Die Cthulhu-Chroniken -- (Finale) Episoden 14 und 15 -- Der Malstrom

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 24.12.2023, 15:07

Pünktlich zu Heiligabend hier noch die letzten Episoden des diesjährigen Weihnachtstextes -- hiermit endet (und beginnt) die Geschichte. Ich wünsche euch allen ein frohes Fest und einen guten Rutsch!

15

Ich sitze im Zug von Hamburg nach Flensburg. Das Wochenende habe ich bei Freunden verbracht. Allein. Also, ohne Cthulhu. Nach der Sache mit dem Nekronomikon im Bücherregal und der Nacht im Flur brauchte ich mal eine Auszeit. Es ist ja irgendwie schön, Gesellschaft zu haben, auch wenn es nur ein Plüschmonster mit der Absicht ist, die Menschheit in Wahnsinn und Leid zu stürzen; aber manchmal habe ich den Eindruck, er tut mir nicht gut. Das Wochenende war schön, wir haben Hagenbeck besucht, sind mit einem Eis am Elbstrand spazieren gegangen und mit einem Tretboot auf der Alster gefahren. Nur auf den Dungeon habe ich verzichtet, und bei Hagenbeck auf das Aquarium. Vielleicht haben sie einen Kraken, das hätte mich nur wieder an ihn denken lassen. Und das Miniaturwunderland habe ich vorzeitig verlassen, weil es ungute Erinnerungen an meine Badewanne weckte. Am Sonntag haben wir zu dritt auf dem Balkon gefrühstückt und uns über alte Zeiten unterhalten. Und noch so über dies und das. Ich habe vom letzten Urlaub erzählt und von meiner Arbeit. Von meinen Schwierigkeiten natürlich nichts. Für die Behauptung, ich lebe mit einer bösartigen Gottheit zusammen, die Städte in meine Badewanne baut und unaussprechliche Wesen in meinem Kühlschrank hält, hätten sie wohl nur wenig Verständnis. Verständlicherweise.

Ich blicke durch das Fenster ins Dunkel, während die letzten Stationen vorüberziehen.

Am Flensburger Bahnhof herrscht ein fürchterliches Gedränge. Die halbe Stadt scheint auf dem Bahnsteig versammelt zu sein, um den Zug zu erwischen, der in einer halben Stunde zurück nach Hamburg fahren wird. Komisch, denke ich, und frage mich, ob ich etwas verpasst habe. Vielleicht ein Handballspiel in der Flens-Arena? Aber selbst dafür ist die Menge zu groß.

Als die Türen sich öffnen, habe ich Mühe, gegen die herein strömenden Menschenmassen überhaupt aus dem Zug zu kommen. Letztlich schaffe ich es nur, indem ich meinen Rucksack über meinen Kopf stemme, mich seitwärts drehe und irgendwie herumwinde. Wie genau, weiß ich auch nicht, doch als die Türen sich wieder schließen, bin ich draußen. Der Zug ist voll, es kommen Ansagen, die weitere Zustiege verbieten und auf den nächsten Zug verweisen, doch noch immer stehen so viele Menschen auf dem Bahnsteig, dass ich Mühe habe, die Treppe zu erreichen. Es nutzt auch nicht viel – die Treppe ist ebenfalls völlig überfüllt, ebenso wie, soweit ich sehen kann, der Gang dahinter. Wie es aussieht, ist hier für die nächsten Stunden kein Durchkommen mehr. Irgendwie schaffe ich zumindest die paar Meter bis zur Bahnsteigkante. Ich springe herunter, laufe über die Gleise zur Böschung und beginne, sie zu erklimmen. Oben auf der Straße steht ein älterer Mann. Er führt anscheinend gerade seinen Hund – einen schwarzen Pudel – Gassi und schaut mich missmutig an. „Das ist verboten, das wissen Sie, ja?“ grummelt er. „Das da unten sind Eisenbahngleise und kein Fußgängerweg. Auch wenn das anscheinend niemand mehr kümmert.“

In der Tat. Jetzt, von ihr oben, kann ich sehen, wie ein Stück weiter hinten Dutzende von Menschen die Böschung herunter schlittern und sich auf den Zug zubewegen. „Was ist denn hier eigentlich los?“, frage ich.

Der Mann schaut mich unter seiner Kapitänsmütze an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Er scheint zu überlegen, ob er meine Frage überhaupt ernst nehmen soll. „In letzter Zeit schon mal nach oben geschaut, Junge?“, erwidert er schließlich und geht kopfschüttelnd davon.

Ich hebe den Blick. Und erstarre. Ein Malstrom dreht sich über der Stadt, ein Strudel aus Nebel und grünem Licht, so breit, dass ich seinen Rand nicht sehen kann – wenn er denn einen hat. Der größte Teil gleicht einer flachen Scheibe, kaum merklich nach innen geneigt, an deren äußeren Bereichen die Drehung kaum zu sehen ist; doch zur Mitte der Erscheinung hin wird die Neigung stärker und die Bewegung rascher, bis sie sich im Zentrum wie ein dünner grüner Finger aus rasend rotierendem Licht nach der Erde reckt. Ein Finger der, meiner ersten Einschätzung nach, die Erde ziemlich genau dort berühren muss, wo ich wohne.

Ich lasse meinen Rucksack fallen und rase los. Das Grün des Malstroms wird mit jeder Minute ein wenig satter und dunkler. Hatte ich am Anfang noch den Eindruck einer Licht- oder Wolkenformation, so ist es jetzt eher, als wäre die Welt im Meer versunken und läge am Fuß eines gigantischen Strudels. Hatte ich anfangs noch mühsam die Hoffnung aufrecht erhalten, die ungefähre Nähe zwischen der Strudelspitze und meinem Wohnviertel könnte sich als Zufall entpuppen, so zerstreut sich diese mit jedem Schritt immer weiter. Als ich eine Viertelstunde später außer Atem in die Straße einbiegen will, in der ich wohne, finde ich mich vor einer Polizeiabsperrung. Ein rot-weißes Plastikband verläuft von einem Straßenrand zum anderen, dahinter ist ein Polizeiwagen geparkt. Neben dem Wagen steht ein Polizist.

"Da können Sie nicht durch", sagt der Polizist.

"Warum denn nicht?"

"Na, sehen Sie doch." Er schaut nach oben. Ich schaue hinterher. Der Finger des Malstroms verjüngt sich bis zur Breite eines kleineren Baumstamms und führt geradewegs vom Himmel in den Schornstein des Hauses, in dem ich wohne. Zwischen den Lamellen meiner Wohnzimmerjalousien dringt grünes Licht nach draußen. Es besteht kein Zweifel, wer da am Werk ist. An einem Werk, dessen Vollendung ich mir kaum wünschen kann. Oder dem Rest der Menschheit.

Ich senke meinen Blick wieder und zucke die Schultern. "Na und?"

"Ja, da können Sie doch jetzt nicht rein. Da behindern Sie ja unseren Einsatz!"

"Ihren Einsatz?", frage ich, "Was soll ich denn da behindern? Was wollen Sie denn dagegen eigentlich machen?"

Der Mann überlegt kurz. "Auch wieder wahr", meint er schließlich und holt sein Funkgerät heraus. "Jungs, abrücken!"

Wenig später ist die Straße leer.

Ich nestele eine gefühlte Ewigkeit mit dem Schlüssel an der Haustür herum, bekomme sie schließlich auf und stürme nach oben. Im Vorbeirennen fällt mir auf, dass bei meinem Nachbarn – dem Nachbarn – die Wohnungstür offen steht; doch mir darüber Gedanken zu machen, fehlt mir die Zeit, ich haste die verbliebenen zwei Treppenabschnitte herauf in meine Wohnung. Die Wohnzimmertür ist weiterhin abgeschlossen. Ich werfe mich mehrmals mit der Schulter dagegen, wobei ich mich mit den Beinen an der Küchentür gegenüber abstoße. Nach einigen schmerzhaften Fehlschlägen gibt das Schloss schließlich mit einem Krachen nach. Mit schmerzender Schulter stolpere ich durch die Tür.

Das Wohnzimmer ist dunkel bis auf ein diffuses grünes Licht, das nirgendwoher zu kommen scheint, überall zugleich ist und tanzende Schatten in den Raum wirft, von denen ich nur sehr wenige irgendwelchen sichtbaren Gegenständen zuordnen kann. In der Mitte des Raumes, oder eher darüber, genau in der Mitte zwischen Boden und Decke, schwebt Cthulhu. Die roten Augen glühen. Die Tentakel schwingen in einem monotonen Gleichtakt hin und her, wie das Pendel eines Hypnotiseurs. Mir fällt auf, dass der Stoff am Bauch und an der Schulter etwas aufgerissen ist. Was ich darunter sehe, hat keine Ähnlichkeit mit Watte, Holzwolle oder sonst einem Füllmaterial für Stofftiere. Vielmehr sehe ich eine grün-gräuliche Echsenhaut. Eine Naht knackt, und am Kopf bildet sich ein weiterer Riss. Es sieht aus als ob sich eine Spinne oder Schlange häutet – oder nein! – eher, als ob etwas aus einem Ei schlüpft. Erst jetzt fällt mir auf – oder ist das gerade erst passiert – dass Arme und Beine nur noch über dünne Fädchen mit dem ovalen Torso verbunden sind, der nun tatsächlich aussieht wie ein pelziges, grünes Ei.

Ich möchte schreien, möchte ihn packen und schütteln, ihm ins Gesicht brüllen, dass er den Scheiß gefälligst lassen soll, dass wir eine Vereinbarung hatten – Obdach gegen etwas zweifelhafte Gesellschaft – und dass das hier, was immer es auch sein mag, ganz sicher kein Teil davon ist. Aber wie fast immer in solchen Fällen versagt mir die Stimme.

Das schwebende, grün leuchtende Ei, aus dem gerade Weißgottwas schlüpft, anzufassen – schon der Gedanke ist geeignet, mich ins Irrenhaus zu bringen. Keine zehn Pferde. Nicht einmal zwei Dutzend Elefanten. Wenigstens könnte ich weglaufen, denke ich, und stehe doch nur unbewegt da und schaue zu, wie der Riss am Bauch sich immer mehr ausweitet und darunter eine ganz neue Form zum Vorschein kommt. Etwa dort, wo sich zuvor Cthulhus Brustkorb befunden hat, ist ein Vorsprung erkennbar, darüber zwei nebeneinanderliegende Vertiefungen – RATSCH! – und darunter eine weitere. Mir stockt der Atem. Unter den Plüschresten zeichnen sich allmählich die Konturen eines Gesichtes ab. Ein Stück von Cthulhus Kopffell fällt herab und gibt den Blick frei auf einen zurückweichenden, dunkelbraunen Haaransatz. So wie meinen.
Genau wie meinen, denke ich noch, als das Plüschei endgültig in Fetzen auseinander fällt und den Blick auf etwas freigibt, was mein Spiegelbild sein könnte. Ein Kopf – mein Kopf! schwebt frei in der Mitte des Raumes. Der Kopf schlägt die Augen auf und blickt mich an.

„Was hast Du getan?“ leiert es seltsam monoton aus dem Mund des Kopfes.

Was schon, will ich antworten, gar nichts habe ich gemacht, ich bin hier gerade erst angekommen, anscheinend gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Cthulhu die Weltherrschaft an sich reißt oder so etwas. Aber mein Kopf lässt mich nicht zu Wort kommen. Ehe ich auch nur Luft holen kann, fährt er fort.

„Halt, was tun Sie hier?“, schreit er, nun deutlich lauter und weniger leiernd als autoritär und aggressiv. Und hat mein Kopf mich nicht gerade noch geduzt?

„Drehen Sie sich bitte langsam um.“

Erst jetzt begreife ich, dass die Stimme gar nicht vom Kopf kommt, sondern von jemand, der offenbar hinter mir steht. Ich folge der Anweisung. Im Flur steht ein Polizist. Von draußen höre ich Stimmen und Schritte, die die Treppe hinaufkommen. Kurz darauf gesellen sich noch zwei weitere Kollegen dazu. Dann kommt noch ein vierter angekeucht. „Haltet den auf!“, bringt er schwer atmend hervor, „der ist gerade einfach unten bei der Absperrung an mir vorbei und ins Haus gestürmt!“

„Und hat hier gerade eine Tür aufgebrochen“, fügt er erste Polizist hinzu .

Allmählich dämmert mir, was hier gespielt wird. In der ganzen Straße wurden wegen des Malstroms die Wohnungen evakuiert, die halbe Stadt – mindestens die halbe – ist auf der Flucht. Da befürchtet man natürlich Plünderungen.

„Ich bin kein Einbrecher“, erkläre ich und hebe beschwichtigend die Hände. „Ich wohne hier.“

„Ach, Sie wohnen hier?“ Der zweite Polizist schiebt sich etwas nach vorne. Seltsamerweise scheint keiner von ihnen sich an dem schwebenden Kopf hinter mir zu stören. Als Polizist ist man wohl einiges gewöhnt. „Nun, das ist gut. Wir wollten hier oben ohnehin mal nach dem rechten schauen. Wir untersuchen gerade die Wohnung von Herrn Rohwalt unter Ihnen; ein Arbeitgeber hat ihn als vermisst gemeldet, nachdem er mehrere Wochen nicht zur Arbeit erschienen ist. Bisher fehlt von ihm jede Spur. Sie wissen nicht zufällig etwas darüber?“

„Ich?“, stottere ich, „Nein, ich...“

„Soso, dann ist ja gut. Wissen Sie, wir haben uns das gefragt, weil seine Wohnung ziemlich feucht war, die Möbel, der Boden, die Matratze, der Teppichboden, alles war nass...“

„Vielleicht ein Rohrbruch?“, schlage ich hilfsbereit vor. Er schaut mich an und zieht die Augenbrauen hoch. Als ich keine weitere Reaktion zeige, fährt er fort. „Einschließlich eines sehr großen, feuchten Flecks an der Zimmerdecke, der ziemlich eindeutig zeigt, dass das Wasser von oben kam – also aus Ihrer Wohnung.“

„Was dagegen, wenn ich mir mal das Bad ansehe?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht der erste Polizist den Flur entlang in Richtung Badezimmer.

„Ich gehe mal in der Küche nachsehen, da wird es ja zumindest auch ein Waschbecken geben“, sagt der zweite Polizist und wendet sich der Küchentür zu.

Der erste Polizist rüttelt an der Badezimmertür. „Hätten Sie vielleicht mal den Schlüssel für mich?“ „Und für mich auch?“, ergänzt der zweite. „Also, Bad und Küche abzuschließen – man kann wohl nicht vorsichtig genug sein heutzutage, wie?“ Sie schauen erwartungsvoll zu mir herüber.

„Also, den … äh … die ...“, stammele ich, „die habe ich nicht äh … die habe ich … äh … verloren.“

„Verloren?“, meint der erste Polizist. „Na, das ist Pech. Wenn man in der eigenen Wohnung nicht mehr ins Bad kann, weil man den Schlüssel dazu verloren hat. Ich mache dann mal wieder auf, Sie gestatten...“ Er tritt mit dem Fuß gegen die Tür; sein Kollege an der Küchentür tut es ihm gleich. Kurz darauf höre ich, wie der Duschvorhang zur Seite geschoben wird. Dann ein Aufschrei. Ich bin nicht überrascht. Der Anblick dieser Stadt des Wahnsinns ist geeignet, auch die Stärksten zu erschüttern.

„Also, das in der Badewanne, … das ist … äh … ich kann das erklären...“ beginne ich, doch niemand scheint sich dafür zu interessieren, was ich zu sagen habe.

Der erste Polizist kommt aus dem Bad zurück in den Flur. „Tja, Fall gelöst, würde ich sagen. Der Vermisste befindet sich in der Badewanne. Jedenfalls würde ich wetten, dass er es ist. Naja – ehrlich gesagt ähnelt das eher einem 3D-Puzzle als einem menschlichen Körper. Aber ich schätze, die meisten Teile sind da. Wenigstens der größte Teil von ihm. Keine Kleidung, und vor allem – keine Spur von seinem Kopf.“

„Der ist hier“, lässt sich der zweite Polizist aus der Küche hören, und schlägt die Kühlschranktür wieder zu, „im Gefrierfach. Hat ein kleines Loch; vermutlich wurde dem Mann von hinten den Schädel eingeschlagen.“

Der erste Polizist richtet seine Waffe auf mich. „Schön ruhig jetzt. Ich verhafte Sie wegen des dringenden Verdachts, Ihren Nachbarn ermordet zu haben. Drehen Sie sich langsam um und nehmen Sie die Hände hinter den Rücken.“

Während ich der Anweisung folge, betritt der vierte Polizist das Wohnzimmer und sieht sich prüfend um. Schließlich fällt sein Blick auf das unterste Fach des DVD-Regals. „Die Kleidung hätten wir dann wohl auch.“ Er geht vor dem Regal in die Hocke und schaut hinein. „Mit ein paar größeren Blutspritzern darauf.“

Als ich die Handschellen an meinen Handgelenken spüre, werde ich panisch. Verstehen die denn nicht, was hier vor sich geht? „Jetzt lassen Sie doch diesen Unsinn!“, rufe ich laut, „Dafür ist jetzt keine Zeit! Ich muss Cthulhu stoppen, ehe er die Welt vernichtet!“

Der erste Polizist lässt die Handschellen klicken. „Wer bitte?“

„Na, Cthulhu! Da!“ Ich deute auf den Boden, wo einige grüne Fetzen Stoff herumliegen.
„Das Plüschtier, das vor ein paar Wochen bei mir eingezogen ist. Das sich gerade in das Ei verwandelt hat, aus dem mein Kopf geschlüpft ist.“ Die Polizisten werfen mir vielsagende Blicke zu. „Er ist auch für das Verschwinden meines Nachbarn verantwortlich. Der – der war zwar nur zwanzig Zentimeter hoch, aber unter seinen Tentakeln, da hatte er ein riesiges Maul, und damit hat er... hat er...“

„Ah“, meldet sich der zweite Polizist zu Wort, „das im Bad war also dein kaputtes Plüschei?“

„Ja“, bestätige ich, „er hat eine Legoversion seiner Heimatstadt in die Wanne gebaut, um sich wie Zuhause fühlen zu können.“

„Ich verstehe. Das in der Badewanne ist also eine Legostadt. Und was ist das da im Kühlschrank?“

Mich schaudert, wenn ich auch nur an den Kühlschrank denke. „Ich weiß es nicht. Er hat da irgend etwas eingesperrt, seither habe ich die Küche nicht mehr betreten!“

„Und das DVD-Regal?“, erkundigt sich der vierte Polizist.

„Ach, die alte Schwarte. Die hat Cthulhu über Amazon bestellt.“, erkläre ich.
Die Polizisten schauen einander an. „Offenbar völlig durch den Wind“, meint der erste. „Da machen wir Bilder, nehmen die Fingerabdrücke und bringen ihn dann erst einmal in die DIAKO.“

„Na, die werden sich freuen, um diese Zeit noch einen für die geschlossene zu kriegen“, bemerkt der zweite Polizist. „Na gut. Jetzt aber mal Abmarsch, Sportsfreund!“

Sie packen mich an den Armen und schieben mich in Richtung Wohnungstür. Ich beginne, mich in ihrem Griff zu winden. „Jemand muss ihn aufhalten! Haben Sie denn den Himmel nicht gesehen?Das ist sein Werk!“

„Was meint er denn damit schon wieder?“, höre ich die Polizisten hinter meinem Rücken. „Den Vollmond vielleicht. Da drehen ja einige durch.“ „Na, der hier wohl schon deutlich früher...“ Sie schieben mich weiter. Ich stemme mich mit den Füßen gegen die Türschwelle.

„Der Malstrom“, schreie ich, „sind Sie blind? Die ganze Stadt ist auf der Flucht davor, am Bahnhof stehen Abertausende dicht gedrängt bis draußen in den Park, nur um sich noch irgendwie an einen Zug klammern zu können!“

Die Polizisten halten inne. Ich spüre, wie einer seinen Griff löst. „Ich checke das mal mit den Kollegen vor Ort bei der Bundespolizei.“ Stoff raschelt. Nach kurzer Zeit höre ich seine Stimme erneut; er scheint zu telefonieren. „Moin! Gribbe hier, von der Kripo. Wir haben hier einen Verdächtigen, der behauptet, die halbe Stadt würde den Bahnhof stürmen. Braucht ihr Verstärkung da unten? – Aha … Ja … Alles ruhig also? Nichts Ungewöhnliches? Ja, gut dachte ich mir schon. Wollte aber trotzdem mal nachfragen. Ruhigen Dienst noch!“ Dann, an seine Kollegen gewandt: „Da ist gar nichts. Der lebt einfach in seiner eigenen Welt. Auf geht’s. Bringt ihn runter. Ich mache hier noch dicht, und passe auf, bis morgen die Kollegen von der Spurensicherung vorbei kommen.“

„Morgen erst?“

„Jou, bei sowas hier müssen die Spezis aus Hamburg anrücken, das dauert.“

Ich protestiere nur noch schwach, als die drei anderen mich die Treppe hinunter zu den Polizeiwagen bringen. Der immerhin, denke ich, war wirklich da.









16

Ich liege auf dem Rücken. Auf der Seite zu liegen, wäre mir lieber; doch das steht derzeit nicht zur Auswahl. Ich bin mit mehreren Riemen auf einer Liege fixiert. Auf einem Stuhl rechts neben mir sitzt ein stämmiger Pfleger, der entscheidend daran beteiligt war, mich in diese Lage zu bringen. Auf der andere Seite steht eine Ärztin, standesgemäß mit einem weißen Kittel bekleidet. Gerade legt sie ihre Fingerspitzen gegeneinander.

Und dieser Cthulhu, von dem Sie da sprechen, ist der jetzt hier?“

„Natürlich nicht!“, schnappe ich, „Oder sehen Sie ihn irgendwo?“

Sie blickt sich mit gespielter Sorgfalt im Raum um. Immerhin schaut sie nicht unter die Liege. „Nein“, antwortet sie schließlich. „Gut, dann sind Sie ja hier erst einmal sicher. Morgen sehen wir dann weiter.“ Sie verlässt den Raum. Der Pfleger bleibt sitzen. Ich starre schweigend an die Decke.

Das klärt sich schon alles, denke ich mir. Ein Mord hinterlässt Spuren, viele Spuren, und da ich keinen begangen habe, wird man keine finden, die auf mich hinweisen. Es wird eine Weile dauern, bis sie alles gefunden und ausgewertet haben, und sicher spricht der Leichenfund in meiner Wohnung gegen mich, aber letzten Endes werden sie mich freilassen.

Trotzdem ist merkwürdig, wo der Nachbar so plötzlich hergekommen ist. Ich habe ihn sehr deutlich in Cthulhus Rachen verschwinden sehen. Vermutlich hat er ihn einfach wieder ausgespuckt und entsprechend in der Wohnung verteilt. Und jetzt will er mir die Sache anhängen. Klar, denke ich, glasklar, die Protagonisten dieser Cthulhu-Geschichten enden doch ständig in Gefängnissen oder Psychiatrien für Dinge, die sie nicht getan haben, oder die in Wahrheit ganz anders waren, als es scheint.

Jetzt, wo ich darüber nachdenke, wird mir die Lage erst richtig klar: Cthulhu – oder was von ihm übrig ist – ist in der Wohnung. Er hat die ganze Nacht Zeit, Dinge verschwinden zu lassen, umzustellen, hinzuzufügen, wegzuwischen. Dass der Bulle vor der Tür etwas davon mitkriegt, wird er schon zu verhindern wissen. Wahrscheinlich hat er schon eine passende Mordwaffe aufgetrieben und reibt sie gerade mit Blut ein. Wenn die forensische Untersuchung morgen fortgesetzt wird, wird alles gegen mich sprechen. Ich muss nach Hause. Jetzt.

„Machen Sie mich los!“ Ich schreie so plötzlich los, dass der Pfleger vor Überraschung fast rückwärts vom Stuhl kippt. „Ich muss in meine Wohnung, ehe Cthulhu alles verschwinden lässt, was meine Unschuld beweist!“ Ich stemme mich mit aller Kraft gegen die Riemen, werfe mich wie wild hin und her. Immerhin bringe ich die Fixierliege ins Wanken. „Bitte! Bald ist zu spät!“

Der Pfleger schaut mich betrübt an. Vermutlich seufzt er. Falls ja, kann ich es nicht hören. Dafür brülle ich zu laut. Sein Mund bewegt sich. Offenbar sagt er etwas zu mir, doch auch das geht unter. Ich verstehe kein Wort. Was ich durchaus verstehe, ist der Anblick der Spritze, die er nun hervorholt. Ein Schlaf- oder Beruhigungsmittel vermutlich. Wenn er mir das verabreicht, werde ich den Rest der Nacht verschlafen und alles ist verloren. Ich versuche, mich so herumzuwerfen, dass er keinen festen Punkt findet, um sie anzusetzen – vergebens. Mit einer Hand drückt er meinen Arm auf die Liege, mit der anderen setzt er die Spritze an. Das ganze geht so schnell, dass ich nicht einmal den Pieks bemerkt.

Verloren. Alles verloren. Ich sinke matt auf die Liege zurück. Nun kann ich auch die Stimme des Pflegers wieder hören. „So, Kumpel, gleich geht es dir besser“, sagt er, eher mitfühlend als verärgert über meinen Ausbruch. Tatsächlich spüre ich, wie ich allmählich ruhiger werde. Als würde ein Schleier von meinen Gedanken gezogen.

Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Wäre ich nicht schon so müde, würde ich auflachen. Was immer hier geschieht, es ist ganz sicher nicht das, wonach es aussieht. Warum sollte Cthulhu das tun? Er will bei mir wohnen. Folglich hat er kein Interesse daran, mich in einer Psychiatrie versumpfen zu sehen. Natürlich! Das alles hier ist wieder nur einer seiner Streiche. Die angebliche Leiche eine Wahnvorstellung, die er den Polizisten vorgaukelt. Und mein Nachbar – wahrscheinlich ist er im Urlaub, macht irgendwo Schießübungen mit seinen Nazifreunden oder so. Bald wird er zurück sein, dann klärt sich alles auf. Und wer sagt denn überhaupt, denke ich, indem ich meine zufallenden Augen noch einmal dazu zwinge, sich zu öffnen, dass das hier alles echt ist? Vielleicht hat sich Cthulhu diesmal nur richtig ins Zeug gelegt mit dem Empfang. Wahrscheinlich bin ich gar nicht in einer Psychiatrie, und höchstwahrscheinlich bin ich auch gar nicht gefesselt. Sicherlich liege ich in Wahrheit gemütlich in meinem Bett, und wenn ich morgen aufwache, ist alles wieder normal.
Überhaupt, diese ganze Geschichte mit einem telepathischen Stofftier ist doch reichlich absurd. Wenn man so darüber nachdenkt, ist es doch eigentlich ganz offensichtlich, dass das alles, von vorne, bis hinten, nur ein Traum war.

So wird es sein. Ich entspanne mich. Und lächle. Die Augen fallen mir zu, und ich schlummere langsam ein. Irgendwo in meinem Kopf höre ich noch leisen Gesang. Eine tiefe, beruhigende Stimme.

„So you go round and round and round, another life, another wound
and when you finally touch the light, they' send you back into the night.“

Dann schlafe ich ein.

Ich schrecke hoch. Mit aufgerissenen Augen sitze ich plötzlich im Bett, den Rücken kerzengerade.
Mein Atem geht hektisch und stoßweise, als sei ich gerade aus einem Würgegriff entkommen. Ich spüre meinen Schlafanzug, wie er mir an der schweißnassen Haut klebt. Ein Teil des Betttuchs hat sich von der Matratze gelöst und bildet mit der Bettdecke ein wüstes Knäuel.
Ich muss einen Alptraum gehabt haben, sage ich mir, und ich versuche, langsamer zu atmen, um mein hämmerndes Herz zu beruhigen. Ein Alptraum. Nur ein Alptraum. Nur ein Traum. Zum Glück ist er jetzt vorbei. Zum Glück hat mich etwas geweckt.

Aber was?




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