Mit der Bitte um Vergebung

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 02.08.2017, 17:40

ob sie nur einmal bei mir übernachten dürfe
[aus Angst vor ihrem Mann]
fragte sie
dazu morgens eine warme Dusche

ich sagte ja

dann wollte sie ein Frühstück haben
später überrraschenderweise ein Mittagessen

ich kochte mit dem, was zufällig noch da war

sie hatte guten Appetit
abends
brauchte sie wieder ein Bett
ungeplant
und frisches Brot

das alte aß ich

und Tee und Schinken
wünschte sie
auch Äpfel, Orangen, Schokolade

sie nahm es
umsonst
selbstverständlich
[sie war ja auf der Flucht]
mein Duschgel, mein Waschmittel für ihre Wäsche
meine Ohren für ihre Nöte
meine Worte für ihren Trost
dazu ungefragt mein Telefon
während ich nicht zu Hause war
[ihr Handyguthaben sei aufgebraucht]
einfach so
und dann weitere Tage und Nächte
unter meinem Dach

als ich diese Sorte Medikamente in ihrem Waschbeutel entdeckte
wollte ich
dass sie geht

nach Wochen kam sie wieder
mähte meinen Rasen
um nicht allein zu sein
um das Alte zu vergessen
sagte sie
und weinte
[sie weint immer
wenn wir uns treffen
auf der Dorfstraße
oder im Supermarkt]

heute rief sie an
sie möchte mit mir spazieren gehen

ich fühle mich schlecht
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

Nifl
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Beitragvon Nifl » 05.08.2017, 09:19

Hallo Tulpenrot,

ein bedrückender Text ist das. Gut ist dir gelungen zu zeigen wie komplex es sein kann zu helfen, aber auch Hilfe richtig anzunehmen und zu danken. Das ist ein Gefüge mit so vielen ungeschriebenen Regeln und Normen. Mir hätte es ein wenig undeutlicher vielleicht noch besser gefallen, also gerade der Grat ausgelotet, dass der Leser unsicher wird, ist das noch legitim oder schon unverschämt, ist das Geiz und Unbarmherzigkeit oder hilft sie genug?
Dieses "Rasenmähdankeschön" gefällt mir ausgezeichnet.

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 05.08.2017, 12:03

Hallo Nifl,
Danke für deinen Kommentar.
Dein Hinweis auf eine "deutlichere Undeutlichkeit" gefällt mir. Vielleicht fällt mir dazu noch was ein, wie das zu bewerkstelligen wäre.
Was mich noch interessieren würde: Ahnt der Leser, warum der Ich-Erzähler eigentlich nur noch ungern weiterhelfen möchte?

Viele Grüße
tulpenrot
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

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birke
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Beitragvon birke » 05.08.2017, 18:12

ja, ein bedrückender text... gut kommt der zwiespalt heraus.
also, ich für mich denke hier an eine frau, die am borderline-syndrom leidet... typisch dafür ist ja offenbar (neben vielen anderen merkmalen) dieses hilfe-suchende, dabei vereinnahmende. gibt man dem nach, wird es immer vereinnahmender, und der hilfe-spendenden person gelingt es immer weniger sich abzugrenzen. und letztlich hilft es der person noch nicht mal. für den hilfe-spendenden eine wirklich schwierige und vertrackte situation.
vielleicht liege ich mit meiner assoziation ganz daneben, aber ich denke, diese lesart könnte durchaus im text stecken. auf jeden fall geht es hier ums abgrenzen, meine ich... und um das dilemma, helfen zu wollen, aber bis zu einem gewissen grad auch eben selbst nicht mehr zu können.
liebe grüße!
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 05.08.2017, 20:55

Hallo birke,
genauso ist es. Wahrscheinlich hättest du im realen Leben alles schneller durchschaut als ich. Der Text ist autobiografisch. Ich kannte die Frau nur flüchtig und wollte ganz unvoreingenommen und unkompliziert helfen, bis ich dann so schrittweise merkte, dass da etwas seltsam war bzw. dass sie unter einer psychischen Störung leidet, die medikamentös behandelt wird - und ich dann den Rückzug antrat. Das Bescheuerte nur ist nebenbei, dass ich in der Vergangenheit oft dachte, dass ich es unfair finde, wenn man psychisch Kranke aus einem "normalen" Umgang so ausgrenzt. Aber es ist irgendwie nicht leicht, da die Balance zu halten, den "richtigen" Weg zu finden zwischen Zuwendung und Abgrenzung.
Also schrieb ich den Text.
Ich finde deine Zeilen jedenfalls hilfreich - ich hätte nicht gewusst, wie ich die Störung benennen sollte - und danke dir dafür.
LG
tulpenrot
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birke
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Beitragvon birke » 05.08.2017, 23:11

liebe tulpenrot, na, jedenfalls hast du mit deinem text die situation wirklich gut erfasst ohne sie zu benennen (die "störung", das phänomen zu benennen) und das ist doch wunderbar, deshalb wirkt der text auch.
und nein, vermutlich hätte auch ich es im realen leben nicht schneller durchschaut, wenn man mitten drin steckt, ist das sehr schwierig! erst im nachhinein oder mit blick von außen lassen sich die dinge leichter "durchschauen"...
ich selbst habe vor vielen jahren schon mal ähnliches erlebt wie du.
und ja, es erscheint einem unfair, aber es gibt psychische störungen (oder wie man es nennen mag), mit denen ist es schwierig umzugehen, da kann es schlicht falsch sein, zu viel aufmerksamkeit zu schenken, zum einen für die person, um die es geht, zum anderen aber auch für einen selbst, weil man dann nämlich selbst an seine grenzen stößt und womöglich mit irgendwo hineingezogen wird, auf psychischer ebene. abgrenzung ist manchmal sehr wichtig.
es gibt einen film aus der reihe "bloch", in dem in einem nebenstrang sehr gut das dargestellt wird, was du hier beschreibst.
überhaupt ist der film großartig, (so wie die meisten filme dieser reihe sehenswert sind!) es geht um eine zwanghafte schriftstellerin, der film heißt "die blaue stunde".
lg
birke
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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 06.08.2017, 08:55

Liebe Birke,
Danke für den Filmhinweis. Ich kenne die Reihe nicht - schaue viel zu selten Fernsehen. Aber vielleicht halte ich mal nach der blauen Stunde Ausschau.
Den einzigen Film zu dem Thema "psychische Störungen" im weitesten Sinne, den ich kenne ist "a beautiful mind". Der ist auch sehr sehenswert. Da geht es um eine Form der Schizophrenie.
Ansonsten hatte ich in meinem Leben schon mehrfach unfreiwillig mit hochproblematischen Leuten zu tun. Da ich vor einigen Jahren umgezogen bin und hier im Dorf nach Kontakten suchte, kam ich zufällig auf der Straße mit dieser Frau ins Gespräch übers Fotografieren. Dass daraus dann eine solch vertrackte Situation entstehen konnte, konnte ich ja nicht ahnen.
Deine Gedanken dazu sind jedenfalls entlastend. Danke noch mal.
LG und einen schönen Sonntag
tulpenrot
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST


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