Du siehst mich

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Klara
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Beitragvon Klara » 25.05.2017, 15:27

Du siehst mich

Wir haben kein Zuhause für unser Begehren. Im Körper ist es gefangen und füttert die Trauer. Ich führe es aus. Öffentlich Ärger erregen. Die Traurigkeit in der Hosentasche auf später vertröstend.

Eigentlich will ich den mit Sternenaugen. Der mit den Fingern über die Tasten gleitet. Den höre ich und denke Ich liebe dich. Das fühle ich oft, bei Wildfremden, und immer ist es die Wahrheit. Dieser Wahrheit lächle ich zu, wenn es mir möglich ist, aber meistens gucke ich schräg, warum, weiß ich nicht, und die Sternenaugen sehen durch mich hindurch. In der Kirche singe ich und bete. Wenn ich singe, spüre ich mein Herz deutlicher schlagen, sehe die Haut an seinen Wangen heiß werden: mein Körper ein großer Verrat, der zum Himmel fleht.

Ich will verlernen, meine Liebe zu verleugnen, doch kämpfe und strample und finde sie nicht. Ich habe gelernt so zu tun, als hätte ich es nicht nötig, ein geliebter Mensch zu sein. Ist besser so… Die Botschaft steckt wie ein vergifteter Pfeil in meinem Herzen, es sind zwei Pfeile, der Vaterpfeil und der Mutterpfeil. In jeder Herzkammer steckt einer, für Amor war von Anfang an kein Platz frei, gewappnet wurde ich, denn Amor zielt nicht auf die bewehrten, auf die vergifteten Herzen. Darin besteht mein Leben: diese Pfeile herauszuziehen, die achtlos in mich geschossen, achtlos in mir stecken gelassen wurden: Ich war gar nicht gemeint. So schwanke ich zwischen dem Glück und der Trauer, entkommen zu sein. Auf dieser Wippe stehe ich und kann nicht anders. Die Pfeilspitzen sind mit mir verwachsen, so wahr mir Gott helfe. „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“, werde ich in der Kirche gesagt bekommen, ein Auftrag, den ich versuche zu erfüllen mit jedem Schritt, den ich tue, mit jeder Begegnung, die ich wage. Suche ich, fragend: Ist das Alte vergangen? Wer sieht? Was neu wird?

So werde ich in einem fort und liebe die fernsten Menschen, koche aus Liebeskrümeln meine karge Buchstabensuppe. Aus Blicken und nimmermüder Hoffnung, aus Verlorenheit und Schmerz. Meine Heimatsuppe. Der Junge mit den Sternenaugen wird sie nicht zu schmecken bekommen, dennoch hat er sich an den Pfeilen vorbei geschummelt, er ist schmal und leicht und gibt mir die Freiheit, ihn mir so anzuschauen, wie ich ihn brauche, denn er ist weit weg und schaut durch mich hindurch. Unsichtbar betrete ich eine müde Bar, die Verabredung mit der Freundin im Rücken. Sie sucht wie ich, findet aber häufiger und muss sich mit Pfeilen nicht plagen.

Ein Viererpack kräftiger Männer sitzt uns im Nacken. Der eine berührt meine Hüfte, nebenbei, ich trete ihm auf den Fuß, er beschwert sich. Wir beginnen ein Gespräch über Alles und Nichts. Ich nehme mir vor: Heute will ich nicht nachgeben, der Müdigkeit nicht, der abwesenden Liebe nicht und auch nicht dem „guten Ton“, nicht der Vergeblichkeit hörig sein, sondern dem, was geboten ist. Bleibe bei mir, neben ihm. Denn es will Abend werden. Früher hatte ich für solche Fälle einen Plan, dann lange nichts, heute glaube ich deutlicher. Heute soll die Lust reichen.

Er sei Kardiologe, Intensivmediziner, Chirurg. Dass er etwas jünger ist, schließe ich aus den geizigen Brocken, die er fallen lässt. Ich nehme mir an ihm ein Beispiel und erzähle fast nichts. Wir gestatten einander die Nachnamenlosigkeit. Er ist breit, er ist schwer. Aus der Ruhe zu bringen. Ich verschiebe den Jungen mit den Sternenaugen in die andere Welt, nach draußen, so wie der Chirurg, hoffe ich, vorübergehend seine Frau daheim aus dem Kopf entfernt und frage mich, was zu tun ist, während mein Bein seines streift. Ich kann das nicht, jammert mein Kopf, während mein Blick seinen trinkt. Ich konnte das nie, rede ich mir ein, während meine Hand seine Schulter nimmt, federleicht. Wie macht man das. Für eine Weile den eigenen Kopf verlassen und nicht so viel Wissen wollen. Ihm auf den Fuß treten und seine pflichtschuldige Beschwerde als das nehmen, was sie ist: eine Einladung.

Der Arzt pendelt zwischen freundlich und grob. Pariert meinen Eigensinn. Kommt nicht umhin, mir stummzu offenbaren, dass er, dass dieser Abend zur Verfügung steht. Einen anderen haben wir nicht, nehmen wir den. Einmalig heimatlos wie jede Sekunde, wie jedes Begehren in seiner Einförmigkeit. Sein Körper widerspricht seinen ungeschickten Worten, dort sitzt sein Wollen und bittet um meine Erlaubnis. Da zu sein. Siehst du mich? Ich signalisiere, dass die Erlaubnis erfolgen wird. Wie mache ich das? Stückweise. Lasse meine Finger kurz in seinen liegen, seinen Schenkel an meinem. Der Kopf erinnert mich: Es ist lange her. Ich kann das nicht. Bin abonniert auf die Wunderfalschen, die Fernen, die Sternenaugen. Mahnt: Dies hat keine Zukunft. Jedoch eine Gegenwart, entgegnet mein Körper. Jede Gegenwart hat ihre Gelegenheit. Dieser Mann braucht meine Liebe nicht, will nur mein Jetzt. Das will ich ihm schenken, auch wenn der Kopf ständig dazwischen redet, so dass jede Geste eine Entscheidung erfordert.

„Nur in der Gegenwart begegnen wir Gott“, werde ich den Pater in der Kirche hören. Das wird wahr sein. Wie jede Liebe. Wie jede aufrechte Berührung, der Gegenwart hingegeben, ist Gott Gegenwart, werde ich denken. Gott ist jetzt. Καιρός. Der sein wird und immer war. In jedem Fall. Gibt uns heute die Reinheit der von keiner andern als der Gegenwarts-Liebe getrübten Lust. Während ich dies, mich „erinnernd“, schreiben werde, hätte sie längst schlafen gegangen sein müssen, doch mein pochendes Geschlecht wird sie wach halten. Die Gegenwart wird vergangen sein und doch in mein Jetzt pochen. Hier. In diese Buchstaben.

Was er nicht sagt, ist deutlich, wahr und fordernd: Der ganze Mann ist eine unwillige Erlaubnis zum Anfassen. Ich darf nicht nur – ich soll. So steht es auf seiner Stirn.
Ich staune.
In seinen Augen: Glimmen. Bedürftigkeit. Er betrachtet mein Kreuz, das sich für einen Moment aus der Bluse hervorwagt. Ich glaube an nichts, sagt er. Darauf besteht er. Kein Gott. Keine Seele. Aber er sei tolerant. Bringt mich zum Lachen. Alles Chemie, brummt er. Alles erklärbar. Dieses Zischeln zwischen uns: lächerlich leicht erklärbar. Dann ein letztes Glas (für mich Pfefferminztee) am frühen Morgen. blackbird singing in the dead of night. Bevor die Gegenwart stirbt und in die Zukunft eines beginnenden Tages schmilzt, beschert er mir seine Hände. Ein Leuchten. Ein Lachen von Hilfsbedürftigen. Ich reiche ihm meine Lust, und er weiß tatsächlich etwas damit anzufangen.

Danke lieber Gott im Himmel, flüstere ich in sein Ohr, ohne dass er widerspricht, der große schwere Mann. Wir stehen auf dem stillen Platz in der pulsierenden Großstadt. Ich spüre ihn an mir wachsen, den Mann, breit und dick, ganz ruhig bleibt er, hartnäckig ruhig. Wir stehen und greifen, fassen zu wie die Kinder, benutzen die Bank inmitten der urbanen Unermüdlichkeit um uns herum. Hin und wieder kommt einer vorbei, der schaut weg. Ich kann so schlecht leise sein, gestehe ich, und bin es dann doch, unendlich still für einen Moment der Gnade. Ich streiche ihm über die Narbe am Auge, ein Kindergartenfall, lässt er fallen. Ein Unfall, auf den Schläge folgten. Wenn man auf noch nicht verheilte Wunden schlägt, gibt es eine Narbe, erklärt er. Seine Hände widersprechen den kalten Worten, die ihm widerfahren. Ich stelle die Frage nicht: Passiert dir so was oft? Was geht ihn meine Neugier an. Wir brauchen lange, bis es zum Beschriebenen kommt. Wir brauchen eine stundenlange Nacht. Wir brauchen ein Leben lang. Da heißt es, die Zeit nicht zerreden.

Er könne nichts anderes als Operieren, erläutert er. Leben retten, übersetze ich. Seine Bescheidenheit klingt ehrlich. Unzufrieden. Erkundigt sich immer wieder auf seine stumme Art, ob es erlaubt sei, weiter zu gehen, weiter zu berühren.
Kurz ergebe ich mich, und später werden die Worte dazu fließen, die in jener Gegenwart gefehlt haben werden, denn wir werden einander mit nichts als Bruchsatzstücken beworfen haben, nicht wissend, was wir damit anfangen sollen. Alles, was wir sagen, klingt wie ein Nebeneinander aus verschiedenen Puzzlespielen. Es stört uns kaum. Hindert uns nicht, dass kein Wort stimmt und jedes zu viel wär‘, im Grunde. Er spricht meinen Namen nicht und beantwortet mit behutsamer Hartnäckigkeit mein Begehren. Fremd sind wir, und berühren einander in kindlichem Zutrauen. Heiter in der fremden Nacht. Nimmt er meine Lust, verdient meine Erfüllung, doch sein Manna hält er zurück. Er behauptet, ich sei begabt, doch ich kenne mich besser und schüttle reflexhaft den Kopf. Mir fehlt die Geduld. Ich habe genug. Er rührt mich, aber jetzt will ich gehen.

Für den Abschied reichen Sekunden. Es ist Morgen. Ich bin frei. Das nachhallende Begehren behütet mich ein Stück des Wegs, denn mein Körper hat es noch im Blut. Erst nach dem kurzen Schlaf werde ich mich wundern: Keine Sekunde. Hatte ich Angst, er könnte mir weh tun. Kein Griff ein Übergriff. Mit keinem Wort hat er bedroht.

Ich werde eine Kerze anzünden und ein Gebet sprechen, noch bevor ich zum Gottesdienst gehe. Wenn Sünde ist, was ich tat, werde ich sie in Reinheit begangen haben. Wenn Sünde ist, von Gott getrennt zu sein, werde ich ihn ganz nah spüren. Wenn ein Rückfall ist, was ich zuließ, werde ich um den Widerspruch bitten, es sei dennoch ein Fortschritt, überhaupt zu fallen, ohne über die eigenen Füße zu stolpern, während ich seiner geschickten Zuwendung wie einem guten Gespräch nachspüre. Ich werde den Tag begrüßen mit seinen Gesten des Alltags, Gesten der Gegenwart.

„Freiheit zum Leben“ wird der Pastor predigen. Ich werde ihm genau zuhören, zweifeln, hoffen und meine Traurigkeit griffbereit in der Hosentasche spüren. Dem mit den Sternenaugen beim Tastenberühren lauschen und auf keinen Fall hinsehen. Wir haben kein Zuhause in unserm Begehren.
Zuletzt geändert von Klara am 07.06.2017, 11:22, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 06.06.2017, 18:25

Liebe Klara,

der Text hat mich sehr berührt, er ist so offen und zugleich standhaft, dabei verkopft, aber eben mit Anbindung an diese
Stunden Energie geteilter und doch einsamer Stunden, aus der sich die Gedanken erheben.

Für mich wird so sichtbar, wie es allen diesen Menschenwesen geht, wie die Stadt und alles darin lebt, weint, Pläne schmiedet, verzagt, wie alle zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind und nicht nur man selbst - Menschen begegnen sich, sehen etwas von einander und sehen viel mehr nicht, teilen etwas und teilen wiederum zugleich auch nichts, möchten bei anderen sein, das, was sie tun, mit anderen tun, und sprechen nebeneinander statt zueinander, verschieben die eigentlichen Wünsche, verbringen Jahre damit, fühlen sich schuldig deswegen und auch wieder nicht - die Erkenntnisse sind klein, vielleicht kein Fortschritt, aber sie sind echt, man spürt, dass, zumindest in Momenten, diese Menschen offen bleiben, "da sind" - man sieht sie und hat dadurch das Gefühl auch selbst zumindest ein bisschen gesehen zu werden, auch wenn es wohl nicht so ist. Deshalb finde ich es wunderbar, wie du das Kirchentagsmotto aufgreifst, was vielleicht Anlass, aber nicht Ursache für den Text war?!

Wie sich diese Emotionalitäten mit dem Gedanken und dem Erlebten zu Glauben, Gottesdienst verweben, finde ich sehr natürlich und ursprünglich. Ich als jemand, der wenig Erfahrung mit Kirchbesuchen, Gottesdiensten oder Beten hat, sich an kirchlichen Maßstäben nicht kontrolliert, spüre trotzdem den Zusammenhang und dass es sich auch auf erzählerischer Ebene lohnt, in beide Richtungen: Richtung: Was ist Glauben? Wie lebt man ihn, die Hoffnung, den Verzicht und vieles mehr und Richtung Innen: wo bin ich und was kann ich aushalten, wie bewege ich mich und wo will ich hin.

Viele Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Klara
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Beitragvon Klara » 07.06.2017, 14:03

Dank dir, Lisa!
Deine Gedanken finde ich sehr spannend.
Die Dominanz bzw. Präsenz (Präsens...) der Stadt war mir gar nicht so bewusst.
Verkopft, ja...
*nachdenk* ;)

herzlich
klara


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