Die Cthulhu-Chroniken -- Episode 14 -- Das Nekronomikon

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 24.12.2023, 10:11

„Was fällt dir ein, einfach mein Zeug wegzuschmeißen?!“ Ich schaue Cthulhu empört an und deute dabei auf einen großen Plastikmüllsack in der Mitte des Wohnzimmers. Er ist offen, und so kann ich die bunten Verpackungskartons, die Spielbretter, Würfel, Mikadostäbchen, Anleitungsheftchen, die Go- und Mühlensteine, Spielkarten, die Schach- und Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren, die Fang-den-Hut-Hüte, kurz: Die Reste meiner Spielesammlung erkennen, die darin wild durcheinander liegen. Die Tentakel spalten sich in eine rechte und eine linke Hälfte, die sich jeweils waagerecht ausrichten, sich dann in der Mitte ineinander schieben und nach vorne durchdrücken. Ich fühle mich an einen Straßenschläger erinnert, der vor Beginn einer Prügelei mit den Fingern knackt. Nur, dass bei Cthulhu natürlich nichts knackt. Tentakel haben ja keine Knochen. Und, wie mir einfällt, Plüschtiere auch nicht.

„Jetzt stell' dich mal nicht so an! Das Zeug hast Du doch eh nie benutzt. Und ich brauchte den Platz im Regal!“

„Wozu das denn?“ Ich drehe mich um. Noch in der Bewegung frage ich mich, was umfangreich genug wäre, um den Platz von drei original verpackten Brettspielen und drei Spielesammlungen einzunehmen.

Dann sehe ich es. Dort, wo sich heute morgen noch meine Spielesammlung befunden hatte, liegt nun ein riesiges, uraltes, in Leder eingebundenes Buch. Es verströmt einen so penetranten Geruch von Fäulnis und Verwesung, dass ich mich wundere, es nicht schon beim Hereinkommen gerochen zu haben. Ich schaudere zurück. „Das … ist das … das ist doch nicht etwa...?“

„Doch“, sagt Cthulhu, „genau das ist es. Früher musste man für so etwas jahrelang in den schimmeligen Nachlässen von irgendwelchen vor zwei Jahrhunderten verstorbenen Alchemisten wühlen oder so etwas, aber inzwischen ist es einfach der erste Treffer, wenn man bei Amazon 'Nekronomikon' sucht.“

„Auf AMAZON??“ schreie ich fast. Ich kann es noch immer nicht glauben, was ich da vor mir habe. Das Nekronomikon! Die von dem wahnsinnigen Araber Abdul Alhazred verfasste Abhandlung über die großen Alten im Allgemeinen und Cthulhu im Besonderen, nebst detaillierter Schilderungen der zugehörigen Kulte und ihrer Rituale. Ein Werk von solch unsagbarer Scheußlichkeit, dass bereits die Lektüre weniger Seiten genügen soll, um gestandene und gefestigte Männer in den Wahnsinn zu treiben.

„Ja, ein echter Glückstreffer.“ Ohne meine Erstarrung zu bemerken fährt Cthluhu fort. „Wenn auch nicht ganz billig. Aber auch nicht zu teuer. Willst Du wissen, was ich bezahlt habe?“

„Ganz sicher nicht!“, gebe ich heftig zurück. Hoffentlich, denke ich, was es wenigstens nur Geld. Das verfluchte Buch im Auge ziehe mich langsam von dem Bücherregal zurück wie von einer sprungbereiten Raubkatze.

„Wirf doch mal einen Blick rein! Ist echt spannend geschrieben!“

„Nein, danke!“ Eigentlich hatte meine Stimme fest und entschlossen klingen sollen. Dass sie sich zum Ende hin überschlägt, passt dazu nur mäßig gut.

„Es gibt auch Illustra...“

„HALT DIE KLAPPE!“, schreie ich ihn an.

„Wovor hast Du Angst? Dass Du wahnsinnig wirst?“ Die Fangarme werfen eine Vielzahl schneller, kleiner Wellen; vermutlich ein Kichern. „Entspann dich. Was schon ist, kann nicht mehr werden“

Ich beschließe, diesen spitzen Einwurf zu übergehen.

„Na komm schon!“ Die Fangarme winken mich einladend heran. „Ein Blick. Was kann der schon schaden?“

Er kann kleben bleiben, denke ich, und dann kann er weitergezogen werden. Und noch weiter. Auf die nächsten Seite, die übernächste – solange, bis ich genug davon gesehen habe, um mir zu schaden.

Mir fällt auf, dass ich seit mindestens zwei Minuten nicht davon loskomme, den Buchrücken anzustarren. Da geht’s schon los, denke ich. Aber mit mir nicht! Kurzentschlossen fliehe ich aus dem Wohnzimmer und schlage die Tür hinter mir zu. Im Flurschränkchen finde ich den Schlüssel zur Wohnzimmertür und schließe sie ab. Den Schlüssel in der Hand sehe ich mich um. Der muss weg. Kurz entschlossen laufe ich ins Treppenhaus, öffne ein Fenster auf halber Treppe und werfe ihn auf die Straße. Grinsend schaue ich zu, wie er in einem Gulli verschwindet. „Treffer, versenkt!“, beglückwünsche ich mich innerlich. Da habe ich dem Wahnsinn ein schönes Schnippchen geschlagen.

Ich gehe zurück in meine Wohnung. Besser gesagt: In den Eingangsflur. Denn der ist leider alles, was mir von meiner ehemals geräumigen Wohnung geblieben ist. Zumindest eine Decke hätte ich mit herausnehmen sollen. Der einzige Zugang zu meinem Schlafzimmer ist leider eine Tür im Wohnzimmer. Jetzt muss ich die Nacht im Flur auf dem nackten Boden verbringen. Ich strecke mich zwischen Schuhen, Schränkchen, Schirmständer und Garderobe aus und versuche, einzuschlafen.

Wenn nur die Türen zu bleiben!

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