er zu der Überzeugung gelangt, alle Gesichter der Menschheit wolle er gar nicht sehen. Das würde ihm bestimmt sehr schnell zu langweilig. Und außerdem suche er ja morgens in der Bahn nicht nach neuen Gesichtern, sondern nach denen, die er schon kennt.


8
Sie wünscht, ihr Leben wäre wie jene Träume, in denen man vorher schon weiß, was passiert. Egal was kommt, sie will sich darauf vorbereiten können. Bereits als Kind kam ihr ein plötzlicher Tod grausamer vor, als ein Sterben, das sich ankündigte. Überrascht zu werden, das hieß doch die Souveränität zu verlieren, sich selbst aus der Hand zu geben. Überhaupt verstand sie ihre Träume immer besser, je älter sie wurde. So wie den der letzten Nacht, als sie träumte, sie wäre in einem Bus zusammen mit dieser bekannten Nachrichtensprecherin, von der sie aufgefordert wurde ihr eine Pistole zu bringen, die irgendwo auf dem Boden lag. Ihr war klar, dass diese Frau sie erschießen würde. Um ihr Leben bettelnd hob sie die Waffe dennoch auf und gab sie der Frau, die ihr sofort damit ins Gesicht schoss.

9
Der Parkplatz ist für ihn zunächst nur Plan B. Plan A, das ist ein junger Mann, der ihm stundenweise jene Erleichterung verschaffen würde, die er braucht, um durchhalten zu können. Der akzeptierte, dass er sich in einem nicht aufzulösenden Gewirr von Verpflichtungen seiner Frau, seinen Kindern und seiner gehoben gesellschaftlichen Stellung gegenüber befindet. Der ihm helfen würde, sich in diesem Gewebe nicht hoffnungslos zu verirren. Dass er einen solchen jungen Mann niemals trifft, liegt an seiner Angst vor Zurückweisung und weil er sich nicht traut, die einschlägigen Bars seiner Stadt auf zu suchen. Durch das Internet erfährt er von diesem Autobahnparkplatz, etwas außerhalb der Stadt. Lange zögert er. Irgendwann aber lässt er sich an einem Morgen sehr früh abholen und den Chauffeur jenen Parklatz ansteuern. Vier Fahrzeuge stehen verteilt über die Parkfläche. In dreien haben zwei oder mehr Männer Sex. In dem vierten befindet sich nur eine Person. Er klopft an die Scheibe des Wagens und ein junger Mann öffnet die Beifahrertür. Dieser arbeitet bei einer Autobahntankstelle in der Nähe und war auf der Heimfahrt von seiner Nachtschicht hinterm Steuer schon ein paar Mal kurz eingenickt. Daraufhin hatte er unbedacht den Parkplatz angefahren, um ein wenig zu schlafen.

10
Das Gesicht ihres Mannes war ein Sumpf. Alles versank darin. Sie mochte sich mit ihrem Blick gar nicht mehr hineinwagen in dieses Gesicht. Was auch immer sie sagte oder tat, es bewirkte nichts als das kurze Auseinandergleiten seines Wangenfleisches, welches sofort wieder an seinen Platz zurücksuppte. Das war’s dann. Eine Ausgeburt an Gleichgültigkeit dieses sumpfige Gesicht. Früher hatte sie in diesem Gesicht gelesen. Ja, denkt sie, gelesen wie in einem Kochbuch. Um die richtigen Zutaten zu finden für sein Glück. Sein Glück, ihr Glück, das war für sie ja immer dasselbe gewesen. Für viele Jahre zumindest. Bis dieses Gesicht versumpfte, als hätten diese Jahre es ständig überschwemmt. Am Ende war es noch ihre Schuld. Frauen lieben immer zu sehr. Vielleicht sollte sie versuchen, sein Gesicht wieder trocken zu legen. Und wie bitteschön? Abnehmen, eine andere Frisur, gemeinsamer Urlaub in der Südsee? Auch das würde in seinem Gesicht versinken wie alles andere. Das einzige, was diesem Gesicht noch helfen kann ist meine Faust, denkt sie eines Tages. Doch statt des erwarteten Schmerzes, als ihre Hand die Nase ihres Mannes trifft, spürt sie wie sein Gesicht auseinander weicht, wie zunächst ihr Arm, schließlich sie als ganzes in dieses Gesicht hineingezogen wird. Dann ist alles dunkel und das Leben geht weiter.


Geschichte Nr. 9 leicht verändert.
Geschichte Nr. 10 ein Wörtchen geändert (Danke Leonie)
Zuletzt geändert von Sam am 05.05.2007, 17:49, insgesamt 5-mal geändert.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 07.04.2007, 17:34

Lieber Sam,

diese kurzen "Schlaglichter" gefallen mir gut. Du zeichnetst mir wenigen Worten Menschen und ihre Eigenarten, Schicksale, so dass man mehr sieht als die beschreibenen Situationen. Man sieht die Menschen und manchmal versteht man sie sogar.
Ein kleiner Rechtschreibfehler ist mir aufgefallen: Achsel, nicht Axel (in 2).

Liebe Grüße

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 07.04.2007, 17:47

Hallo leonie,

erstmal Danke für den Hinweis! Habe es gleich ausgebessert. :icon_redface:

Du zeichnetst mir wenigen Worten Menschen und ihre Eigenarten, Schicksale, so dass man mehr sieht als die beschreibenen Situationen.


Freut mich sehr, dass du es so liest. Eine solche Verknappung und Verdichtung macht ja nur Sinn, wenn man auch das erkennen kann, was ungesagt dahinter liegt.

Vielen Dank!

LG

Sam

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 07.04.2007, 18:48

Hallo Sam,

sehr interessant und gut geschrieben, deine Kurz-Einblicke in so völlig verschiedene Charaktere und deren Schicksale, Scheitern und Träume. Jeder Abschnitt für sich ist wie ein Teufelskreis. Sehr gelungen! Ich bin mal, Abschnitt für Abschnitt mit Anmerkungen von mir drin. Sind fett markiert. Sind alles nur Anregungen. Nimm davon, was dir stimmig erscheint, ok?
Saludos
Mucki


Sam hat geschrieben:Zehn Menschen

1
Wahrscheinlich ist seine Freundlichkeit nur ein Ablenkungsmanöver. Buntes Geschenkpapier, mit dem er einen leeren Karton umwickelt. (Das gefällt mir sehr gut, der leere Karton als Beschreibung für ihn selbst) Wenn er jemandem beim Umzug hilft, bei einer Party den ganzen Abend am Grill steht, wenn er einem Bekannten Geld leiht oder einen Kollegen zum Flughafen bringt; all diese vorbehaltlose Bereitwilligkeit, bloß um niemanden merken zu lassen, dass er die meiste Zeit nur an sich selbst denkt und keinen Menschen wirklich mag. (Hier sehe ich einen Widerspruch zwischen: "vorbehaltlose Bereitwilligkeit vs. "nur an sich selbst denkt")

2
Seine dritte Frau verließ ihn aus den gleichen Gründen wie die beiden davor. Und weil sie entdeckte, dass er täglich ins Waschbecken des Gästeklos onanierte. Mittlerweile gewohnt(, Komma) verlassen zu werden, nahm er es hin und genoss das Alleinsein. (Ist das stimmig, wenn man etwas hinnimmt und es genießt?) Als er vierzig wurde, Dann wurde er vierzig und bekam er immer mehr Lust, Komma junge Mädchen zu vögeln. Also begann er, Komma sich gesund zu ernähren, ging jeden zweiten Tag in ein Fitnessstudio, anschließend ins Solarium, spielte Tennis und fuhr Fahrrad. Er rasierte sich eine Glatze, die er jeden Morgen polierte, rasierte Brust-, Achsel- und Schamhaare, rieb sich täglich mit Stutenmilch ein und ließ sich einmal die Woche die Fingernägel maniküren. Die halbseitige Lähmung, verursacht durch einen Schlaganfall, Komma kurz vor seinem sechsundvierzigsten Geburtstag, empfand er in erster Linieals Demütigung (Das Wort "Demütigung" trifft es m.E. nicht so genau. Ich würde hier etwas "Härteres" schreiben.) Bis zu seinem Tod, Komma in Folge weiterer Hirninfarkte vier Jahre später, beschäftigte er sich ausschließlich mit esoterischer Literatur.

3
Jeden Morgen hat sie das Gefühl, es wäre nicht ihr Gesicht, das da im Spiegel auftaucht (anderes Wort für "auftaucht" wählen). Ein Gesicht wie eine Schlagzeile, aufgedunsen und vordergründig (was möchtest du mit "vordergründig" ausdrücken. Hier konkreter werden). Früher hatte ich ein anderes Gesicht, denkt sie, ein Gesicht, das wie der Anfang einer guten Geschichte war. Nach diesem Gesicht sehnt sie sich. Dieses Gesicht hätte wieder etwas mit ihr zu tun. Mit diesem Gesicht würde es ihr viel leichter fallen, sich selbst gegenüber zu tretengegenüberzutreten. Das fremde Gesicht aberam Morgen aber schreckt sie ab und lässt sie befürchten, vielleicht doch nie ein anderes Gesicht gehabt zu haben. (Sehr gut!)

4
Nachts fährt er U-Bahn. Er steigt ein, setzt sich in Fahrtrichtung an einen Fensterplatz, schlägt die Beine übereinander und schaut auf vorbeiflitzende Betonwände und Kabelkanäle. Fährt die Bahn in eine Haltestelle ein, schließt er die Augen, Komma bis der Zug die Station wieder verlassen hat. Setzt sich jemand ihm gegenüber, sieht er nur kurz auf und starrt dann wieder durch sein eigenes Spiegelbild hindurch. Lässt sich jemand direkt neben ihm nieder, steht er auf und wechselte den Platz. Ist der Wagon, in dem er sich befindet, ganz leer, streckt er die Beine von sich, breitet die Arme über der Rückenlehne aus und seufzt laut undzufrieden, während er lächelnd seine Blicke überall umherschweifen lässt.

5
Als ihr Zwillingsbruder starb, verweigerte sie für mehrere Tage das Essen. Neben dem Appetit, der schließlich wiederkam, verlor sie auch ihren Geschmack. Wenn jemand, den man so geliebt hat, für immer geht, pflegte sie zu sagen, dann ist es völlig normal, dass er etwas von einem mitnimmt. So betrachtete sie ihre Geschmacklosigkeit als Abschiedsgeschenk von und an ihren Bruder. Zwei Jahre später machte sie ihr Abitur und begann zu studieren. Die Präsenz des Verstorbenen in Form der Unfähigkeit zu schmecken, Komma zerstörte die meisten ihrer Beziehungen, da keiner der jungen Männer ihr so nahe kommen konnte wie der toter Bruder, der ihr jadirekt auf der Zunge saß. Auch dem Mann, den sie einige Zeit nach ihrem Studienabschluss heiratete, gelang dases nicht. Er und erverließ sie nach wenigen Ehejahren. Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung, Komma kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag, ergab das Blutbild unter anderemeinen starken Zinkmangel, der durch ein günstiges wenig teures, rezeptfreies Präparat wieder ausgeglichen wurde. Keine vierundzwanzig Stunden, Komma nachdem sie die Medizin das erste Mal genommen hatte, war ihr Geschmackssinn wieder vollständig hergestellt.

6
Er hält sich für einen Philosophen, nurweil er ständig verzweifelt ist. Weil er andauernd über seine Verzweiflung nachdenken muss. Wenn man so ausschließlich verzweifelt ist, denkt er, dann ist die Verzweiflung eine wirklich große Sache. Tagtäglich reitet er auf seiner Verzweiflung aus und erlebt die Welt im Auf und Ab ihres gleichmäßigen Trabes. Irgendwann schreibt er auf, was er alles über seine Verzweiflung herausgefunden hat. Dabei stellt er fest, dass all seine Überlegungen unnütz undsinnlos gewesen sind, weil er die ganze Zeit ein Gefühl für einen Gedanken gehalten hat - und verzweifelt.

7
Jetzt fährt er schon seit zwanzig Jahren mit der gleichen Bahnlinie zur Arbeit und doch sieht er jeden Tag neue Gesichter. Der Vorrat der Stadt an Gesichtern scheint unerschöpflich zu sein. Er fragt sich, wie das wohl wäre, wenn man die Gesichter aller Menschen auf dieser Welt schon einmal gesehen hätte. Mit einer solchen Anzahl an gesehenen Gesichtern müsste einem doch alles möglich sein. Er könnte Generalsekretär der UNO werden. Er wäre ja sozusagen per Du mit der ganzen Menschheit. (Die Logik erschließt sich mir nicht. Gesichter zu kennen, bedeutet ja nicht, mit den Menschen per du zu sein, sprich sie zu kennen. Nur Gesichter zu kennen ist ja etwas Oberflächliches) Selbstzufrieden kaut er auf diesem Gedanken ein paar Tage herum, bis er zu der Überzeugung gelangt, alle Gesichter der Menschheit wollewill er gar nicht sehen. Das würde ihnm bestimmt sehr schnell zulangweilig langweilen (oder: Das würde ihm bestimmt sehr schnell zu langweilig werden). Und außerdem suchte er ja morgens in der Bahn nicht nach neuen Gesichtern, sondern nach denen, die er schon kennt.


8
Sie wünscht sich, ihr Leben wäre wie jene Träume, in denen man vorher schon weiß, was passiert. (Gibt es solche Träume?) Egal was kommt, sie will sich darauf vorbereiten können. Bereits als Kind kam ihr ein plötzlicher Tod grausamer vor(, kein Komma) als ein Sterben, das sich ankündigte. Überrascht zu werden, das hieß doch, Komma die Souveränität zu verlieren, sich selbst aus der Hand zu geben. Überhaupt verstand sie ihre Träume immer besser, je älter sie wurde. So wie den der letzten Nacht, als sie träumte, sie wäre in einem Bus zusammen mit dieser bekannten Nachrichtensprecherin, von der sie aufgefordert wurde, Komma ihr eine Pistole zu geben bringen, die irgendwo auf dem Boden lag. Ihr war klar, dass diese Frau sie erschießen würde. Um ihr Leben bettelnd, Komma hob sie die Waffe dennoch auf und gab sie der Frau, die ihr sofort damit ins Gesicht schoss.

9
Der Parkplatz ist zunächst nur Plan B. Plan A, das ist ein junger Mann, der akzeptieren würde, dass er sich in einem nicht aufzulösenden Gewirr von Verpflichtungen seiner Frau, seinen Kindern und seiner gehobenen gesellschaftlichen Stellung gegenüber befindet. Der ihm stundenweise jene Erleichterung verschaffen würde, die er braucht, um sich in diesem Gewebe nicht hoffnungslos zu verirren. Um durchhalten zu können, bis die Dinge sich grundlegend ändern würden. Dass er einen solchen jungen Mann niemals trifft (hier muss auch Konjunktiv rein), liegt an seiner Angst vor Zurückweisung und weil er sich nicht traut, die einschlägigen Bars seiner Stadt auf zu suchen aufzusuchen. Durch das Internet erfährt er von diesem Autobahnparkplatz, etwas außerhalb der Stadt. Lange zögert er. Irgendwann aber lässt er sich an einem Morgen sehr früh abholen und den Chauffeur jenen Parklatz ansteuern. (das würde wohl eher nachts stattfinden, wenn es dunkel ist und nicht morgens) Vier Fahrzeuge stehen verteilt über die Parkfläche. In dreien haben zwei oder mehr Männer Sex. In dem vierten befindet sich nur eine Person. Er klopft an die Scheibe des Wagens und ein junger Mann öffnet die Beifahrertür. Dieser arbeitet bei einer Autobahntankstelle in der Nähe und war auf der Heimfahrt von seiner Nachtschicht hinterm Steuer schon ein paar Mal kurz eingenickt. Daraufhin hatte er unbedacht den Parkplatz angefahren, um ein wenig zu schlafen.

10
Das Gesicht ihres Mannes war ein Sumpf. Alles versank darin. Sie mochte sich mit ihrem Blick gar nicht mehr hineinwagen. in dieses Gesicht. Was auch immer sie sagte oder tat, es bewirkte nichts als das kurze Auseinandergleiten seines Wangenfleisches, welches sofort wieder an seinen Platz zurücksuppte. Das war’s dann. Eine Ausgeburt an Gleichgültigkeit, Komma dieses sumpfige Gesicht. Früher hatte sie in diesem Gesicht gelesen. Ja, denkt sie, gelesen wie in einem Kochbuch. Um die richtigen Zutaten zu finden für sein Glück. Sein Glück, ihr Glück, das war für sie ja immer das gleiche gewesen. (Konkreter ausdrücken: z.B. Sein Glück war für sie ihr Glück oder so ähnlich) Für viele Jahre zumindest. Bis dieses Gesicht versumpfte, als hätten diese Jahre es ständig überschwemmt. Am Ende war es noch ihre Schuld. (Auch hier konkreter: Empfand sie es als ihre Schuld? Dann: Sie trug die Schuld) Frauen lieben immer zu sehr. Vielleicht sollte sie versuchen, sein Gesicht wieder trocken zu legen. Und wie bitteschön? (Passt nicht so gut, vielleicht: Aber wie? Dieses "bitteschön" raus) Abnehmen, eine andere Frisur, gemeinsamer Urlaub in der Südsee? Auch das würde in seinem Gesicht versinken wie alles andere. Das einzige, was diesem Gesicht noch helfen kann, Komma ist meine Faust, denkt sie eines Tages. Doch statt des erwarteten Schmerzes, als ihre Hand die Nase ihres Mannes trifft, spürt sie, Komma wie sein Gesicht auseinander weicht auseinanderweicht, wie zunächst ihr Arm, schließlich sie als ganzes in dieses Gesicht hineingezogen wird. Dann ist alles dunkel und das Leben geht weiter.

pandora

Beitragvon pandora » 07.04.2007, 19:02

hallo sam,

und auch von mir ein herzliches willkommen.

ich finde sie interessant, deine skizzen.
allerdings erwische ich mich dabei, dass ich versuche, verbindungen zu schaffen zwischen den einzelnen personen. es gibt keine, oder?

besonders mag ich skizze 5, die geschichte von der geschmacklosen frau. ein bisschen skurril. originell. eine tolle idee.

auch nummer drei finde ich klasse, dieses "sichnichtwiedererkennen". eine menschliche befindlichkeit sehr gut beschrieben.

in nummer sechs würde ich verzweifelt versuchen, das wort VERZWEIFLUNG nicht so gehäuft auftreten zu lassen. aber das ist nur meine meinung.

auch so ein subjektives empfinden meinerseits: manche texte sind mir zu wertend. ( zum beispiel nummer eins / nummer zwei) ich würde eine reine beschreibung bevorzugen, um mir meine eigene meinung bilden zu können.

viel spaß dir hier im forum und liebe grüße
pan
Zuletzt geändert von pandora am 07.04.2007, 19:15, insgesamt 1-mal geändert.

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 07.04.2007, 19:07

Lieber Sam,

herzlich willkommen im Blauen Salon auch von mir! Ich hoffe du wirst dich wohl fühlen, ich mich auf jeden Fall, wenn du den Zauber dieses Textes auch in anderen Prosaformen schaffst!

Da sind ein paar Abschnitte in dem Text wo ich nur noch nicken kann, die sind für mich fast perfekt geschrieben. Also, sie erreichen genau das, was die Form will (leonie hat das schon gut auf den Punkt gebracht). Das sind für mich Nr. 1, (3), 4, 5 und 10 (genial auch ans Ende gesetzt).

Die anderen gefallen sind zwar sprachlich auf dem selben souveränen Niveau, haben aber die eine oder andere Macke, wie ich finde.

Bei 2 stört mich das Ende mit dem Schicksalsschlag und zwar wahrscheinlich, weil mir die individuelle Reaktionsweise des äh Protagonisten noch zu angedeutet bleibt (sicher Geschmackssache) - vergleiche z.B. mit 5. So ein Schicksalsschlag zieht ja viel Aufmerksamkeit auf sich und lenkt von der Charakterzeichnung ab. Gerade aber der Anfang dieses Abschnittes ist genial.

(An 3 stört mich wohl vor allem, dass er so gut ist (insbesondere die Gesicht-Vergleiche) und dann doch eher mau aufgelöst wird, aber das ist nur ganz nebenbei für mich)

6: Also nach so einem Anfang: "Er hält sich für einen Philosophen, nur weil er ständig verzweifelt ist." verlange ich schon etwas mehr, das ist mir glaube ich zu lasch, zu sehr an Begriffen hängen geblieben (Gedanke vs. Gefühl; Verzweiflung...) - natürlich kann man sich darunter etwas vorstellen und die Beobachtung stimmt, dennoch denke ich, würde mir hier etwas Konkretes besser gefallen (ist natürlich schwierig, vielleicht in der kurzen Form sogar unmöglich? Auf jeden Fall finde ich gerade diesen Typus sehr spannend)

7 habe ich nicht verstanden, mich beschleicht aber das Gefühl, dass der letzte Satz als Pointe gedacht ist? Hm, denk ich aber nochmal drüber nach.

8 ist dann wieder sehr schön von der Beobachtung, aber mir scheint, dir fehlte dann noch ein zündender Einfall? Also natürlich ist in so einer Form der Abschluss immer das Schwierigste, aber einfach so einen Beispieltraum... lässt mich verhältnismäßig unbefriedigt zurück (gerade auch weil es eben so drastisch endet, man merkt, dass es ein bisschen ablenken soll)

Und 9 könnte schließlich genial werden, wenn du dir nicht selbst untreu werden würdest und auf den Schwenk zu dem jungen Mann verzichten würdest, (der ja eh nur auf eine peinlich-humorige Situation hindeuten soll??) Also auch da ist das Ende für mich nicht perfekt.

Hm, ist natürlich viel Kritik für einen Text den ich so mag.
Also ich liebe 1, weil es einfach so extrem prägnant ist, so dicht und treffsicher. Wenn man nicht schon vom Titel her wüsste, was du vorhast, da steht es in Reinform.
5 gefällt mir fast am besten, weil das Ende ohne es auszusprechen die Figur entlarvt... ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, diese Art "billig" finden zu müssen, meiner Meinung nach ist das so aber genau richtig.
Und 10 ans Ende... ja.

Ach, jetzt sehe, Mucki hat sich auch um die Kommas gekümmert *g sehr gut. Mucki, bei 1:
Hier sehe ich einen Widerspruch zwischen: "vorbehaltlose Bereitwilligkeit vs. "nur an sich selbst denkt"

darum geht es doch gerade!!

Bei 2 widerspreche ich dir auch, ich denke, Sam weiß schon, was er sagen wollte, und Demütigung kann ich mir da sehr gut vorstellen.

Ohja, mit dem "bitteschön" bei 10 hast du recht, das ist für mich auch Stilbruch.


Also, sehr gern gelesen, bin gespannt ob du das auch in längeren Sachen durchhältst!

Liebe Grüße,
lichelzauch

Sam

Beitragvon Sam » 08.04.2007, 08:37

Hallo,

habt alle recht schönen Dank für eure Kommentare!

@mucki

Nochmals Danke für deine intensive Arbeit an dem Text. Ich werde deine Vorschläge bestimmt überdenken.

Auf einiges möchte ich gerne kurz eingehen:

all diese vorbehaltlose Bereitwilligkeit, bloß um niemanden merken zu lassen, dass er die meiste Zeit nur an sich selbst denkt und keinen Menschen wirklich mag. (Hier sehe ich einen Widerspruch zwischen: "vorbehaltlose Bereitwilligkeit vs. "nur an sich selbst denkt")

Wie lichelzauch schon bemerkte, ist dieser Widerspruch eigentlich der Gegenstand dieser Episode.


Mittlerweile gewohnt(, Komma) verlassen zu werden, nahm er es hin und genoss das Alleinsein. (Ist das stimmig, wenn man etwas hinnimmt und es genießt?)

Er nimmt das Verlassenwerden hin und genießt das Alleinsein. Denke schon, dass sich das nicht widerspricht.


Die halbseitige Lähmung, verursacht durch einen Schlaganfall, Komma kurz vor seinem sechsundvierzigsten Geburtstag, empfand er in erster Linie als Demütigung (Das Wort "Demütigung" trifft es m.E. nicht so genau. Ich würde hier etwas "Härteres" schreiben.)

Demütigung ist für mich hier passend, da der beschriebene Mann sich so sehr auf sein Aussehen konzentriert, um dementsprechend auf junge Frauen zu wirken. Ein Schlaganfall und als dessen Folge eine halbseitige Lähmung, macht diese mühsam aufgebaute Fasade zunichte. Außerdem impliziert dieser Ausdruck, dass hinter dem ganzen soetwas wie ein Vorsatz steht, anders wie wenn man z.B. Katastrophe sagen würde. Und dieser Hintergedanke ist wichtig für die Charakterzeichnung.

Er könnte Generalsekretär der UNO werden. Er wäre ja sozusagen per Du mit der ganzen Menschheit. (Die Logik erschließt sich mir nicht. Gesichter zu kennen, bedeutet ja nicht, mit den Menschen per du zu sein, sprich sie zu kennen. Nur Gesichter zu kennen ist ja etwas Oberflächliches)

Da hast du recht. Aber jene Oberflächlichkeit ist ja ein Thema dieser Episode.


Sie wünscht sich, ihr Leben wäre wie jene Träume, in denen man vorher schon weiß, was passiert. (Gibt es solche Träume?)

Ich denke schon. In Träumen isst ja irgendwie alles möglich. Und in Texten über Träume erst recht. ;-)


Und wie bitteschön? (Passt nicht so gut, vielleicht: Aber wie? Dieses "bitteschön" raus)

Diese Episode beschreibt zum Teil ja die Gedankengänge der Frau. Dieses "bitteschön", drückt so eine Mischung aus Trotz und Verzweiflung aus.

Nochmals herzlichen Dank für deine Mühe. Und für die vielen Kommas! :icon_redface2:



@pandora

Vielen Dank für deinen Willkommensgruß!

Einen direkten Zusammenhang zwischen den einzelnen Personen gibt es nicht. Aber es gibt doch eine Menge Zusammenhänge, was ihre Lebensläufe oder Befindlichkeiten betrifft. Die werden vielleicht dort am ehesten sichtbar, wo der Leser Zusammenhänge mit seinen eigenen Erfahrungen/Beobachtungen herstellt.

besonders mag ich skizze 5, die geschichte von der geschmacklosen frau. ein bisschen skurril. originell. eine tolle idee.

Freut mich! Die mag ich auch irgendwie besonders. Wahrscheinlich wegen dieser Mischung skurril-tragisch.


auch so ein subjektives empfinden meinerseits: manche texte sind mir zu wertend. ( zum beispiel nummer eins / nummer zwei) ich würde eine reine beschreibung bevorzugen, um mir meine eigene meinung bilden zu können.

Dein Empfinden täuscht dich da nicht. Einige der Texte sind bewertend. Der Reiz hier liegt vielleicht nicht so sehr darin, sich sein eigene Meinung über die beschriebene Person zu bilden, sondern über die Bewertung, die der Erzähler anstellt.



@lichelzauch

Auch dir danke für deinen Willkommensgruß und deiner positiven Bewertung dieser Episoden. Einige der Punkte, die du kritisch bemerkst sind bestimmt Geschmackssache, so z.B. die Auflösung von Nr. 3.

Auf ein paar Dinge gehe ich gerne noch ein:

Bei 2 stört mich das Ende mit dem Schicksalsschlag und zwar wahrscheinlich, weil mir die individuelle Reaktionsweise des äh Protagonisten noch zu angedeutet bleibt

Nr. 2 ist sowieso ein CV im Schnelldurchlauf. Lebt eigentlich nur von diesem flüchtigen Pinselstrich (so zumindest von mir gedacht)


6: Also nach so einem Anfang: "Er hält sich für einen Philosophen, nur weil er ständig verzweifelt ist." verlange ich schon etwas mehr, das ist mir glaube ich zu lasch, zu sehr an Begriffen hängen geblieben (Gedanke vs. Gefühl; Verzweiflung...) - natürlich kann man sich darunter etwas vorstellen und die Beobachtung stimmt, dennoch denke ich, würde mir hier etwas Konkretes besser gefallen (ist natürlich schwierig, vielleicht in der kurzen Form sogar unmöglich? Auf jeden Fall finde ich gerade diesen Typus sehr spannend)

Im Grunde könnte man aus jeder dieser Episoden eigene Geschichten machen. Dann würden viele Dinge konkreter. Dies ist aber dem Leser überlassen. Wie schon bei pandora erwähnt, wirken diese Miniaturen oftmals erst durch den Abgleich mit eigenen Erfahrungen/Beobachtungen, die dann erhoffte Konkretisierung bewirkt (so hoffe ich zumindest)

7 habe ich nicht verstanden, mich beschleicht aber das Gefühl, dass der letzte Satz als Pointe gedacht ist? Hm, denk ich aber nochmal drüber nach.

Es geht um Oberflächlichkeit aber auch Isolation und soziale Beschränktheit. Das Ende ist weniger Pointe. Mehr so eine Art Entlarvung.


Und 9 könnte schließlich genial werden, wenn du dir nicht selbst untreu werden würdest und auf den Schwenk zu dem jungen Mann verzichten würdest, (der ja eh nur auf eine peinlich-humorige Situation hindeuten soll??) Also auch da ist das Ende für mich nicht perfekt.

Vielleicht ist das auch Geschmackssache. Für mich kann diese Geschichte aber nur so enden. Ein Mann unterdrückt, womoglich jahrelang, seine sexuellen Neigungen und als er sich endlich dazu durchringt, ihnen nachzugehen, landet er bei einem nichtsahnenden jungen Mann im Auto. Das ist Scheitern in Reinform. Für mich zumindest. Ich glaube, es würde jeder diese Episoden für sich ein wenig anders erzählen, aber das ist ja auch gut so. Indem der Leser das tut, beschäftigt er sich ja mit diesen Fragmente. Und was will man als Autor mehr.

Ich hoffe du wirst dich wohl fühlen, ich mich auf jeden Fall, wenn du den Zauber dieses Textes auch in anderen Prosaformen schaffst!

Wohlfühlen werde ich mich bestimmt. Was den Zauber angeht..schaun wir mal.


Euch allen nochmals vielen Dank!

Liebe Grüße

Sam

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 08.04.2007, 21:14

Hallo Sam,

Lebt eigentlich nur von diesem flüchtigen Pinselstrich (so zumindest von mir gedacht)



ja, flüchtige Pinselstriche trifft es gut. Deine "Pinselstriche" sind wirklich klasse geeignet, aus jedem einzelnen eine Geschichte zu schreiben,-)
Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 09.04.2007, 08:03

Hallo Mucki,

Deine "Pinselstriche" sind wirklich klasse geeignet, aus jedem einzelnen eine Geschichte zu schreiben


Vielleicht mache ich das irgendwann sogar. Spätestens, wenn mir die Ideen für neue Geschichten ausgehen ;-)

LG

Sam

Stefan

Beitragvon Stefan » 21.04.2007, 03:34

Hallo, Sam!

Zuerst einmal will ich meine Bewunderung für die treffenden Skizzen ausdrücken. Da steckt sehr viel Wahres und menschlich nah Gehendes drin. Deine Absicht, über die Bezüge des Lesers die Konkretisierung herzustellen, scheint (jedenfalls bei mir) gut zu funktionieren. Besonders die 1, 4, 6 u. 7 sprachen mich persönlich am stärksten an, ja, stellenweise fand die Entlarvung in mir ein Ziel ...
Die 8 finde ich auch toll, wegen der Macht der Träume und dieses gewissen Teufelskreises am Ende.

Die 4 ist mir insgesamt am sympathischsten, vermutlich, weil sie meine Weltsicht am besten spiegelt. Aber Geschmackssache.

Ich glaube, wenn man es sich vornähme, könnte man sogar einen Plot, der alle 10 zusammenhält, entwerfen. Aber das widerspräche dann eindeutig dem Grundkonzept, wie es im Titel steht.

Ich bin froh, dass mucki sich bereits einiger der (wenigen) sprachlichen Schwächen angenommen hat, aber, naja, ein paar Sachen würde ich noch kurz erwähnen:

Sam hat geschrieben:
1
Wahrscheinlich ist seine Freundlichkeit nur ein Ablenkungsmanöver. Buntes Geschenkpapier, mit dem er einen leeren Karton umwickelt. Wenn er jemandem beim Umzug hilft, bei einer Party den ganzen Abend am Grill steht, wenn er einem Bekannten Geld leiht oder einen Kollegen zum Flughafen bringt; all diese vorbehaltlose Bereitwilligkeit, bloß um niemanden merken zu lassen, dass er die meiste Zeit nur an sich selbst denkt und keinen Menschen wirklich mag. (klingt ein wenig naiv - besser "liebt"?).

3
Jeden Morgen hat sie das Gefühl, es wäre nicht ihr Gesicht, das da im Spiegel auftaucht. Ein Gesicht wie eine Schlagzeile, aufgedunsen und vordergründig. Früher hatte ich ein anderes Gesicht, denkt sie, ein Gesicht, das wie der Anfang einer guten Geschichte war. Nach diesem Gesicht sehnt sie sich. Dieses Gesicht hätte wieder etwas mit ihr zu tun. Mit diesem Gesicht würde es ihr viel leichter fallen, sich selbst gegenüber zu treten. Das fremde Gesicht aber am Morgen schreckt sie ab und lässt sie befürchten, vielleicht doch nie ein anderes Gesicht gehabt zu haben. (Das Ende könnte noch eine stärkere Pointe vertragen? Vielleicht ist es nur eine Sache der Formulierung.)

5
Als ihr Zwillingsbruder starb, verweigerte sie für mehrere Tage das Essen. Neben dem Appetit, der schließlich wiederkam, verlor sie auch ihren Geschmack. (ungünstig ausgedrückt: 1. wegen der verwirrenden Konstruktion "wiederkam"-"verlor", 2. weil der Unterschied "Appetit"-"Geschmack" nicht klar wird. Meinst du "Geschmackssinn"? Es wird irgendwie nie so richtig klar. Vielleicht bietet sich eine Erklärung an, nach dem Motto: "Was nützt Appetit ohne Geschmackssinn?", zur Illustrierung des Leids der Trauernden.) Wenn jemand, den man so geliebt hat, für immer geht, pflegte sie zu sagen, dann ist es völlig normal, dass er etwas von einem mitnimmt. So betrachtete sie ihre Geschmacklosigkeit als Abschiedsgeschenk von und an ihren Bruder. Zwei Jahre später machte sie ihr Abitur und begann zu studieren. Die Präsenz des Verstorbenen in Form der Unfähigkeit zu schmecken zerstörte die meisten ihrer Beziehungen, da keiner der jungen Männer ihr so nahe kommen konnte wie der toter Bruder, der ihr ja direkt auf der Zunge saß. Auch dem Mann, den sie einige Zeit nach ihrem Studienabschluss heiratete, gelang das nicht und er verließ sie nach wenigen Ehejahren. Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag, ergab das Blutbild unter anderem einen starken Zinkmangel, der durch ein wenig teures, rezeptfreies Präparat wieder ausgeglichen wurde. Keine vierundzwanzig Stunden nachdem sie die Medizin das erste Mal genommen hatte, war ihr Geschmackssinn wieder vollständig hergestellt. (Insgesamt eine tolle Idee, nur fehlen eindeutigere Bezüge zum "Geschmack" bzw. was dahinter steht. Die Kuss-Szene klärt das nicht wirklich. Also: Vor allem die einleitenden Sätze nochmal überdenken, die leisten momentan noch nicht, was sie könnten.)

7
Jetzt fährt er schon seit zwanzig Jahren mit der gleichen Bahnlinie zur Arbeit und doch sieht er jeden Tag neue Gesichter. Der Vorrat der Stadt an Gesichtern scheint unerschöpflich zu sein. Er fragt sich, wie das wohl wäre, wenn man die Gesichter aller Menschen auf dieser Welt schon einmal gesehen hätte. Mit einer solchen Anzahl an gesehenen Gesichtern müsste einem doch alles möglich sein. Er könnte Generalsekretär der UNO werden. Er wäre ja sozusagen per Du mit der ganzen Menschheit. Selbstzufrieden kaut er auf diesem Gedanken ein paar Tage herum, bis er zu der Überzeugung gelangt, alle Gesichter der Menschheit wolle er gar nicht sehen. Das würde ihm bestimmt sehr schnell zu langweilig. Und außerdem suche er ja morgens in der Bahn nicht nach neuen Gesichtern, sondern nach denen, die er schon kennt. (Ziemlch trockenes und ein Bisschen zu abruptes Ende.)

9
Der Parkplatz ist zunächst nur Plan B. Plan A, das ist ein junger Mann, der akzeptieren würde, dass er sich in einem nicht aufzulösenden Gewirr von Verpflichtungen seiner Frau, seinen Kindern und seiner gehoben gesellschaftlichen Stellung gegenüber befindet. Der ihm stundenweise jene Erleichterung verschaffen würde, die er braucht, um sich in diesem Gewebe nicht hoffnungslos zu verirren. Um durchhalten zu können, bis die Dinge sich grundlegend ändern. Dass er einen solchen jungen Mann niemals trifft, liegt an seiner Angst vor Zurückweisung und weil er sich nicht traut, die einschlägigen Bars seiner Stadt auf zu suchen. Durch das Internet erfährt er von diesem Autobahnparkplatz, etwas außerhalb der Stadt. Lange zögert er. Irgendwann aber lässt er sich an einem Morgen sehr früh abholen und den Chauffeur jenen Parklatz ansteuern. Vier Fahrzeuge stehen verteilt über die Parkfläche. In dreien haben zwei oder mehr Männer Sex. In dem vierten befindet sich nur eine Person. Er klopft an die Scheibe des Wagens und ein junger Mann öffnet die Beifahrertür. Dieser arbeitet bei einer Autobahntankstelle in der Nähe und war auf der Heimfahrt von seiner Nachtschicht hinterm Steuer schon ein paar Mal kurz eingenickt. Daraufhin hatte er unbedacht den Parkplatz angefahren, um ein wenig zu schlafen. (Diese Geschichte habe ich erst nach dem dritten Lesen verstanden. Irritiert haben mich die vielen "er"s und der "junge Mann", den ich nicht einordnen konnte. Aber jetzt geht's, denn das Wort "Erleichterung" stach mir gerade ins Auge :idee: ... gefällt!)

10
Das Gesicht ihres Mannes war ein Sumpf. Alles versank darin. Sie mochte sich mit ihrem Blick gar nicht mehr hineinwagen in dieses Gesicht. Was auch immer sie sagte oder tat, es bewirkte nichts als das kurze Auseinandergleiten seines Wangenfleisches, welches sofort wieder an seinen Platz zurücksuppte. Das war’s dann. Eine Ausgeburt an Gleichgültigkeit dieses sumpfige Gesicht. Früher hatte sie in diesem Gesicht gelesen. Ja, denkt sie, gelesen wie in einem Kochbuch. Um die richtigen Zutaten zu finden für sein Glück. Sein Glück, ihr Glück, das war für sie ja immer das gleiche gewesen. Für viele Jahre zumindest. Bis dieses Gesicht versumpfte, als hätten diese Jahre es ständig überschwemmt. Am Ende war es noch ihre Schuld. Frauen lieben immer zu sehr. (=zusammenhangslose Gedankensprünge.) Vielleicht sollte sie versuchen, sein Gesicht wieder trocken zu legen. Und wie bitteschön? Abnehmen, eine andere Frisur, gemeinsamer Urlaub in der Südsee? Auch das würde in seinem Gesicht versinken wie alles andere. Das einzige, was diesem Gesicht noch helfen kann ist meine Faust, denkt sie eines Tages. (Wegen der "Faust": Klar, sie ist verzeifelt, aber dieser drastische Wechsel ist zu krass, vor allem in Verbindung mit: "denkt sie eines Tages" - unglaubwürdig.) Doch statt des erwarteten Schmerzes, als ihre Hand die Nase ihres Mannes trifft, spürt sie wie sein Gesicht auseinander weicht, wie zunächst ihr Arm, schließlich sie als ganzes in dieses Gesicht hineingezogen wird. Dann ist alles dunkel und das Leben geht weiter.



Du siehst: Dem Lob meiner Vorredner zur 5 kann ich mich nicht so ohne Weiteres anschließen. Aber du darfst davon ausgehen, dass ich von allem, wo ich keinen Kommentar schrieb, überaus angetan bin, und auch das Gesamtbild bleibt sehr positiv. Ich danke dir für diese nachdenklichen Minuten, und in Erwartung weiterer gelungener Werke, verbleibe ich

mit Gruß,
Stefan

Sam

Beitragvon Sam » 21.04.2007, 08:15

Hallo Stefan,

vielen Dank für deine Meinung und die Arbeit, die du dir mit dem Text gemacht hast.

Immer wieder interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Qualität der einzelnen Personenbeschreibung beurteilt wird. Für mich ein Zeichen, dass hier ein weites Spektrum abgedeckt wird und sich wenigstens an manchen Stellen die Erfahrungen/Empfindungen des Lesers mit dem jeweils Beschriebenen überschneiden.

Ein bisschen was zu deinen Anmerkungen:

zu 1)

"liebt" wäre mir hier zu stark. Mögen ist ein wesentlich schwächeres Wort. Wird aber im Zusammenhang stark, wenn man sagt, dass er die Menschen noch nicht mal mag.

zu 3)

Es geht mir in den Miniaturen nicht unbedingt um Pointen. Eher um Entlarvung. Die finde ich hier eigentlich sehr gut gelungen (ich weiß, Eigenlob... :icon_redface: )

zu 5)

Welche Kussszene meinst du? Jedenfalls wäre es eine Überlegung, anstelle Geschmack, das Wort Geschmackssinn zu verwenden. Es wird im letzten Satz zwar erwähnt...aber gut, darüber muss ich nachdenken.

zu 7)

Hier ist ähnlich, wie bei 3. Ein Gedanke, eine Vorstellung wird entlarvt bzw. relativiert. In diesem Fall entpuppt sich die Zugewandtheit des Prot. am Ende doch nur als Ichbezogenheit.

zu 10)

fällt sowieso ein bisschen aus dem Rahmen, weil der strenge Realitätsbezug der vorangegangenen Beschreibung ganz am Ende aufgehoben wird. Das sind sprunghafte Gedanken und auch eine plötzlich auftretende Faust durchaus verkraftbar und im Sinne der Geschichte. Dadurch wird die Episode auch zu einem passenden Schlußpunkt.


Dir nochmals vielen Dank für Kritik und Lob!

Liebe Grüße

Sam

Stefan

Beitragvon Stefan » 22.04.2007, 17:43

Hallo, Sam!

Gut auch, dass du die Kritiken aufmerksam studierst ...
Bei deinen Entgegnungen kann ich größtenteils mitgehen. Ich habe ja nur nach Stellen gefahndet, die sprachlich etwas mehr Perfektion vertragen könnten.

Bei meiner Anmerkung zu 5) ist mir ein Fehler unterlaufen. Als es hieß, dass der Protagonistin keiner nahe kommen konnte, wegen dem Bruder, der ihr die ganze Zeit auf der Zunge saß, dachte ich natürlich an die Schwierigkeit des Küssens. Wenn Küsse nicht "schmecken", ist jede Beziehung zum Scheitern verurteilt. Das habe ich dann als Szene angenommen, obwohl es ja nicht so genau im Text steht. Naja.

Auch so, wie es ist, schon sehr schön zum Lesen!

Gruß,
Stefan

Max

Beitragvon Max » 29.04.2007, 19:03

Lieber Sam,

da der Text von Stefan noch einmal nach oben geholt wurde, habe ich ihn noch einmal etwas genauer gelesen. Aber selbst jetzt fällt mir eigentlich nichts Ernsthaftes auf, das sich verbessern ließe. Vielleicht ist solch ein Text auch genau für mich gemacht - die kleinen Episoden lassen sich häppchenweise verdauen und machen mich doch so gespannt auf den Fortgang, dass ich den Text in einem Zug lese. Ähnlich wie Pandora ertappe ich mich dabei, dass ich versuche Querverbindungen zu entdecken, aber das ist ja gerade das Spannende.

Liebe Grüße
max

Gast

Beitragvon Gast » 30.04.2007, 00:15

Lieber Sam,

ich habe deine 10 Prosahäppchen heute mehrfach gelesen.
Ich finde sie gelungen und aussagekräftig. Du zeichnest die Charaktere knapp und stark.
Deine Betrachtungen gefallen mir, sind fernab von Klischees.

Ein paar kleine Anmerkungen.

für mich könnte Nr. 2 mit dem vierten Satz beginnen: Er wurde vierzig und bekam immer mehr Lust junge Mädchen zu vögeln.
Ich finde die Info in den Sätzen davor lässlich. M.M. haben sie nichts mit dem Folgenden gemein. (anderer Typus, andere story - vielleicht)


In Nr. 4 schreibst du von einer U-Bahn. Diese hält nicht an Haltestellen sondern an Bahsteigen auf Bahnhöfen.

Nr. 5 Meinst du mit "ein wenig teures, rezeptfreies Präparat", dass es ziemlich teuer war?
für mich ein "wenig" missverständlich ;-)

Nr. 9 Folgender Satz im ersten Drittel: Um durchhalten zu können, bis die Dinge sich grundlegend ändern Hier meine ich, es müsste "änderten" heißen.

Wie gesagt: Kleinigkeiten.

Gern würde ich beim Leseprojekt mitmachen und mir vielleicht Nr. 10 vornehmen, wenn du einverstanden bist.

Liebe Grüße
Gerda

Auf Nr. 10 haben es noch mehr Lesewillige abtgesehen... da trete ich zurück.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste