Wie ich einmal die Wahrheit über Karl schreiben wollte

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 21.02.2017, 12:24

Vor ein paar Tagen kam mir die Idee, etwas über Karl zu schreiben, nämlich die Wahrheit über ihn endlich ans Licht zu bringen. Natürlich konnte ich nicht seinen ganzen Lebenslauf erzählen. Ich wollte auch nicht, dass er zu Wort kommt. Denn für die Wahrheit, die die eigene Person betrifft, ist man selber am ehesten blind.

„Karl ist ein Schuft“, sagte Heiner zu seinem Freund Paul. Und da Paul ein guter Freund war, glaubte er Heiner. Deshalb war er überzeugt, was Karl für einer war, nämlich ein Schuft.

Zu Hause erzählte Paul natürlich seiner Frau, dass Karl ein Schuft sei.
„Das hat Heiner gesagt“, fügte er hinzu.
„Wenn der das sagt, dann muss was dran sein“, sagte seine Frau.
„Bestimmt ist da was dran“, antwortete Paul.

Am nächsten Morgen kehrte Pauls Frau die Terrasse und fand dabei zwei Zigarettenstummel. Da niemand im Haus rauchte und sie auch in letzter Zeit keinen Besuch gehabt hatten, der geraucht hätte, war es klar: Es konnte nur Karl gewesen sein, der Schuft.
„Der ist heimlich nachts auf unserer Terrasse gewesen und hat da geraucht“, stellte sie sich vor. „So ein Schuft! Benutzt und verunreinigt einfach fremder Leute Terrasse! Unverschämt!“ „Und an der Steckdose hier in der Ecke hat er sich sicher auch bedient“, setzte sie nach einer Weile hinzu, und ihr fiel ein, dass die letzte Stromrechnung unverhältnismäßig hoch gewesen war. Jetzt war alles klar: Karl ist schuld daran.

„Karl ist ein Schuft“, sagte auch Heiner zu seiner Frau.
Die traf noch am Nachmittag ihre Nachbarin Gerda Liebkell und sagte zu ihr: „Es macht mich wütend, dass dieser Karl so ein Schuft ist.“
Nun waren es schon fünf Leute, die wussten, was der Karl für einer ist. Als Willi Liebkell einen Kratzer in seiner Autotür entdeckte, wusste er natürlich gleich, dass es Karl gewesen sein musste. Jetzt waren es drei Ehepaare – sechs Leute gegen Karl. Und sie erzählten jedem im Dorf von Karl, damit alle Bescheid wüssten.

Wie man sich vorstellen kann, kam es, wie es kommen musste in solchen Fällen: Wenn im Dorf irgendetwas schief lief, war Karl, der Schuft, daran schuld. Auf jeder Geburtstagsfeier, bei jeder Beerdigung und bei jedem Kaffeekränzchen wusste man wieder Neues zu berichten, was Karl, der Schuft, wieder angestellt hatte. Die Vergehensliste wurde von Tag zu Tag länger. Je mehr man darüber redete, desto deutlicher wurde allen, wer Karl war. Alle hatten ein genaues Bild von ihm - und das war ein schreckliches, furchterregendes. Karl war eine Gefahr für das ganze Dorf.
„Wenn ein Ort durch einen einzigen Menschen so viel Unglück erleiden muss, muss man einschreiten“, dachte der Bürgermeister.
Er ordnete an, dass alle auf der Hut sein sollten. Wer Karl sähe, sollte es melden.

So nach und nach kamen die ersten Meldungen: Man sah ihn gestern Abend zwischen den Gärten herumstehen. Man sah ihn Freitagmittag aus dem hellen Haus an der Mühl-Ecke herauskommen. Er saß am Montagmorgen im Siebener Bus in der letzten Reihe und stieg in der Kessler Straße aus. Jemand meinte auch, ihn am Mittwochnachmittag im Kino gesehen zu haben, aber sicher war er sich nicht. Der Bürgermeister trug alles in einen Stadtplan ein und machte sich dazu Notizen. So konnte man ein Bewegungsmuster erstellen und unsichere Orte bewachen. So nach und nach entwickelte man im Rathaus zusammen mit der Polizei ein Sicherheitskonzept, um die Menschen vor Karl zu schützen. Die Kinder des Ortes wurden zur Vorsicht angehalten. Man konnte schließlich nicht wissen, was Karl vorhatte.
„Wenn ihr Karl seht, lauft schnell auf die andere Straßenseite“, hörten sie von ihren Eltern und Lehrern.
„Und geht nie alleine weg“, sagte man den heranwachsenden Mädchen und Jungen.
Noch nie war man sich im Dorf so einig. Denn nun hatte man einen gemeinsamen Feind, den Karl, den man für alles verantwortlich machen konnte, was böse war oder missraten, und gegen den man nun gemeinsam vorgehen wollte.

Eines Tages kamen Sicherheitsleute aus dem Nachbarort, um sich über die Erfahrungen der Dörfler mit ihrem Sicherheitskonzept zu informieren. Sie waren beeindruckt von dem, was der Bürgermeister ihnen vorlegte und übernahmen dieselbe Strategie auch für ihren Ort. Denn schließlich konnte man ja nicht wissen, ob Karl nicht anfing, sein Unwesen auch in ihrem Ort zu treiben.

Die Dörfler fanden es bequem trotz der bedrohlichen Lage, mit dem Gedanken an Karl zu leben. Man musste nicht mehr mühsam nach einem Schuldigen für irgendein Unrecht suchen – man hatte Karl, den Schuft. Und man lebte mit offeneren Augen und sah vieles, was bisher verborgen war. Zum Beispiel, dass die Gretel oftmals tagelang nicht nach Hause kam, oder dass Berthold mehr als einmal pro Woche zu tief ins Glas schaute. Oder dass Gerda Liebkell eine neue Frisur hatte und einen schöneren Garten als Marion Ermerich, die ihre Wäsche immer freitags wusch und draußen aufhing. Oder dass das Pferd von Oskar Trendel, dem Obsthändler schon wieder lahmte. Die üblichen Sachen zwar, aber sie fielen jetzt auf, weil jeder wachsam war. Das Leben war auf einmal spannender als zuvor, also bevor Heiner sagte, Karl sei ein Schuft. So kam eigentlich niemand auf die Idee, Karl zu fassen zu kriegen, ihm den Prozess zu machen und ihn einzusperren.

Am vergangenen Mittwoch während des Wochenmarktes entdeckte Gerda Liebkell einen Mann, der vor dem Markt-Café stand und aufmerksam das Marktgeschehen beobachtete. Zwar rauchte er keine Zigarette, wie man vermuten könnte, aber er hatte seine Hände in den Jackentaschen. Sehr verdächtig, dachte Gerda Liebkell und schaute immer wieder hin. „Unverhältnismäßig lange steht der nun schon unbeweglich da. Das muss Karl sein“, dachte sie und fürchtete sich ein bisschen. Sie war froh, als sie Oskar Trendel hinter seinem Obststand sah, und lief schnell hinüber.
„Da drüben steht Karl“, sagte sie ganz aufgeregt zu ihm.
„Wo?“, fragte Oskar.
„Na, da drüben. Beim Markt-Café.“
„Der Mann da, der seine Hände in den Jackentaschen hat? Das soll Karl sein?“
„Ja, wenn ich‘s doch sage. Das ist Karl. Ganz sicher ist er das.“
„Karl hat doch einen Schnauzbart. Aber der da drüben ist glatt rasiert“, antwortete Oskar.
„Den hat er sich bestimmt abnehmen lassen, um nicht erkannt zu werden“, meinte Gerda Liebkell.
Da mischte sich Marion Ermerich ein, die alles vom Fischstand nebenan mitgehört hatte.
„Der Karl hatte nicht nur einen Schnauzbart, sondern einen richtigen Bart, einen ziemlich ungepflegten.“
„Woher weißt du das?“, fragte Gerda spitz zurück.
„Na, ich hab ihn doch gestern Abend erst wieder gesehen, wie er hinter den Gärten rumschlich. Und außerdem trägt Karl gar keine Jacke. Er hat einen lumpigen langen Mantel an und raucht wie ein Schlot.“
„Den Mann da vor dem Café hab ich schon öfter gesehen. Das ist nicht Karl“, meinte Oskar.
„Es muss aber Karl sein. Er hat so ein düsteres Gesicht und dunkle Haare – genau wie Karl“, beharrte Gerda.
„Stimmt ja gar nicht. Karl hat lange, graue schüttere Haare und trägt sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden“, entgegnete Marion und wurde ziemlich laut.
Gerda war ganz entsetzt, wie weit andere Leute von der Wahrheit entfernt sein konnten. Aber es war mal wieder typisch für Marion und Oskar. Die waren schon immer gegen sie eingestellt.

Inzwischen hatte sich eine kleine Menschentraube an Oskars Stand gebildet.
„Ihr wollt ja der Wahrheit gar nicht ins Auge sehen!“, rief Gerda empört.
„Das kann man von dir genauso sagen. Wir sind in der Mehrheit, die sagen, dass da drüben kein Karl steht“, erwiderte Marion Ermerich.
Triumphierend schaute sie sich in der Menge um, und alle nickten ihr zustimmend zu.
„Und ich meine, du solltest dich entscheiden, was du bei mir kaufen willst, oder mach Platz, damit ich meine anderen Kunden bedienen kann.“
Oskar Trendel wurde energisch. Er hatte nur einen kleinen Marktstand, aber sehr gute Ware. Darauf war er stolz. Am Mittag, als er seine Einnahmen zusammenrechnete, war er erst recht stolz, denn er hatte an diesem Morgen so viel verdient wie schon lange nicht mehr. Das hatte er eigentlich Karl zu verdanken, wenn man es genau nimmt. Ohne ihn hätte es keine solche Menschenansammlung um seinen Marktstand gegeben. Oder musste er Gerda Liebkell dankbar sein? Darüber wollte er nicht so recht nachdenken.

Für Gerda Liebkell war es ein harter Schlag, dass man ihr nicht glaubte. Wütend, aber hoch erhobenen Hauptes verließ sie Oskars Obststand. Sie wollte keinesfalls in die höhnisch grinsenden oder mitleidig lächelnden Gesichter der anderen blicken müssen. Aber sie wollte allen zeigen, dass sie eine neue schöne, teure Frisur hatte. Vor lauter Aufregung war sie einfach blind geradeaus gelaufen. Beinahe hätte sie Pauls Frau übersehen und umgerannt.
„Gerda, du hast es aber eilig“, sagte Pauls Frau, „gibt’s was Neues?“
„Ach, rutscht mir doch alle den Buckel runter!“, antwortete Gerda mürrisch.
„Hey, stimmt was nicht?“, fragte Pauls Frau.
„Siehst du den Mann da drüben vor dem Markt-Café?“
„Da ist kein Mann vor dem Markt-Café.“
„Doch, da steht Karl. Ich hab ihn genau erkannt.“
„Glaub mir, da steht kein Mann. Wie sieht er denn aus?
„Er hat einen Schnauzbart und dunkle Haare und hat seine Hände in die Jackentasche gesteckt.“
„Also, alles, was recht ist – da steht überhaupt kein Mann. Noch nicht einmal eine Frau oder ein Kind. Nichts und niemand. Du siehst Gespenster.“
„Aber die anderen haben ihn doch auch gesehen“, verteidigte sich Gerda.
„Mag sein. Vorhin vielleicht. Aber jetzt ist da niemand mehr.“
Verwirrt schaute Gerda zum Café hinüber. Sie musste Pauls Frau Recht geben. Der Mann war weg.
„Der hat so auf den Markt gestiert. Richtig unheimlich war das.“
„Und das war Karl? Aber der hat doch gar keinen Schnauzbart.“
„Sag ich doch. Der war glatt rasiert.“
„Du hast aber behauptet, der hätte einen Schnauzbart.“
„Ach, ich bin ganz durcheinander. Der Oskar hat gesagt, er hätte einen Schnauzbart und Marion sagt, er habe einen Vollbart und komische Haare. Also du sagst auch, dass er keinen Schnauzbart hat? Das ist gut. Dann sind wir schon zwei.“
„Karl hat noch nie einen Schnauzbart gehabt, auch keinen Vollbart oder einen Dreitagebart. Er mag das nicht mit den Stoppeln im Gesicht.“
„Wusste ich doch, dass es Karl war. Er ist ein unangenehmer Kerl mit so einem stechenden Blick, einem so durchdringenden“, ereiferte sich Gerda Liebkell. „Wir gehen zur Polizei und melden, dass wir ihn gesehen haben.“
„Lass uns schnell noch einen Cappuccino trinken, dann gehen wir“, schlug Pauls Frau vor.
Gerda ließ sich nichts anmerken, aber behaglich fühlte sie sich nicht, als sie das Café betraten, vor dem vorhin noch Karl gestanden hatte. Unruhig blickte sie umher und schon hatte sie Karl entdeckt. Er saß mit dem Rücken zu ihnen beiden am zweiten Tisch am Fenster.
„Da! Vor dem Fenster sitzt er“, flüsterte Gerda und gab Pauls Frau ein Zeichen mit dem Kopf. Pauls Frau fragte etwas ungläubig: „Das soll Karl sein? Den hab ich mir ganz anders vorgestellt. Viel dicker.“
„Vielleicht hat er ja abgenommen, weil er mitbekommen hat, dass wir ihn alle beobachten, und das setzt ihm zu. Geschieht ihm recht.“
„Wir lassen ihn nicht aus den Augen. Und wenn er aufsteht, gehen wir hinterher“, sagte Pauls Frau.
„Das ist doch gefährlich. Wenn er uns entdeckt? Was meinst du, was er dann mit uns macht? Am besten ist, wenn wir mit dem Handy von hier aus die Polizei anrufen.“
„Machst du es oder soll ich es machen?“
„Mach du“, meinte Gerda Liebkell etwas kleinlaut. Sie ließ Karl nicht aus den Augen.
„Gut, aber ich hab keinen Empfang hier. Ich geh mal raus vor die Tür.“

An der Tür wäre Pauls Frau beinahe mit Gretel zusammengestoßen, die mit ziemlichem Schwung ins Café kam und sich an den Tisch zu Karl setzte und mit ihm plauderte.
„Jetzt macht sich dieser Schuft schon an die Gretel ran“, dachte Gerda bitter. „Es wird Zeit, dass wieder Ordnung einkehrt.“
Aber wie erstaunt war Gerda, als sie den Bürgermeister sah, wie er von draußen durchs Fenster schaute, Karl und Gretel entdeckte und ihnen freundlich zunickte. Die winkten zurück. So eine Vertrautheit mit Karl, dem Schuft? Wie geht denn das? Jetzt war es klar, warum niemand sich an Karl heranwagte: Der Bürgermeister hielt seine schützende Hand über ihm und hat alle Maßnahmen unterdrückt.

Pauls Frau kam zurück.
„Ich habe es mir draußen anders überlegt und Heiners Frau angerufen und erst mal nicht die Polizei. Ich wollte sicher sein, dass wir wirklich Karl vor uns haben. Sonst blamieren wir uns womöglich grässlich. Das meinst du doch auch?“, fragte sie.
Gerda nickte ergeben, wollte aber doch wissen, was Heiners Frau gesagt hatte.
„Wenn so viele Leute so viel Unterschiedliches sagen, ist doch etwas faul an der Sache, hat sie gesagt.“
Pauls Frau steckte wohl auch mit dem Bürgermeister unter einer Decke, dachte Gerda. Und Heiners Frau wollte anscheinend auch nicht richtig zupacken. Was leben wir doch nur in einer verkehrten Welt! Keiner wollte gegen Karl etwas unternehmen.
„Aber Heiners Frau muss doch wissen, wie Karl aussieht. Schließlich hat Heiner ja als erster Karl sei ein Schuft gesagt.“
„Sie hat sich dazu nicht geäußert und kommen wollte sie auch nicht. Sie hat zu viel zu tun.“
Gerda stand auf. Langsam wurde es ihr zu bunt. Sollte die Welt schlecht bleiben, wie sie war. Es war ihr egal und würde sie nicht mehr berühren.
„Macht doch, was ihr wollt!“, sagte sie zornig, zahlte ihren Cappuccino und ging verdrossen nach Hause.

An dieser Stelle kam ich ins Stocken. Ich konnte mir gar nicht recht vorstellen, wie die vielen Personen zu Karl stehen – ob sie alle gegen ihn sind oder ob er doch heimliche Mitwisser hat, die seine Umtriebe unterstützten. Ich suchte zwischen all den Informationen über Karl nach der Wahrheit über Karl. Dabei weiß ich noch nicht einmal, wie er wirklich aussieht, und, was noch schlimmer ist, ob es Karl überhaupt gibt. Vielleicht ist er nur ein Gerücht? Vielleicht ist aber auch bisher schon alles gesagt, was wichtig ist – unwichtig, ob es Karl gibt oder nicht.

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Beitragvon Nifl » 25.02.2017, 18:14

Hallo Tulpenrot,

eine sauber geputzte Geschichte zeigst du da. Liest sich flüssig. Vom Duktus her habe ich das latente Gefühl, hier soll mir eine Moral veranschaulicht werden. Das Schwarze Schaf, das Karl-Phantom, steigert sich immer mehr in die Köpfe der Kleinstadt (Dorf hätte ich nicht geschrieben), bis es zur großen Hetzjagd auf einen Unschuldigen kommt. Aber nein, das wendest du vorher ab, lenkst die Massenhysterie wieder auf ein einzelnes Subjekt, die Gerda. Schön, wie sie hinter allem eine Verschwörung wittert und sich ihres Standpunktes treu bleibt.
Insgesamt ist mir alles zu wage gehalten, selbst der Café-Karl wird nicht aufgeklärt. Auch würde ich etwas kürzen, der Text hat doch seine Längen. ZB. der Obststandbetreiber, auch hier denke ich sofort -aha, jetzt kommt der "Kriegsgewinnler" ... aber irgendwie erfüllt sich das dann auch nicht.

Ein Text, der mich hinter jeder Ecke eine Moral suchen lässt, obwohl ich moralische Texte nicht mag, aber wenn ich meine, ich hätte sie gefunden, schlägt die Autorin wieder einen Haken und legt schützend die Hände über die Moral der Geschicht.

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 26.02.2017, 09:06

Hallo Nifl,

danke für deinen Kommentar.
"Sauber geputzte Geschichte" ist ein freundlicher Ausdruck , der mir bisher noch nicht begegnet ist. Fand ich nett.

Es ist für mich immer sehr interessant zu beobachten, was Leser in meinem Text entdecken. Hier scheint es die Moral zu sein. Also erwartet man offensichtlich den erhobenen Zeigefinger, eine Standpauke oder einen moralisierenden Schluss. Ich werde die Geschichte in dieser Hinsicht noch einmal sorgfältig überprüfen, wo die entsprechenden Stichworte für eine solche Interpretationsweise sein könnten. Ich hatte jedenfalls nicht die Absicht, dem Text diese Richtung zu geben.

Mir ist bewusst, dass eine Geschichte, die keine Auflösungen anbietet, eine Herausforderung für den Leser darstellt. Ich wollte erproben, ob ein solcher Text überhaupt funktioniert. Ich wollte einen Sachverhalt in eine Geschichte verpacken, ihn anschaulich machen und wollte auf ein mögliches Breittreten verzichten. Der Text hat etwas mit "Wahrheit" zu tun. Ich dachte, dass die Hinweise in Überschrift und Schluss für den Leser ausreichend seien.

Du schlägst vor, den Obsthändler wegzulassen - dabei dachte ich, dass gerade diese Person eine Schlüsselinformation liefert, wie ja jede Person eine Detail-"Wahrheit" über Karl beisteuert. Dein Einwand weist jedoch zu Recht auf einen Umstand hin, den ich zu wenig bearbeitet hab: Es kommen zu viele namentlich genannte Personen vor. Ich mache mit ihnen zu viele Töpfe auf, die ich später nicht weiter bediene. (Berthold z.B.)

Ganz in meinem Sinne schreibst du von Karl als dem Phantom. Man wird ihn immer wieder suchen müssen und immer, wenn man denkt, man hat ihn, ist er weg. So dachte ich es mir. So wollte ich Karl darstellen.

In meinem Kopf gab es mehrere Varianten für ausführlichere Versionen dieses Textes und auch für einen "üblichen" Schluss. Ich hatte aber Sorge, dass ich zu ausladend werde, die Geschichte aber keinesfalls besser, und entschloss mich, sie einfach Hals über Kopf abzubrechen und es dem Leser zu überlassen, wie er die Geschichte selber weiter erzählt.

Ich lasse das jetzt erst einmal so ruhen, vermute aber (ich kenne mich), dass es eines Tages eine andere Version geben könnte. Auch wenn ich hier lange nichts mehr gepostet habe, war ich in den vergangenen 10 Jahren nicht untätig. Es sind Hunderte Texte entstanden und viele meiner Texte habe ich immer und immer wieder überarbeitet. Dieser Karl-Text hier ist ein aber kein alter, sondern ein neuer Text, also keiner aus der Schublade. :-)

So, nun habe ich genug aus dem Nähkästchen geplaudert.

Einen schönen Sonntag
tulpenrot

edit: fehlendes Komma eingefügt
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Beitragvon Nifl » 26.02.2017, 15:00

Na, das nenne ich mal ein substanzielles Feedback. Um Wahrheit, aha, ja, das schwante mir auch, als der Text sich Gerda intensiver widmete. Und ich teile deine Einschätzung, die Figuren etwas einschränken zu wollen und ein wenig mehr zu fokussieren. Es ist ja doch noch sehr verbreitet in allen Gesellschaften nur zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu differenzieren, die Selektivität der Wahrnehmung außer Acht lassend, als sei die Wahrheit irgendwas Festgeschriebenes.

Und was? Deine zehnjährige Textarbeit wirst du uns aber nicht vorenthalten, oder?

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)


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