Die Obduktion

Rubrik für Theaterstücke, Szenen, Sketche, Dialoge, Hörspiele, Drehbücher und andere dramatisch angelegte Texte
Kurt
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Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 20.08.2017, 17:35

Jan fühlte sich fremd
in seinem Elternhaus.
Vom Vater distanziert
kauerte er in seinem
emotionalen Schützengraben,
wenn der Vater von ihm den
gleichen Kadavergehorsam forderte
wie von sich selbst, für Pflichten
die Jans Wesen widerstrebten;
und seine Mutter schaute ihn an
mit traurigen Augen, als
er den Bauernhof verließ,
weit weg sein Glück suchte.

Einmal im Jahr kehrte er heim,
an Weihnachten, ein Fremder
mit dem inneren Ringen nach
Annäherung, vergeblich, wenn
die Mutter sich wünschte, er möge
doch in ihre Nähe umziehen; und
als der Vater starb war er weit fort.

Um die Mutter kümmerte sich
sein jüngerer Bruder. Bis
zu ihrem Tode lebte sie
in dem alten Bauernhaus,
wo er immer noch auf
Besuch kam, einmal im Jahr,
mit seiner Freundin Bianca.
Sein Bruder legte dann
immer eine Matratze hin an die
Stelle, wo das Sterbebett der
Mutter gestanden hatte.

Dieses Mal sah Jan am
Morgen einen schwarzen
Käfer hervorkrabbeln, so
groß wie die Maus, mit der die
Katze tags zuvor ihr böses
Spiel getrieben hatte.

Bianca hatte in der Nacht
ein kratzendes Geräusch bemerkt.
Der Käfer kam ihr unheimlich vor, als
Jan ihr sagte, es sei ein Totengräber.
Und als hätte jener sie ausgegraben, so
gegenwärtig waren sie plötzlich wieder da,
der Vater mit seinem vorwurfsvollen Ton
und die Mutter mit ihrem ambivalenten
Blick, traurig lächelnd, enttäuscht, Jan
ein schlechtes Gewissen machend.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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