Die (un)moralische Anstalt

Rubrik für Theaterstücke, Szenen, Sketche, Dialoge, Hörspiele, Drehbücher und andere dramatisch angelegte Texte
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Cicero
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Beitragvon Cicero » 05.04.2013, 23:06

Die (un)moralische Anstalt

Eine Abrechnung

Über das Theater zu schreiben ist ein unerschöpfliches, aber auch schwieriges Unterfangen. Es gelingt, so denke ich, auch nur dann, wenn man selbst der totalen Erschöpfung nahe ist. Erst wenn man alle Höhen und Tiefen, die man auf und hinter den weltbedeutenden Brettern erlebt hat, hinter sich lässt, dann ist man bereit für den Rundumschlag. Die Zeit des Zitterns vor Premieren, vor Regisseuren, vor Intendanten, vor Neidern und Kritikern, sie weicht der Zeit der Abrechnung.

Kein wehmütiger Blick zurück auf Rollen und Inszenierungen mildert die Wut der Finger über der Tastatur, mit jedem Anschlag der Wahrheit näher, das muss das Credo sein.

Wer, so wie ich, vierzig Jahre lang über die vorhin schon erwähnten Bühnenbretter schlich und stolperte, tanzte und hinkte, schlurfte und raste, marschierte und taumelte, dem sei es erlaubt, hier in lockerer Abfolge selbst erlebtes und von Kollegen gehörtes zu erzählen.

Da meine Memoiren irgendwann unter dem Titel "Vom Burgtheater habe ich immer geträumt ... - Eine Karriere in der Provinz" erscheinen werden, ist es also naheliegend mit Burg und Provinz zu beginnen.

Ein Stück, zwei Welten

Peter Zadek inszenierte am Wiener Burgtheater Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig". Der Regiestar zeigte am Premierenabend dem faszinierten Publikum die perfekte Verschmelzung von Klassik und moderner Technik. Im Burgtheater wurde klargestellt, ohne Handy muss Shakespeare scheitern. William´s Figuren funktionieren nur in Designer-Klamotten und mit Nokia am Ohr. Sie tragen Rolex-Uhren und teure Lederkoffer, verfolgen die Börsen-Notierungen und schlürfen schon am Vormittag ihren Prosecco in der Nobel-Cafeteria auf dem Marcus-Platz. Shylok ist Chef einer Bad-Bank (obwohl es diesen Begriff damals, als das Stück in Wien Premiere hatte, noch nicht gab), wie er im Buche steht und lässt Bank-Manager vom Typ Ackermann fast sympathisch erscheinen. Die erste Riege der Burgtheater-Mimen garantiert sprachliche Perfektion, das Feuilleton schreibt wahre Hymnen und Zadek wird ein Shakespeare-Zyklus angeboten.

Wie anders sieht es aus, wenn man sich in der Provinz an diesen Stoff heranwagt. Dort scheitert das Stück im wahrsten Sinne des Wortes schon am "Stoff". Die Anzüge kommen nicht von "Brioni", sondern aus dem Fundus. Die Koffer sind Krokoimitat aus Kunststoff, die Uhren bestenfalls Timex statt Rolex und die Handys Atrappen aus Plastik. In einem Bühnenbild, das verblüffende Ähnlichkeit mit der bereits abgespielten Operetten-Produktion "Eine Nacht in Venedig" hat, gibt ein Mime, der schon vierzig Jahre Stadttheater in seiner Vita stehen hat, den Shylok. Der Filialleiter der Stadtsparkasse vor Ort wirkt bei der Vergabe eines Kleinkredites gefährlicher. Die Regie besorgt der unkündbare Oberspielleiter, der schon immer betonte, seine Liebe gehöre der Operette. Im "Kaufmann" gibt es keine Musik, die seine inszenatorischen Schwächen verdecken könnte. Bevor sich der Vorhang zum ersten Akt hebt, ist das Stück schon gescheitert. Spätestens jetzt wäre es an der Zeit Herrn Shakespeare anzurufen, um seine Meinung einzuholen, aber keiner hat seine Handynummer.

Schade!

:-)
Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet. (Karl Kraus)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 06.04.2013, 11:39

Lieber Franz,
solche Insider-Plaudereien finde ich immer wieder faszinierend (Petra Mosbachs Opernroman habe ich schon mal erwähnt, oder?).
Ob es allerdings wirklich "Wut" ist, was zum Schreiben antreibt? Nicht auch ein wenig abgeklärte Wehmut?
Und ist das Stück, von dem im zweiten Absatz wirklich die Rede ist, wirklich wegen des geringen Budgets gescheitert? Letztlich ist es doch nur ein weiteres "Übertragen" - Zadek übertrug Shakespeares Stück in die Welt der Hochfinanz, das Provinztheater überträgt in die Theaterwelt des Darstellen-Wollens der Hochfinanz mit unzureichenden Mitteln. Um das zu goutieren, muss natürlich die Regie etwas mehr Witz und das Publikum etwas mehr Wohlwollen aufbringen, aber es MUSS nicht scheitern ... (Natürlich muss auch der operettenliebhabende Oberspielleiter ein wenig positive Energie einstreuen!)

Liebe Grüße
Zefira, die immer mit dem festen Vorsatz, sich verzaubern zu lassen, in die Oper geht - und deshalb eine Menge Regieeinfälle schluckt, die von anderen als Zumutung betrachtet werden!
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Cicero
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Beitragvon Cicero » 06.04.2013, 17:16

Liebe Zefi,

Petra Mosbachs "Opernroman", den Du mir schon vor einem Jahr sehr empfohlen hast, habe ich natürlich mit großer Begeisterung gelesen. Klasse! Sogar Kritikerpapst Reich-Ranicki sparte nicht mit Lob ...

Da ich in der "Provinz" beim "Kaufmann" mit dabei war, kann ich nur sagen, zum Glück gab es von der Zadek-Inszenierung am Burgtheater eine TV-Aufzeichnung. Der operettenliebhabende Oberspielleiter hatte einiges schamlos aus Wien abgekupfert ...

Kein Ruhmesblatt für die Regie, aber wir gingen mit dem Stück wenigstens nicht gänzlich im Lagunenstadt-Bühnenbild baden.

;o)

Dir, Zefira, herzliche Grüße in Dein Wochenende

Franz
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