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Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 01.03.2017, 21:07

„Ich stecke mir frisches Gelb ins Haar“, riefst du fröhlich vor unserem Aufbruch. Als wir dann durch die alten staubigen Straßenschluchten wanderten von düsteren Dohlen geleitet, trug ich mein Leben auf der Hand. Aber dein Haar glänzte.
„Früher gab es hier doch Nachtigallen“, sagtest du verwundert.
Jetzt eilte uns das Gekrächze der Dohlen voraus und folgte uns unerbittlich bis ans Ende des Weges, bis nahe an den Rand, bis es nur noch Tiefe gab und keinen Himmel.

Dort zogen die Vögel ihr fahles Federkleid aus, flatterten ungelenk mit ihren faltigen Schwingen und nickten mit ihren kahlen unverständigen Köpfen. Vergilbt war ihre Haut über die Jahre, feiner Wüstenstaub hatte sich in ihre Furchen gelegt. Vergeblich trippelten sie auf papiernen Füßen suchend umher. Sie konnten keinen Mutterboden und kein Vaterland mehr finden. Ihr Land war bis zur Unkenntlichkeit vertrocknet.

„Sie hatten keine andere Wahl“, sagtest du voller Mitleid, und ich war erschüttert. Wir legten ab, was wir mitgebracht hatten, dein frisches Gelb und mein Leben, und bedeckten die Tiefe damit. Du schautest nach den Wolken.
„Endlich ist der Himmel dunkel“, stelltest du zufrieden fest.
„Es wird bald regnen“, rief ich den federlosen Dohlen zu.
Wir überließen sie dem kommenden Regen und kehrten um. Erst später schauten wir zurück.
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

Nifl
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Beitragvon Nifl » 02.03.2017, 18:05

Hallo Tulpenrot,

so:


„Ich stecke mir frisches Gelb ins Haar“, riefst du. Als wir dann durch die Straßenschluchten wanderten von Dohlen geleitet, trug ich mein Leben auf der Hand. Aber dein Haar glänzte.
„Früher gab es hier doch Nachtigallen“, sagtest du.
Jetzt eilte uns das Gekrächze der Dohlen voraus und folgte uns bis ans Ende des Weges, bis an den Rand, bis es nur noch Tiefe gab und keinen Himmel.

Dort zogen die Vögel ihr Federkleid aus, flatterten und nickten mit ihren Köpfen. Vergilbt war ihre Haut, Wüstenstaub hatte sich in die Furchen gelegt. Sie trippelten auf papiernen Füßen umher, konnten keinen Mutterboden und kein Vaterland mehr finden. Ihr Land war vertrocknet.

„Sie hatten keine Wahl“, sagtest du. Wir legten alles ab, dein frisches Gelb und mein Leben und bedeckten die Tiefe damit. Du schautest nach den Wolken.
„Endlich ist der Himmel dunkel“, stelltest du fest.
„Es wird bald regnen“, rief ich den Dohlen zu.
Wir überließen sie dem Regen und kehrten um. Erst später schauten wir zurück.


würde ich den Text sehr sehr mögen. Ich finde deine wunderbar lyrischen Anklänge brauchen Luft und Freiraum. In Ursprungsversion fühlt es sich für mich etwas Unsicher an, als hättest du Angst gehabt, der Leser verlöre sich in den Zeilen und du müsstest alles doppelt unterstreichen, erklären und herausstellen. Aber das schadet dem Text für mich.

Aber egal wie, schöner Text mit viel Tiefgang!

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 02.03.2017, 18:59

So ohne Adjektive, so kahl wie eine Zeitungsnotiz? So magst du den Text? Mit Unterstreichen oder Verdoppeln hat es nichts zu tun - nur mit "Vernüchterung". Aber gut - ich kann damit leben. Und ich freu mich, dass du dich überhaupt mit dem Text befasst und was dazu geschrieben hast. Danke!
LG tulpenrot
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 02.03.2017, 19:21

Ja, so mag ich das, aber ich bin in der Hinsicht auch extrem.

nur mit "Vernüchterung

Nö, das ist mehr Raum...

Danke fürs Zeigen des vielschichtigen Textes.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 02.03.2017, 20:23

Bitte - jeder Text ist ein Versuch, ein Angebot an den Leser...

Ich versuche dein Anliegen der Raumgewinnung zu verstehen ...
Vielleicht meinst du, meine Version sei zu dick aufgetragen?

An einer Stelle, an der mit den entfederten Vögeln, legt sich bei mir der Wüstenstaub in die faltige, furchige Haut der Vögel. Bei deiner Version können das auch Boden-/Ackerfurchen sein.

Aber wirklich - alles ist eher Geschmackssache und deine Version behält auf jeden Fall auch ihre Berechtigung - ich versuche demnächst mal einen anderen Text vorzulegen.

LG
tulpenrot
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 02.03.2017, 20:43

Also ich bin Maler, und ich verstehe bei bestem Willen nicht, warum das Entfernen der Information "alt und staubig" das Bild verbessern soll.

Vorher: "durch die alten staubigen Straßenschluchten"

Nachher: "durch die Straßenschluchten"

Ehrliche Frage: Was soll dieser Kahlschlag? Es interessiert mich wirklich.

Und dann heisst es immer "Show, don't tell". Ja nun, "Straßenschluchten" allein ist nicht viel Show. Wie muss ich mir die Straßenschluchten ausmalen? Wenn sie alt aussehen, und wenn da Staub herumliegt, dann nenne diese Begriffe "alt" und "staubig" eben doch auch, Nifl.

Ist wahrscheinlich Geschmackssache. Ich steh nicht so sehr auf Strichmännchen-Skizzen.

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Beitragvon Nifl » 02.03.2017, 21:06

Hallo Pjotr,

diese Verödung/das Vertrocknen durchzieht den ganzen Text, es ist -um in der Malersprache zu sprechen- das Motiv des Textes, bis der "große" Regen (die Befreiung) kommt.
Darob ist die explizite Benennung überflüssig -um in der Malersprache zu sprechen- es fügt dem Bild in meinem Kopf nichts hinzu. Auch dass sie "alt" sind, müsste nicht benannt werden, weil ja schon früher Nachtigallen dort sangen.

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Beitragvon Pjotr » 02.03.2017, 21:45

Hallo Nifl,

in dieser Hinsicht möchte ich dann fragen, wo die Grenze der gewollten Verödung liegt; wie konsequent willst Du das durchziehen? Ich meine, in dieser Hinsicht ist auch die Information "Straßenschluchten" überflüssig. Konsequenterweise müsste der Satz so verödet werden:

"Als wir dann durch die alten staubigen Straßenschluchten wanderten von düsteren Dohlen geleitet"

"Als wir dann durch die Straßenschluchten wanderten von düsteren Dohlen geleitet"

"Als wir dann wanderten von düsteren Dohlen geleitet"


Ahoy

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Beitragvon Nifl » 03.03.2017, 15:56


in dieser Hinsicht möchte ich dann fragen, wo die Grenze der gewollten Verödung liegt; wie konsequent willst Du das durchziehen?

Es geht nicht darum, irgendwas durchzuziehen. Was du suchst, ist wohl eine Formel, die es selbstverständlich nicht gibt.
Und natürlich sind Grenzen sehr variabel, was viele lyrische Texte ja schon eindrucksvoll bewiesen haben. Meine Veränderungen haben keinen Informationsverlust erzeugt, was aber der Fall wäre, wenn du zB. Straßenschluchten strichest. Für mich sind Straßenschluchten sehr wichtig in diesem Text, sie geben nicht nur das Setting vor, sondern evozieren ein dezidiertes Gefühl, sind -für mich- also kein Tand.

Aber wie schon mehrfach geschrieben, ist es auch ein gutes Stück Geschmacksache und auch genrespezifisch. Chick lit, Heimatkrimis oder historische Romane ua. weisen oft eine "völligere" Sprache auf. Thomas Mann ist auch so ein Speckschreiber und der hat ja -für mich vollkommen zu Unrecht- bekanntlich Heiligenstatus. Kafka hingegen...

Ich bin ein Verfechter des "Hamburger Vertrages"(aber auch nicht dogmatisch).
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Beitragvon tulpenrot » 03.03.2017, 19:02

Bisher ist mir der Verzicht auf Adjektive eher in der Lyrik begegnet. Eine Überschwemmung von inhaltsleeren Adjektiven finde ich auch nicht gut. Dass ich in diesem Text mit ziemlich vielen Adjektiven gearbeitet hab, war keine Kopf-, sondern eine Bauchentscheidung, die man aber überdenken kann.

Ich hab mit einer "Entschuldigung" geliebäugelt, die Nifl mir jetzt geradezu vor die Füße wirft: Ich lese gerade Thomas Mann. ;-) Sein Einfluss ist schuld!
Nur - das hat eigentlich nichts mit dem Text zu tun, ehrlicherweise muss ich zugeben: der Text ist nicht so ganz neu. Es klafft da eine Zeitspanne von etlichen Monaten zwischen Textabfassung und Lesen von Th. Mann - und meine Entschuldigung taugt also nicht. Schade!

Nachtrag: Ich habe vor, den Text noch mal durchzugehen, um dann zu entscheiden: Lass ich ihn so, wie er ist, übernehme ich die vernüchterte Version oder gibt es ein Mittelding?
(oohoohh RSFehler -- ich bin in Eile)
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Beitragvon Nifl » 04.03.2017, 09:37

Du wirst den richtigen "Weg" finden, für dich muss das stimmen, für niemanden sonst.
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Beitragvon Pjotr » 04.03.2017, 09:59

Nifl hat geschrieben:Ich bin ein Verfechter des "Hamburger Vertrages"(aber auch nicht dogmatisch).


Gut, dass Du das nicht dogmatisch verfechtst ... verfichtst ... verfechten tust.

https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Dogma

Liest sich wirklich gut.

Aber engt sicherlich auch ein, langfristig.

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Beitragvon tulpenrot » 04.03.2017, 10:09

Hab jetzt den link besucht - da ist aber nicht von einem generellen Adjektiv-Verbot die Rede, sondern nur von wertenden Adjektiven. Und die Vorgabe, dass man nur im Präsens schreiben soll, ist doch gar nicht durchführbar. Und das mit der Satzlänge - darüber musste ich schmunzeln - kennt jemand von euch:
Friedrich Christian Delius: Bildnis der Mutter als junge Frau?
Da geht ein einzelner Satz über 128 Seiten! Und ist gut lesbar.
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Beitragvon Nifl » 04.03.2017, 10:22

Ja, der "Vertrag" ist natürlich in seiner Rigidität auf Provokation und Medienwirksamkeit ausgerichtet. Aber in allen Stilfibeln steht im Grunde das Gleiche geschrieben vom Tenor her. Dass die Autorenschaft bei so einer vermeintlichen Einengung auf die Barrikaden geht, ist eh klar, wenn ich bedenke, was die für einen lächerlichen Aufstand gemacht haben, als die Rechtschreibung ein bisschen logischer wurde.
Wieso, Tulpenrot, ist Präsens nicht möglich?
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