Ich suchte nach Vergangenem

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 02.05.2017, 22:49

Ich suchte nach Vergangenem
-beim Betrachten eines Bildbandes-

Es ist, als könnte ich in meiner Vorstellung an den abgebildeten alten Gartenzäunen entlanglaufen - brüchig und ausgeblichen ihr Holz -, nach den ehemals geharkten Wegen suchen, doch ich finde sie nicht mehr. Warum knirscht kein Sand mehr unter den Sandalen? Warum sind jetzt die Straßen und Wege uneben und steinig, die Häuser verlassen? Ihre Mauern reißen und bröckeln, ihre Dächer sitzen schief. Die Gärten sind verwildert.

Ich hätte so gerne einen dicken Strauß aus Rosen, Phlox und Lupinen, aus Sonnenblumen, Ringelblumen und Malven, vielleicht auch aus Dahlien und Astern. Das üppige Blühen hatten Brennnesseln und Kletten überwuchert, es war erstickt an Sauerampfer und Giersch.

Dennoch kommt es mir vor, als ob ich zwischen den Häuserreihen und Wandnischen die Stimmen der Menschen von damals höre. In ihrer harten Sprache reden sie vom Leben der Fischersleute, vom Schuster nebenan und dessen Frau und seiner Tochter, die Hutmacherin wurde. In dem Holzhaus dort drüben auf der anderen Straßenseite könnten sie alle gewohnt haben, bis sie fliehen mussten. Der ehemals weißblaue Außenanstrich des Hauses ist verwittert, löst sich in Fetzen von den Wänden.

Über den Jungen der fleißigen Hutmacherin staunt man im Ort. Flugingenieur sollte er werden, dachten sie. Man sah ihn oft, wie er selbstgebaute Flugzeugmodelle auf ihre Flugtauglichkeit prüfte. Er lernte das Segelfliegen an der Küste, gehörte zu den Stärksten, die das Segelflugzeug an Seilen hinaufzogen auf die Düne, war einer von denen, die sich am längsten in der Luft halten konnten. Wie viele seiner 16-jährigen Freunde wollte auch er frei wie ein Vogel sein und über den Wolken schweben.

Er sprang im Sportunterricht am weitesten, im Diskuswurf und Kurzstreckenlauf übertraf er die anderen. Für die Olympiateilnahme hätten seine Leistungen sogar gereicht, erzählt man, aber das Geld war zu knapp für einen Trainer. Und dann kam der Krieg und schob ihn unbarmherzig vor sich her, hob ihn in die Lüfte und ließ ihn wieder fallen. Er kam mit dem Leben davon, aber kehrte nie mehr zurück in sein Land.

Dennoch vergaß er nie das Tosen des Meeres, das Knacken der Eisschollen im Winter an der Küste, den Krähenschrei in den Föhren, das Klappern der Störche hoch oben auf den Türmen und Schornsteinen oder das Erschrecken vor dem plötzlich auftauchenden Elch in den dunklen Wäldern. Unruhig blieb er, suchte nach Gegenden, die seinen frühen Erinnerungen verwandt waren. Und er erzählte davon, gab seiner Sehnsucht in seiner Malerei Form und Farbe. In seinem Garten legte er jahrelang neue Beete an und bepflanzte sie mit den Blumen seiner Kindheit und Jugend.

Mir ist beim Betrachten so, als spürte ich den scharfen Seewind, der den Sand der großen Düne herüberweht. Durch ihn werden Jahr für Jahr immer weitere Türen und Fenster zugeschüttet. Die Häuser versinken. Niemand besteigt gerade die Düne zum Segelfliegen – man hat andere Möglichkeiten -, niemand segelt zum Fischen hinaus, an Land verkümmern Netze und Boote. Sie bringen keinen Ertrag.

Mir bleiben Bilder des Gewesenen, die Blumen aus seinem Garten und die Erinnerung an die Stimme des Erzählers. Und ich gehe in den Fotos des Bildbandes umher. Den Begleittext brauche ich nicht.
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 02.05.2017, 23:13

Hallo tulpenrot,
ein sehr schöner Text, den ich gerne gelesen habe!
Ein paar ganz kleine Einwände habe ich trotzdem, aber die haben kaum Bedeutung:
Das üppige Blühen hatten Brennnesseln und Kletten überwuchert, es war erstickt an Sauerampfer und Giersch.

Ich habe den Satz zweimal lesen müssen und dann zuerst so verstanden, dass die Blumen die Brennesseln und Kletten überwuchert haben, dann aber vor Sauerampfer und Giersch kapituliert haben. Das liegt an der Satzstruktur, die sich mir nicht sofort erschlossen hat.
Ich würde jedenfalls "hatten" durch "haben" und "war erstickt" durch "ist erstickt" ersetzen, da Du im Rahmentext Präsens eingesetzt hast. M.M.n. passt das besser.
Dennoch vergaß er nie das Tosen des Meeres, das Knacken der Eisschollen im Winter an der Küste, den Krähenschrei in den Föhren, das Klappern der Störche hoch oben auf den Türmen und Schornsteinen oder das Erschrecken vor dem plötzlich auftauchenden Elch in den dunklen Wäldern.

Du beschreibst Naturphänomene bis zu der Stelle mit dem Elch, dann (quasi am Höhepunkt des Satzes) kommt das "Erschrecken" vor dem Elch, nicht der Elch selbst. Ist das Absicht? Warum nicht "... und den Elch, wie er in den dunklen Wäldern ganz plötzlich auf dem Weg auftauchte" o.ä.?
Den letzten Satz würde ich übrigens streichen. Er beeinträchtigt durch seine Schroffheit den schwebenden Ton des Textes.

Liebe Grüße von Zefira
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Beitragvon tulpenrot » 03.05.2017, 13:53

Hallo Zefira,
danke sehr für deine ausführliche Beschäftigung mit meinem Text. Ich freu mich, dass er dir gefallen hat und dass du gerne darin verweilt bist.

Deinen ersten Einwand nehme ich gerne auf und ändere den Satz vorläufig in:
"Das üppige Blühen wurde von Brennnesseln und Kletten überwuchert, es war im Sauerampfer und Giersch erstickt."
Vielleicht fällt mir aber noch was Besseres ein... Mal sehen.

Bei deinem zweiten Einwand überlege ich --- es sind nicht alles Naturphänomene, sondern alles substantivierte Verben, die dem Meer, den Eisschollen, den Krähen, den Storchen und zuletzt einem Elch zugeordnet wurden. Von daher sind die Aufzählungsteile gleichwertig. Ich glaube aber, du meinst es anders: Der Prot. erinnert sich einesteils an die Laute aus seiner Umgebung, andererseits, wie er erschrak vor dem Elch. Der Gedanke wechselt also in eine andere Dimension. Das ist etwas unglücklich formuliert.
Daher mein vorläufiger Vorschlag:
"Dennoch vergaß er nie das Tosen des Meeres, das Knacken der Eisschollen im Winter an der Küste, den Krähenschrei in den Föhren, das Klappern der Störche hoch oben auf den Türmen und Schornsteinen, auch nicht, wie oft er vor dem plötzlich auftauchenden Elch in den dunklen Wäldern erschrak."


Auf den letzten Satz möchte ich nicht so gerne verzichten - gerade weil er abrupt, hart erscheinen könnte. Ich finde, er gibt dem Text ein wenig Halt, bewahrt ihn vor dem möglichen Abgleiten ins Sentimentale. Und setzt noch einen anderen Akzent, auf dessen Hintergrund die Informationen aus dem Text ein besonderes Gewicht erhalten: Sie sind erlebte Realität, nicht angelesen.

Noch einmal vielen Dank und lG
tulpenrot
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Beitragvon Zefira » 03.05.2017, 15:09

Das leuchtet ein.
Auch die Neufassung des Elch-Satzes gefällt mir sehr gut.
Noch ein Fräglein, ist das ein wirklicher Maler, auf den Du Dich bezogen hast, und kann man online vielleicht Bilder von ihm sehen?

Grüße von Zefira
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Beitragvon tulpenrot » 03.05.2017, 15:52

Ja, es ist ein wirklicher Maler. Er ist unbekannt und daher kann man auch keine Bilder von ihm im Internet sehen (bisher jedenfalls). Wärest du interessiert?
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Beitragvon Zefira » 03.05.2017, 18:02

Wenn Du mal eine Seite aus dem Buch abfotografieren und mir privat über PN schicken magst (nicht öffentlich!), würde ich gerne gucken. Aber falls das viel Aufwand ist, muss es nicht sein ...
Grüße von Zefira
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