Remission

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
CPMan

Beitragvon CPMan » 16.09.2017, 23:07

„Weißes Mädchen, weißes Mädchen“, sagt der schwarze Mann mit den dunklen Augen und den langen Fingern. „Weißes Mädchen, du musst sterben. Es tut mir leid, es tut mir leid, dich trifft keine Schuld, aber deine Väter haben unser Land zerstört, sie haben uns beraubt, sie haben uns den Tod gebracht und doch am Leben gelassen. Jeden Tag sehen und fühlen wir den Tod, er ist mitten unter uns, er lacht und weint und isst und trinkt mit uns. Du musst büßen, kleines, weißes Mädchen, du musst büßen für deine Väter. Du musst sterben, damit Amoke und Atonga leben können.“

Heather weinte. Sie verstand nicht, was er meinte, aber sie hatte Angst, entsetzliche, lähmende Angst. Ich will nicht sterben, dachte sie. Dann schrie sie.

*

Bräunlichgelber, trockener, tönerner Sand. Im Sahel in einem Dürrejahr: Ein kleines Kind, allein auf weiter Flur, sitzt auf brüchiger Erde. Ein erbärmlicher, dicklicher Bauch. Aus diesem Bauch ragen vier knochige Gliedmaßen hervor, Beine und Arme, wie Streichhölzer. Der Kopf des afrikanischen Kindes ist auf das Kinn gesackt. Der Blick des Kindes zeugt von der Benommenheit, von der Schwäche, von dem nur Halbdasein des Verlassenen. Fliegen schwirren um die Augen des Kindes, laben sich an den mit gelbem Eiter vollgelaufenen Tränensäcken. Sandkörner, aufgewirbelt vom schwachen Wind, schleifen und feilen die lederne und faltige Haut des Kindes. Es spürt nichts. Es sitzt nur da, wie ein elend alter Greis, der schon alles gesehen hat und nur noch sterben will. Das Fehlen jeglicher Energie lockt die Aasgeier aus weiter Ferne herbei. Über dem Kind fliegen sie in konzentrischen Kreisen. Könige der Lüfte, die einen Knochen mit etwas Fleisch gefunden haben.
Knapp hundert Meter entfernt: Die Mutter. Ebenso übermannt von der Hitze, ebenso schwach und energielos versucht sie, sich an ihr Kind heranzutasten. Die Sonne, die Sonne. Anansi, der Gauner, auch „die Spinne“ genannt, hat sie erschaffen. Die Sonne, die Sonne. Weit und breit gibt es keine Bäume. Zumindest keine, die Schatten spenden könnten. Und an den Schatten, die die dürren Sträucher werfen, kann man nur die Zeit ablesen. Zeit, die hier quälend langsam verrinnt.
Der Stamm ist einen guten Kilometer entfernt. Die Männer des Stammes haben die Frau und ihr Kind aufgegeben. Sie hat ihren Mann verloren und damit ihr Recht auf Leben. Der Stamm der Mbnosa lebt seit Jahrhunderten nach diesen Regeln. Eine Frau, die nicht mehr jung und bedürftig ist, braucht einen Mann. Wenn sie keinen hat, dann darf sie nicht auf die Güte und Milde der Stammesgenossen hoffen. Sie kann sich, wenn sie Glück hat, bei einer anderen Familie als Sklavin verdingen. Aber das geschieht nur selten. In einer Welt, in der die Ressourcen knapp sind, ist der Sozialdarwinismus Naturgesetz. Die Starken überleben und pflanzen sich fort. Die Schwachen, die Anstand und Würde besitzen, opfern sich auf, entfernen sich vom Stamm und sterben in Einsamkeit. Es ist ihre Pflicht, dem Stamm das eigene Sterben nicht zuzumuten.
Die sengende Hitze lässt die Erde ringsum aufglänzen wie Wasser. Der trübe Blick der Mutter erkennt die Fata Morgana. Sie sitzt auf einer Insel, die keine ist.

*

„Heather“, sagt der Aufnahmeleiter, „kann diesen Pyjama nicht tragen. Die Streifen irritieren die Kamera!“.
Der Regisseur, John Sloan, überlegt nicht lange.
„Heather“, sagt er, „zieh den roten Pyjama an. Den bordeauxroten. Der passt besser.“
Heather, ein etwa zehnjähriges, blondes Mädchen, nickt eifrig und läuft direkt aus dem Bild. An den Lichtstrahlern, Arriflex-Kameras und Kabelträgern vorbei, läuft sie direkt vom Set in die Maske. Julie, die für die Requisite zuständig ist, läuft ihr hinterher. John Sloan nutzt die freie Zeit, um die anstehende Szene noch mal mit dem Aufnahmeleiter zu besprechen.
„Also“, sagt er, „Heather, aufgeschreckt durch ein Geräusch, fährt aus dem Schlaf hoch. Der Regen prasselt an die Fensterscheiben und sie sieht einen Blitz, der für einen Moment lang ihr Schlafzimmer erleuchtet. Sie beginnt zu zählen, um die Entfernung des Gewitters zu messen. Wenn sie bis sieben gezählt hat, lasst ihr den Donner ertönen. Dann, beim nächsten Blitz, sieht sie die Silhouette des Mannes vor ihrem Bett. Sie kann das blutverschmierte Gesicht ihres toten Vaters erkennen. Sie schreit. Panikartig greift sie zum Lichtschalter. Sie schaltet das Licht ein und findet sich alleine in ihrem Schlafzimmer wieder“.
„Sollen wir den Nachtfilter auf die Linse schrauben?“, fragt der Aufnahmeleiter.
„Nein“, erwidert Sloan. „Ich will diese künstlichen Effekte nicht. Heather soll sich in die Situation versetzen. Macht alles so dunkel wie irgend möglich, aber zeig mir einen Screenshot, bevor ihr anfangt zu drehen. Es soll wie eine normale Gewitternacht aussehen. Nein, scheiß auf den Screenshot, macht einfach!“.
Der Aufnahmeleiter nickt und leitet die entsprechenden Anweisungen an den Kameramann und die Tontechniker weiter. Das Licht am Set wird abgedunkelt, die Regenmaschine angestellt.
Kurze Zeit später kommt Heather, nun im roten Pyjama, aus der Maske zurück. Sie geht zurück an den Set und klettert ins Bett. Alles ist bereit für die Szene.
„Also“, bellt Sloan durch das zur Hand genommene Megaphon. „Alles auf seinen Platz. Los geht’s!“
Der Regieassistent stellt sich vor die Kamera. Er hält die Klappe vor die Linse.
„Gewitter im Schlafzimmer, die Erste“, sagt er und schlägt die Klappe zu.
„Uuuund Action“, ruft Sloan und lehnt sich entspannt in seinen Regiestuhl zurück. Er lehnt sich zurück in der Gewissheit, die für sein Filmprojekt am besten geeigneten Leute engagiert zu haben. Heather ist ein Goldesel, denkt er. Sie sieht süß aus, und doch strahlt sie etwas Dunkles, Geheimnisvolles aus. Die beste Besetzung für einen Horrorfilm.

*
Für einen Europäer, der das leidende afrikanische Volk nur aus dem Fernsehen kennt, ist es schwer vorstellbar, dass diese Angehörige des Mbnosa Stammes eine eigenständige Identität hat. Für ihn ist diese Frau nichts weiter als eine von tausenden und abertausenden Afrikanerinnen, die seelenlos vor sich hin vegetieren und das Bewusstsein eines verendenden Tieres haben. Gefühle und Erinnerungen kann man sich bei dieser Frau und ihrem Kind nicht vorstellen. Für den Europäer sind diese kranken Wesen nichts weiter als eine mit niederen Instinkten ausgestattete Spezies. Sie haben keine Kultur, keine Vergangenheit und erst recht keine Zukunft. Daher rührt auch die Gleichgültigkeit eines Europäers, wenn er im Fernsehen diese Bilder unter die Nase gerieben bekommt. Er empfindet mit diesen Menschen nicht mehr Mitleid als mit einer sterbenden Eintagsfliege.
Die Frau aber hat eine Identität. Sie hat dreißig Jahre unter ihresgleichen gelebt. Sie hat eine Erinnerung an ihre eigene Kindheit, an die Güte und Wärme ihrer Mutter, an schöne Tage und an schlechte Tage. Sie hat eine Erinnerung an ihren Mann, Adetokunbo, der für sie und ihr Kind gesorgt hat bis er an schlechtem Wasser starb, sie erinnert sich an Babafemi, den Medizinmann, der sich um sie kümmern würde, wenn er da wäre, und an Azinza, ihre Freundin.
Babafemi. Sie dachte an Babafemi. An den Tag, als die weißen Männer gekommen waren. Babafemi hatte sie stolz empfangen, er hatte seinen Stammestanz vorgeführt und ihnen im Festgewand den ganzen Stamm vorgestellt. Die weißen Männer hatten gelächelt, ein Kenshasi hatte alles übersetzt, was sie sagten. Sie wollten Babafemi mitnehmen, ihm ihre Welt zeigen. Babafemi war begeistert. Er wollte sofort mit ihnen mitgehen, doch da lachten die Männer. Sie müssten erst alles organisieren, sagten sie. Dann würden sie wiederkommen. Babafemi war enttäuscht. Er glaubte nicht daran, dass sie zurückkommen würden.
Dann war Adetokunbo gestorben. Babafemi war in ihre Hütte gekommen und hatte versucht zu helfen. Er hatte versucht, sie zu beruhigen. Vor der Hütte hatte er gesagt, dass er sich um sie kümmern würde, falls Adetokunbo sterben sollte.
Es war Nacht, als Adetokunbo starb. Er hatte die letzten Stunden schwer röchelnd auf dem Bett verbracht. Er hatte die Hand seines Kindes und die Hand seiner Frau ein letztes Mal schwach gedrückt und war dann veratmet. Die Frau weinte.
Am nächsten Morgen kamen die weißen Männer um Babafemi abzuholen. Babafemi zögerte einen Augenblick, aber dann ging er mit ihnen mit.
„Ich werde helfen“, sagte er ihr zum Abschied. „Ich werde dir und deinem Kind helfen“.

*
Heathers Eltern waren anfangs nicht begeistert von der Idee, ihre Tochter in einem Horrorfilm mitspielen zu lassen. Heather hatte bis dahin ein paar Werbeaufnahmen gemacht, in einem kurzen Werbefilm für Fruchtsaft mitgemacht und in einem kleinen Film eine kleine Rolle bekommen. Heathers Eltern waren über das zusätzliche Geld, das ihre Tochter dadurch verdiente, sehr erfreut, aber sie behaupteten stets, dass auch Heather diese Arbeit Spaß bereitete.
„Kann ich das Skript vorher sehen“, hatte Heathers Vater gefragt.
Sloan hatte diese Frage kommen sehen.
„Sehen sie, das Manuskript ist Eigentum der Produktionsfirma und wird streng geheim gehalten, damit die Zuschauer die Geschichte des Films nicht schon kennen, bevor sie ins Kino gehen. Lassen sie mich sagen, dass die einzelnen Szenen viel von ihrem Schrecken verlieren, wenn sie gedreht werden. Heather wird wissen, dass das viele Blut im Film Kunstblut ist, sie wird wissen, dass einzelne Szenen tricktechnisch nachbearbeitet werden, und aus diesem Grunde wird sie auch kein Trauma von dem Film davon tragen. Das kann ich Ihnen versichern“.
Heathers Eltern hatten sich nach diesem Gespräch für zwei Tage zur Beratung zurückgezogen. In diesen zwei Tagen hatte Sloan die Produktionsfirma beauftragt, das Honorar für Heather, sollte sie die Rolle annehmen, um vierzig Prozent aufzustocken und Heathers Eltern von dieser Aufstockung schnellstmöglich in Kenntnis zu setzen. Als dann zwei Tage später Heathers Eltern zusagten, konnte Sloan sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Money makes the world go round, the world go round, the world go round, pfiff er vergnügt vor sich hin.
Dann erfolgten die anstrengenden Vorbereitungen. Die verschiedenen Sets mussten im Studio gebaut werden, der Drehbuchautor setzte sich mit einer Gruppe Schriftsteller und Schauspieler zusammen und überarbeitete nochmals das Skript, und auch der Produzent diskutierte immer und immer wieder die Kostenplanung mit Sloan. Letztlich einigten sie sich auf sechzig Drehtage und ein Budget von zehn Millionen Dollar. In diesen Budgetplan war auch die Sache mit dem Medizinmann einkalkuliert. Sloan hatte lange dafür kämpfen müssen. Der Produzent hatte gemeint, man könnte doch irgendeinen Afroamerikaner aus L.A. als Medizinmann verkleiden.
„Nein!“, hatte Sloan insistiert, „Ich will einen echten Medizinmann.“

*
Die afrikanische Frau hieß Amoke. Sie war sehr schön und stolz gewesen. Die Männer des Dorfes hatten sich um sie gerissen. Aber sie hatte nur einen geliebt: Adetokunbo. Nur ihn befand sie für würdig. Er war groß und stark gewesen, ruhig und besonnen, tapfer und demütig.
Ihr Kind war der Beweis ihrer Liebe: Atonga. Ein süßes, kleines Mädchen.

Schuld an ihrem Unglück war der Fluss. Das Wasser darin war dreckig. Es hieß, die weißen Männer wären vor langer Zeit gekommen, sie hätten eine Mine gebaut, nicht weit vom Stamm, und den Dreck und den Schutt hätten sie in den Fluss gekippt. Die Tiere, die Giraffen, Löwen, Zebras, Antilopen und Elefanten hätten sie gejagt, einfach so, zum Spaß. Dann wären sie gegangen und hätten alles verlassen: die Mine, das Land, die Regierung.

Amoke kannte nicht viele Weiße. Manchmal kamen weiße Frauen und Männer in weißen Kitteln und weißen Autos vorbei und verteilten Lebensmittel oder gaben Spritzen, die sie vor Krankheit schützen sollten. Amoke weigerte sich. Sie traute den Weißen nicht. Auch Atonga durften sie nicht berühren. Adetokunbo war darüber sehr verärgert, weil er den Weißen glaubte. „Das sind nicht die Weißen von damals“, sagte er dann, „nicht alle Weißen sind böse.“
„Das nächste Mal“, vertröstete Amoke ihren Mann. Aber es gab kein nächstes Mal. Die Weißen kamen nicht zurück.

Dann tranken sie das Wasser aus dem Fluss und ihnen wurde schlecht. Adetokunbo bekam Durchfall, Amoke und Atonga auch. Amoke spürte einen Schmerz im Bauch, sie glaubte ein Dämon habe von ihr Besitz ergriffen und plage sie. Sie rief Babafemi, den Medizinmann.
„Babafemi, ein Fluch lastet auf uns. Vertreibe den Dämon!“
Babafemi nickte. Er ging weg und kam nach einer Stunde wieder. Er hielt ein Kraut in der Hand. Er bat Adetokunbo und Amoke sich mit dem Kind in einen Kreis zu setzen. In der Mitte des Kreises machte Babafemi ein Feuer. Er warf das Kraut in das Feuer und wehte mit einem großen Blatt den Rauch abwechselnd in die Gesichter von Adetokunbo, Amoke und Atonga. Dann warf er mitgebrachte, kleine Knochen in den Sand vor Adetokunbo.
„Deine Frau und dein Kind werden leben“, sagte Babafemi. „Du wirst sterben“.

Amoke weinte. Sie warf sich in den Sand und weinte.

*
„Also“, sagte Sloan, „Heather, das heißt Susan, besucht ihre Oma auf den Friedhof. Sie fährt mit dem Fahrrad ganz allein durch Deamont bis ans Ende der Stadt. Als sie ankommt, verfinstert sich der Himmel, es wird langsam Nacht. Ein starker Wind weht. Sie lässt das Fahrrad vor dem Friedhof liegen und läuft in den Friedhof. Aber sie kann das Grab ihrer Oma nicht finden. Sie wird panisch, fängt an zu rennen, ruft schließlich um Hilfe. Vor lauter Angst und Dunkelheit fällt sie in ein frisch ausgehobenes Grab. Sie schreit und schreit und dann…und dann greift eine Hand nach ihr und zieht sie aus dem Grab. Auftritt Mister Black.“
Mister Black. So nannten sie am Set den afrikanischen Medizinmann, den Sloan, dieser Sturkopf, extra für diese Szene hatte einfliegen lassen. Wie er wirklich hieß, wusste keiner. Es machte sich auch niemand die Mühe, ihn zu fragen. Er sprach kein Englisch und wenn man ihn ansprach, lächelte er. Gottseidank hatten sie ihm anhand des Storyboards erklären kann, was er zu tun hatte.
Es begann. Angespannte Stille herrschte im riesigen Aufnahmeraum C der Universal Studios. Eine komplette Friedhofslandschaft war angelegt worden, erbaut nach Plänen des New Orleans Cemetery, der als Horrorfriedhof schlechthin traurige Berühmtheit erlangt hatte.
John Sloan saß im Kamerakran, das Megaphon in der Hand, bereit Action zu rufen. Er wollte einen long take haben, zehn Minuten ohne Cut. Viele am Set hielten das für absoluten Wahnsinn, Sloan jedoch meinte, es würde Heather, bzw. Susan helfen, die Situation als authentisch zu empfinden. Sloan wollte, dass sie sich tatsächlich ein wenig gruselte, um das Entsetzen in ihren Augen einzufangen. Nach den ersten zwei Minuten würde sich der Kran von Heather entfernen, alles andere würden die drei auf dem Friedhof positionierten, ferngesteuerten Kameras einfangen. Die Crew musste bis auf wenige, unverzichtbare Leute das Studio verlassen, alle Verbliebenen sollten sich, so gut es eben ging, unsichtbar machen.

Action. Es ging los. Sloan folgte ihr mit seinem Kran, bis sie den Friedhof betreten hatte, dann befahl er dem Kranführer, sich in die Position zu begeben, von der aus er einen guten Überblick über das gesamte Set hatte. Durch das abgedunkelte Licht kam es ihm tatsächlich so vor, als sei es Nacht und als liefe Heather, d.h. Susan völlig allein über das Set. Mister Black sah Sloan nirgendwo. Nach gut fünf Minuten begann Heather zu laufen, immer schneller. Hoffentlich können die Kameras ihr folgen, dachte Sloan.
Heather, d.h. Susan, begann nun zu schreien, spitze, lange Schreie, die durch Mark und Bein gingen. Sloan sah Heather nun hinter einem künstlichen Baum verschwinden, er konnte nicht sehen, was passierte. Der letzte Schrei des Mädchens erstarb in einem fallenden Ton. Aha, dachte Sloan, jetzt ist sie in das Grab gefallen.

Stille. Nichts passierte.

Schier endlos erscheinende Sekunden lang geschah nichts. Dann sah Sloan aus der Entfernung die Silhouette des schwarzen Mannes. In gebückter Haltung schlich er über den Friedhof, angestrahlt vom fahlen Licht des künstlichen Mondes. Sein Körper warf einen langen Schatten. Schwarzer Nosferatu, dachte Sloan, und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.

*

Sie spürte den Tod in ihren Knochen. Das wenige Blut in ihren Adern war in der kochenden Hitze verdampft und mit jedem ihrer schwachen Atemzüge verpuffte das unsichtbar gewordene Lebenselixier in den Orkus der afrikanischen Wüste.
In einem letzten Kraftakt machte Amoke sich auf zu Atonga. In diesem einem Instinkt waren sich alle Frauen dieser Erde gleich: Dem einer Mutter.
Amoke kratzte mit ihren langen Fingernagel eine Spur in den ausgetrockneten Sand, schleppte sich mühsam die Anhöhe aus unfruchtbarem Boden hoch, hinter der sie ihr Kind wußte.
Atonga, Atonga, flüsterte sie.
Atonga, ich komme. Halt aus.
Sie kämpfte einen letzten Kampf, sie kämpfte für ein Bild, das sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte. Sie sah sich, vereint mit ihrer Tochter, auf dem seelenlosem Sand, der dürren Erde, der sie doch so viele Jahre hatte abringen können, einen versöhnlichen Tod sterben. Sie würde in den Armen ihrer Tochter sterben, und ihr Leben würde in dem enden, das sie selbst gezeugt hatte.
Sie spürte das heiße Fieber in ihrem Körper, das sich über die Poren zu Schweiß verflüssigte und in den trockenen Sand tropfte.
Atme, sagte sie zu sich selbst. Atme. Du musst deine Tochter erreichen.

Der Fieberwahn begann mit Sternen vor den Augen. Bunte, mit einem lauten Krach einher gehende Bilder tauchten vor ihr auf, Namen, Gesichter, Hütten, Wege, Tiere, Götter und Monster bevölkerten ihren Geist wie Termiten. Genüsslich fraßen sie ihr den letzten Rest Verstand aus dem Hippocampus, aßen ihr Gehirn wie Aasgeier die Eingeweide einer verreckten Antilope.

Aber sie erreicht ihre Tochter.

In Europa sterben Menschen. In Afrika verenden sie.

*

Heller Aufruhr im Studio. Die Technik scheint komplett ausgefallen. Überall herrscht Dunkel. In das Dunkel hinein vernimmt Sloan den markerschütternden Schrei seiner kleinen Hauptdarstellerin.
„Licht, Licht“, schreit Sloan, aber es scheint, als befinde sich niemand im Studio.
„Fahren sie den Kran runter“, bellt Sloan den Wagenführer an, „fahren sie den gottverdammten Kranwagen runter!“
Es dauert eine Ewigkeit. Unten angekommen, springt Sloan aus dem Sitz, mittlerweile sind drei, vier weitere Crewmitglieder herbei gestürmt. Alle zusammen rennen sie auf das Set, in Richtung Schrei. Sloan erkennt, dass einer der Mitarbeiter einen Handscheinwerfer dabei hat, der Lichtkegel beleuchtet den vor ihnen liegenden falschen Friedhof. Wie durch einen Nebel erkennt Sloan im Laufen verschwommen die Schemen von Grabsteinen, Maulwurfshügeln und Christuskreuzen. Gemeinsam mit den drei Männern rennt er zu der Stelle an der er Heather zuletzt gesehen hat: das frisch ausgehobene Grab.

Der Schrei des Mädchens verstummt plötzlich.

An Grab angekommen, machen sie abrupt Halt. Der Mann mit dem Handscheinwerfer zögert einen kurzen Moment, Sloan sieht, wie er ihm einen Blick zuwirft, angsterfüllt und fragend schaut er ihn an. Sie machen einen weiteren Schritt zum Grab hin, dann richtet der Mann seinen Scheinwerfer zuerst auf ihn, dann in das Erdloch.

Als Sloans Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnen, erkennt er den Körper des kleinen Mädchens. Sie liegt mit unnatürlich angewinkelten Beinen auf dem Boden des Erdlochs, die Arme weit von sich gestreckt. Das Gesicht ist von ihren blonden Haaren verdeckt, auf dem Schädel des Mädchens befindet sich jedoch eine recht üppige, kahle Stelle. Einige ausgerissene Haarsträhnen liegen neben ihrem Gesicht auf dem Boden, wo der Rest geblieben ist, kann Sloan nur ahnen. Der Mund des Mädchens ist blutverschmiert, als sie ihn öffnet, um etwas zu sagen, erkennt Sloan, das ihr drei Zähne fehlen. Ein Schneidezahn und zwei Zähne im Unterkiefer.

„Er hat mir weh getan“, sagt Heather.

*

Plötzlich erkennt Amoke Babafemi. Am Horizont der flirrenden Hitze erkennt sie ihn eindeutig am Gang. Es scheint, als entstiege er dem Wasser, das es nicht gibt, als kehrte er aus dem Boden selbst in ihre Welt zurück.
„Babafemi“, krächzt Amoke, und durch ihre vertrockneten Lippen rieselt der Klang dieses Namens wie Sand aus dem Mund.
„Babafemi, rette mich!“.
Noch ist ihr Verstand lebendig genug, um an der Echtheit dieser Erscheinung zu zweifeln. Ist es wirklich Babafemi? Oder eine Halluzination?
Was es auch sei, es kommt näher. Die schwarze Silhouette nimmt klare Konturen an, Farben werden sichtbar, Gegenstände und Kleidungsstücke.
Babafemi kommt auf sie zu. Er lächelt. In der rechten und in der linken Hand hält er etwas. Er reckt es in die Höhe, sein Gesicht triumphiert. Er kommt immer schneller auf sie zu, er ist schon ganz nah. Als er bei ihr angelangt ist, öffnet er seine Hände. In seiner rechten Hand hält er ein Büschel blonder Haare, lang und sauber, ihr Glanz golden im Schein der Wüstensonne. In der rechten Hand hat er drei kleine weiße Steinchen, mit leichten Blutspritzern befleckt.
Babafemi wirft sich vor ihr in den Sand.
„Ich bin gekommen, euch zu retten!“, sagt er.
Aber spricht er wirklich? Hört Amoke ihn wirklich? Sie will ihre Hand ausstrecken um ihn fühlen zu können, aber sie zieht sie zurück, bevor sie sie ausstreckt, aus Angst er könnte sich durch ihre Berührung in Luft auflösen.

Babafemi holt zwei knochentrockene Äste und Stroh aus seiner Tasche und legt sie vor sich auf den Boden. Er nimmt zwei Feuersteine und schlägt diese gegeneinander. Funken sprühen in den Sand, einige verfangen sich im trockenen Stroh und entzünden dieses. Unterdessen schaukelt Babafemi sich im Schneidersitz in einen okkulten Rhythmus und wiederholt summend eine Aneinanderreihung von Worten, die Amoke nicht versteht. Dann verbrennt er die blonden Haare im entflammten Feuer und fächelt Amoke und Atonga den Rauch zu.

„Atmet“, sagt er, „atmet tief ein“.

Amoke tut wie ihr geheißen. Dann nimmt Babafemi die kleinen, weißen Steinchen in die Hand und wirft sie immer und immer wieder vor sich in den Sand.

Babafemi verschwindet. Er löst sich auf. So schnell, dass Amoke glaubt, er wäre nie dagewesen.

*

Sloan musste sich im Krankenhaus vor Heathers Eltern rechtfertigen. Die Versuche einer Rechtfertigung scheiterten allerdings kläglich an der Tatsache, dass Heathers Zustand sich zusehends verschlechterte. Zu Beginn hatte Sloan geglaubt, es handle sich nur um ein Büschel ausgerissener Haare und zwei, drei verlorene Zähne. Im Kopf war er schon die Forderungen der Eltern nach Entschädigung durchgegangen, hatte überlegt, welche Summe er den Eltern, auch im Namen des Studios anbieten könne, und wie viel Geld er bereit war, den Eltern aus eigener Tasche zu bezahlen. Auch beschäftigte er sich mit der Frage, ob er den Rest des Films mit einem Double abdrehen könne und ob die Szene, die zu dem (wie er es nannte) ‚Unfall‘ geführt hatte, noch zu gebrauchen war.
„Wir kommen selbstverständlich für alle Arztkosten auf. Reha, plastische Chirurgie und Schmerzensgeld werden auch von uns übernommen. Ich habe mit dem Studio telefoniert, wir überweisen ihnen morgen provisorisch 100.000 Dollar!“
Sloan verkündete die Geldsumme wie der Moderator einer Quizshow den Hauptpreis, aber die Zahl verfehlte ihre Wirkung nicht. Heathers Eltern schauten zwar pikiert, und die Mutter erwiderte, dass es ihr hier nicht ums Geld ginge, aber ihr anschließender Protest fiel relativ verhalten aus.

Dies änderte sich allerdings mit der vorläufigen Diagnose des Arztes.
„Wir haben sie soweit stabilisieren können“, sagte dieser, „aber sie hat ungewöhnlich hohes Fieber und auf ihrem Rücken haben sich Bläschen gebildet. Wir können uns das nicht erklären!“
„Bläschen?“, fragte der Vater und schaute Sloan fragend und vorwurfsvoll an. „Ich verstehe nicht!“.
„Auf was für einem Boden hat sie gelegen?“, fragte der Arzt.
Sloan zuckte mit den Schultern.
„Humus, glaube ich“, sagte Sloan, „Ich kann mal ein paar Anrufe machen, wenn sie wollen.“
„Tun sie das“, sagte der Arzt. „Ich muss wieder. Ich halte sie auf dem Laufenden“.
Der Arzt lief zurück in den OP. Sloan, zwei seiner Mitarbeiter und Heathers Eltern setzten sich in den Warteraum.

Als der Arzt vierzig Minuten später zurück kam, verhieß sein verkniffenes Gesicht nichts Gutes. Seine Ansage wirkte dann hölzern und automatisiert.
„Heathers Zustand hat sich plötzlich dramatisch verschlechtert. Das Fieber war lebensbedrohend, die Flüssigkeitszufuhr zeigte keine Wirkung. Die Bläschen auf dem Rücken ließen auf eine allergische Reaktion schließen, die die Lunge in Mitleidenschaft zog. Die anschließende Intubation sowie Defibrillation führten leider zu keiner Besserung. Nach fünfzehn Minuten der Reanimation konnten wir nur noch den Tod feststellen. Es tut mir leid.“

*

Amoke sitzt neben ihrer Tochter. Sie holt tief Luft. Ihre Lunge füllt sich, ihr Brustkorb schwillt an wie lange nicht mehr, beim Ausatmen kann die Luft ungehindert ausströmen. Kein Röcheln, kein Rasseln, die Luftröhre fühlt sich an wie ein breiter Kanal ohne Dreck, alles fließt problemlos hindurch.
Amoke macht eine Faust. Sie fühlt Kraft in sich, Kraft genug, um eine Hand zu drücken, eine Frucht zu zerquetschen, einen Stein zu schleudern. Sie spürt und sieht die Anspannung in ihrem Unterarm, Blut fließt wie ein rauschender Sturzbach durch die dicker werdenden Venen.
Amoke steht auf. Die Beine wackeln erst ein wenig, die Knie schlottern, doch dann gelingt es Amoke, sie durchzudrücken. Sie richtet sich zu voller Größe auf, streckt den Kopf stolz in den schwachen Wind, ihr Blick streift wie der Blick einer stolzen Antilope über den Horizont.
Amoke bückt sich, hebt Atonga vom Boden auf. Sie drückt ihre Tochter eng an ihren Körper, hält ihren Kopf wie ein kostbares Gut.
„Atonga, Atonga“, sagt sie, „wir werden leben.“

Dann läuft sie ins Dorf zurück.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 20.09.2017, 12:43

Für einen Europäer, der das leidende afrikanische Volk nur aus dem Fernsehen kennt, ist es schwer vorstellbar, dass diese Angehörige des Mbnosa Stammes eine eigenständige Identität hat. Für ihn ist diese Frau nichts weiter als eine von tausenden und abertausenden Afrikanerinnen, die seelenlos vor sich hin vegetieren und das Bewusstsein eines verendenden Tieres haben. Gefühle und Erinnerungen kann man sich bei dieser Frau und ihrem Kind nicht vorstellen. Für den Europäer sind diese kranken Wesen nichts weiter als eine mit niederen Instinkten ausgestattete Spezies. Sie haben keine Kultur, keine Vergangenheit und erst recht keine Zukunft. Daher rührt auch die Gleichgültigkeit eines Europäers, wenn er im Fernsehen diese Bilder unter die Nase gerieben bekommt. Er empfindet mit diesen Menschen nicht mehr Mitleid als mit einer sterbenden Eintagsfliege.


Ich bin ein solcher Europäer, CPMan, der das leidende afrikanische Volk nur aus dem Fernsehen kennt. Aber für mich ist es völlig selbstverständlich, dass diese Frau - und alle anderen - eine eigenständige Identität haben. Gerade darauf beruht es, dass ich das Übermaß des Leidens nicht an mich heranlasse - aber nicht, indem ich, wie Du unterstellst, mit rassistischer Untermenschenverachtung arbeite ("nichts weiter als eine mit niederen Instinkten ausgestattete Spezies"), sondern indem ich, um nicht vom Mitleid zugeschüttet zu werden, verdränge. Was kann ich tun außer meiner regelmäßigen Spende? Verdrängung ist der Mechanismus, der hier abläuft, nicht Rassismus. Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

CPMan

Beitragvon CPMan » 20.09.2017, 22:42

Lieber Quoth,

sicherlich habe ich überspitzt formuliert, aber es ist doch eigenartig wie z.B. der Völkermord in Ruanda 1994 komplett am Westen vorbei gegangen ist, während z.B. der 11. September ohne Unterlaß kommemoriert wird. Fakt ist doch, dass wir, wenn es um Empathie geht, eher mit einem Menschen fühlen, der uns ähnlich ist (und ja, in diesem Kontext spielt die Ehnie eine Rolle) als mit einem Menschen der in bezug auf Herkunft, Nationalität, Kultur und Ethnie weit von uns entfernt ist. Oder siehst du das anders?

LG,

CPMan

Quoth
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Beitragvon Quoth » 22.09.2017, 12:11

Aber Du schadest Deinem Text, CPMan, indem Du auch Dir wohlgesonnene Leser durch solche Pauschalurteile verscheuchst! Und was die Anteilnahme betrifft: Sie ist ganz natürlich davon abhängig, wie nahe Dir Betroffene stehen: Ein Unglück im Familienkreis erschüttert tiefer als dasselbe Unglück in der Nachbarschaft, in der Stadt, in dem Land, auf dem Kontinent ... Auch das ist kein Rassismus, allenfalls ein Eurozentrismus, den zu überwinden solche Geschichten wie Deine vielleicht taugen. Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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