Burdizzo

Rubrik für Theaterstücke, Szenen, Sketche, Dialoge, Hörspiele, Drehbücher und andere dramatisch angelegte Texte
Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.02.2016, 21:33

Hannes: Hast du mal einen Augenblick Zeit?
Branko: O, das hört sich schlimm an.
Hannes: Ist es auch. Ich will hier weg.
Branko: Wie – hier weg? Wo wir uns grad so schön …
Hannes: Ich will hier weg.
Branko: Und die netten Kontakte … Katja mit ihrem tollen Wotan …
Hannes: Du meinst, mit dem armen kastrierten Weimaraner Rüden …
Branko: Er hatte einen Hodenhochstand und musste …
Hannes: Erinnere mich nicht dran, sonst wird mir schlecht.
Branko: Stimmt. Als sie von der Zange sprach … Wie hieß sie noch?
Hannes: Burdizzo.
Branko: Du wirst ja schon wieder ganz bleich!
Hannes: Ich kann hier nicht bleiben. Alles ist mir verleidet. Ich kann die Wandbilder, die Möbel, den Kamin, die freigelegten Balken – ich kann das alles nicht ansehen, ohne an ihn zu denken.
Branko: An den armen kastrierten Wotan?
Hannes: Quatsch. An den Arzt und Maler, der hier gewohnt hat.
Branko: Aber du hast ihn doch bis vor kurzem regelrecht verehrt. Was hat sich geändert?
Hannes: Es ist zu entsetzlich, was er durchlitten hat.
Branko: Aber dass er im KZ war und den rosa Winkel trug, wissen wir doch seit langem. Darauf warst du stolz, und ich war es mit dir!
Hannes: Hast du dich nie gefragt, warum sie ihn – entlassen haben?
Branko: Sie haben ihn …
Hannes: Er hat darum gebeten.
Branko: Wie hast du es erfahren?
Hannes: Hier - lies!
Branko: Unfassbar!
Hannes: Ich ertrage das nicht.
Branko: Ja, es ist schrecklich. Aber die Alternative war doch wohl, im Lager zugrunde zu gehen – an Krankheit, Hunger, Überarbeitung, Kälte, gedemütigt von widerwärtigen Normalos … Wäre das besser gewesen?
Hannes: Aber was für ein Leben ist das dann noch?
Branko: Er hat doch als Arzt noch sehr segensreich gewirkt. Und hat er seine Bücher nicht alle erst nach dem Krieg geschrieben?
Hannes: Auf allem liegt jetzt der Mehltau dieser Verstümmelung. Was bliebe mir, wenn ich kein Mann mehr wäre?
Branko: O – eine ganze Menge! Du bist ein großartiger Maler. Ein ausgezeichneter Koch. Ein begnadeter Gitarrist … Und ein hervorragender Zuhörer.
Hannes: Nein, nichts.
Branko: Darf ich ehrlich sein? Ich habe meine Sexualität oft als Last empfunden. Wieviel Zeit und Energie hat sie mich gekostet, die ich anders sinnvoller hätte einsetzen können! Ja, ich bin sicher – ich wäre schon viel weiter, wenn ich nicht so oft völlig versumpft wäre auf der Suche nach noch ausgefalleneren, noch größeren Genüssen, für die ich mit innerer Leere, ja, mit Selbstekel bezahlt habe.
Hannes: So denkst du darüber? So verächtlich?
Branko: Erst mit dir habe ich sie wieder schätzen gelernt.
Hannes: Sie ist eine Gottesgabe, ist mein Motor, wenn ich male, Gitarre spiele, koche, sogar wenn ich zuhöre … Ohne sie wäre alles flau, grau und kahl. Wenn das bei dir anders ist, sollten wir uns trennen.
Branko: Oft, wenn ich in meiner Beobachtungskanzel sitze und in die Tiefen des Alls schaue – ja, das tue ich, es geht nichts über den Augenschein, die Kamera kann ihn nicht ersetzen – dann ist mir, als blickte ich in einen riesigen Schoß – den, aus dem ich kam, und den, in den ich zurückkehren werde … Das ist meine Erotik und Sexualität, und wenn du damit nichts anfangen kannst, tut‘s mir leid. Ich bin sicher, dass unser Vorgänger in diesem schönen Haus seine Entmannung nicht nur als Verlust, sondern auch als Befreiung erlebt hat.
Hannes: Wenn du so redest, ist mir, als setztest du bei mir die Zange an. Ich gehe packen.
Branko: Nein, Hannes. Bitte bleib! Ohne dich – ist alles flau, grau und kahl!
Zuletzt geändert von Quoth am 20.02.2016, 12:45, insgesamt 3-mal geändert.
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nera
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Beitragvon nera » 18.02.2016, 22:35

hm...ja! (erstmal)

pjesma

Beitragvon pjesma » 18.02.2016, 22:37

Ein toller text, musste laut auflachen am ende :-)
den satz " Wieviel Zeit und Energie hat sie mich gekostet, die ich anders sinnvoller hätte einsetzen können! " nehm ich als eine warnung für uns alle egalgeschlechtlich die zwischen branksos und hannes`sichtweiße pendeln ;-)
lg

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nera
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Beitragvon nera » 19.02.2016, 01:20

ich kann den text schlecht lesen oder etwas dazu sagen. meine oma wurde von den nazis zwangssterilisiert, nachdem sie meine mutter mehr oder weniger heimlich zur welt gebracht hatte. eine schwester von ihr musste abtreiben und wurde, wie alle übrigen geschwister auch sterilisiert. von 7 geschwistern hatten drei den grauen star. das war der grund.

pjesma

Beitragvon pjesma » 19.02.2016, 02:45

siehste, ich hab das aus der gedichte ganz aus dem acht gelassen. ich betrachtete es als ein pärchen dialog über körperlichkeit, wünsche, bestrebungen, emotionellen kompatibilität. ich wollte noch vorschlagen das mit KZ rauszuschmeißen und mit eine andere art entmannung zu ersetzen, ohne diese kz erwähnung dass sofort das kopf heben und auflauschen lässt . aber wenn die intention war das kriegsgrauel darzustellen, dann müsste es noch mehr betont werden und nicht rausgeschmissen werden. es dürfte dann nicht so kurz erwähnt werden und gleich im plaudern versickern...
lg

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.02.2016, 13:33

Hallo Quoth,

hm, ich finde auch, dass deine Zeilen das Ganze etwas zu sehr verharmlosen. Auch kommt mir der Sinneswandel von Hannes nicht sehr plausibel rüber.

Liebe Grüße
Mucki

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nera
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Beitragvon nera » 19.02.2016, 14:57

habe ich etwas überlesen?

Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.02.2016, 19:27

Hallo liebe Leserinnen, wäre vielleicht nicht überflüssig gewesen, darauf hinzuweisen, dass dies eine Art Fortsetzung des Textes "Branko" ist.
Hallo Nera, was für furchtbare Erinnerungen! Soll ich nun bedauern, sie bei Dir ausgelöst zu haben? Ich freue mich, dass Du imstande warst, sie hier einzubringen.
Hallo Pjesma, das Problem des Textes ist die Vermischung des Fiktiven mit dem real Verbürgten, und das ist mir sicherlich nicht bruchlos gelungen und auch die Mengenverhältnisse des einen zum anderen sind durchaus fragwürdig.
Hallo Mucki, kann Dein Unwohlsein gut verstehen, aber wenn ich die Geschichte des Entmannten ausführlicher darstelle, sprengt sie den gesamten mir sehr wichtigen Kontext. Läuft es nicht auf Verdrängung hinaus, wenn man Anspielungen auf die Nazizeit vermeidet, weil sie nur in erschöpfender Gründlichkeit vertretbar sind? Verharmlosung kann ich in meinem Text nicht erkennen, Brankos Argumente rechtfertigen nichts, auch er ist entsetzt, sucht nur nach einer Möglichkeit, den Vorgang seinem Freund verständlich und erträglich zu machen. Der "Sinneswandel" von Hannes, dass er ausziehen will, weil das Idol des Vormieters für ihn zusammengebrochen ist - ja, wird das nicht klar genug?
Dank für Befassung!
Quoth
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.02.2016, 20:22

Hallo Quoth,
Quoth hat geschrieben:Der "Sinneswandel" von Hannes, dass er ausziehen will, weil das Idol des Vormieters für ihn zusammengebrochen ist - ja, wird das nicht klar genug?

hab mich nicht deutlich ausgedrückt. Der Sinneswandel kommt klar rüber, aber der plötzliche Grund dafür, ist mir nicht klar. Es kommt so unvermutet daher.
Quoth hat geschrieben:Hannes: Ich kann hier nicht bleiben. Alles ist mir verleidet. Ich kann die Wandbilder, die Möbel, den Kamin, die freigelegten Balken – ich kann das alles nicht ansehen, ohne an ihn zu denken.

Oder möchtest du es hiermit erklären, also, dass er diese Tatsache erst gerade erfahren hat?
Quoth hat geschrieben:Hannes: Hast du dich nie gefragt, warum sie ihn – entlassen haben?
Branko: Sie haben ihn …
Hannes: Er hat darum gebeten.
Branko: Unfassbar!
Hannes: Ich ertrage den Gedanken nicht.

Das würde es dann plausibel machen.

Liebe Grüße
Mucki

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.02.2016, 20:26

Ach so, hierzu noch:
Quoth hat geschrieben:kann Dein Unwohlsein gut verstehen, aber wenn ich die Geschichte des Entmannten ausführlicher darstelle, sprengt sie den gesamten mir sehr wichtigen Kontext. Läuft es nicht auf Verdrängung hinaus, wenn man Anspielungen auf die Nazizeit vermeidet, weil sie nur in erschöpfender Gründlichkeit vertretbar sind? Verharmlosung kann ich in meinem Text nicht erkennen, Brankos Argumente rechtfertigen nichts, auch er ist entsetzt, sucht nur nach einer Möglichkeit, den Vorgang seinem Freund verständlich und erträglich zu machen

Ja, stimme dir zu. Passt.

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Beitragvon birke » 19.02.2016, 23:48

jajajaja... ich finde das sehr stimmig und eigentlich gekonnt übergeleitet, übertragen auf die persönliche aktuelle situation der beiden protagonisten.
mir gefällt das, gerade, dass die situation von damals anlass ist zur jetzigen diskussion der beiden. hier wird für mich vergangenheit lebendig in die gegenwart getragen. wunderbar der schlusssatz, die schlussworte!
ich hoffe, es gibt noch mehr von den beiden (dreien) zu lesen. :)
lg
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 20.02.2016, 08:46

Hallo Mucki,
habe zwei Zeilen eingefügt, die darauf hinweisen, dass Hannes erst seit kurzem diese Informationen hat:
Branko: Wie hast du es erfahren?
Hannes: Hier - lies!

Hallo Birke,
vielen Dank für die freundlichen Worte. Ja, auch die Jägerin soll zu Worte kommen. Von Jules Renard habe ich gerade gelesen, er habe 1904 eine Lerche geschossen - und anschließend seinen Jagdschein zerrissen. Das könnte ein schönes Motiv sein!
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nera
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Beitragvon nera » 20.02.2016, 12:58

ich finde es auch stimmig. und zumindest für mich persönlich hat es eine ebene eröffnet, über die ich vorher nicht nachgedacht habe. (meine erinnerung ist es ja nicht, quoth und es wurde zuwenig darüber gesprochen. du musst nichts bedauern. ich habe schon vor längerer zeit damit angefangen über diese "schwarze löcher" öffentlich zu sprechen. zumindest in meiner familie gehts auch in die andere richtig, so das es weh tut. mein opa väterlicherseits war strammer nazi und leiter eines arbeitslagers. da wurde auch nichts drüber geredet und selbst die söhne wissen kaum was. ich bin überzeugt, dass man sich damit auseinander setzen muss und auch trauern muss.)


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