Der leihende Leser - Sams Lit|Blog

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Sam

Beitragvon Sam » 04.10.2011, 10:58

Eine Idee, die ich schon seit langem mit mir herumtrage: Besprechungen, Notizen, Gedanken über Bücher, die ich in der Leihbibliothek gefunden habe. Keine ausgearbeiteten Rezensionen, sondern spontane Eindrücke, Assoziationen, von der Lektüre angestoßene Gedankengänge, beim Lesen aufkeimende Ideen.
Für den Leser erhoffe ich mir vor allem ein wenig Vergnügen bei der Lektüre, im besten Fall den ein oder anderen Gedankenanstoß oder die Lust, erwähnte Bücher ebenfalls zu lesen. Und Nachsicht, wenn sich hie und da ein Rechtschreibfehler einschleicht, ganz zu schweigen von über- oder unterzähligen Kommata.
Kommentare aller Art sind natürlich willkommen. Ich werde die einzelnen Beiträge durchnummerieren. Etwaige Kommentatoren können sich dann darauf beziehen, sodass andere Mitleser problemlos herausfinden können, auf welchen Beitrag sich der entsprechende Kommentar bezieht.


#1
Zum Einstieg: Ein Lob auf die Leihbibliothek

Meine Liebe zu Büchern ist eine zweifache: Ich liebe es, sie zu lesen, und ich liebe es, sie zu besitzen. Das ist, wie viele aus eigener Erfahrung vielleicht wissen, nicht dasselbe. Man kann ebenso ein Buch lesen, ohne es zu besitzen, wie eines besitzen, ohne es jemals gelesen zu haben (man denke nur an die schon sprichwörtlich gewordene verstaubte Bibel ganz oben auf dem Bücherregal, die nach Omas Dahinscheiden irgendwie ihren Weg dorthin gefunden hat).

Die Liebe zum Lesen ist eine recht problemlose Leidenschaft, da sich Lesestoff beinahe überall findet (es sei denn man ist für Monate im Dschungel und das einzige, was man lesen kann, sind Flöhe von der Matratze). Mit dem Besitzen von Büchern ist es schon komplizierter. Das kostet Geld und erfordert Platz. Zudem kann sich die Intensität des Besitzgefühls durch die Lektüre verwandeln. Gerade aus diesem Grund gibt es nicht wenige, die Bücher besitzen, nicht um sie zu lesen, sondern um sie einfach zu haben, bestenfalls ab und zu darin zu blättern. Gesamtausgaben sind in dieser Hinsicht besonders beliebt. (In meinem Besitz befinden sich drei Gesamtausgaben: Heine [viel gelesen], Shakespeare [sehr viel gelesen] und Borges [alles gelesen].)

Das gute Gefühl ein Buch zu besitzen speist sich bei mir vor allem aus dem Wissen, jederzeit Zugriff darauf zu haben. Das gilt für die Gelesenen und jene, die von Autoren stammen, die ich kenne und schätze. Dazu kommen die Ungelesenen, auf deren Lektüre ich mich freue, die aber eine Art Notvorrat darstellen, für den Fall, auf nichts anderes mehr zurückgreifen zu können. Besitzgefühle niederer Art finden sich bei Schnäppchenkäufen, Geschenken oder Buchpreisen. Ob ich sie je lesen werde, weiß ich nicht. Aber einfach wegschmeißen oder sie, eingesperrt in Umzugskartons, auf den Dachboden stellen, das bringe ich dann doch nicht übers Herz.

Aber zurück zum größten Problem des Bücherbesitzens. Da Geld- und/oder Raummangel in meinem Leben bisher eine Samsche Konstante gebildet haben, waren dieser Liebe immer klare Grenzen gesetzt. Könnte man nur die Bücher lesen, die man auch besitzt wäre dies natürlich fatal. Aber für solche Fälle hat der liebe Gott ja die Leihbibliotheken erfunden. Meine ersten Bücher lieh ich mir in der Schulbibliothek. Dann kam die Stadtbibliothek dazu (und was hat man damals für Entdeckungen machen können: Alle Bände von „Fünf Freunde“; die ??? ; unvergessen: Der kleine Hobbit und alle drei Bände von Herr der Ringe usw.). Rückblickend betrachtet war ich also von Anfang an ein leihender Leser. Nicht nur in Bibliotheken. Als sechzehnjähriger Frischling hatte ich das große Glück eine auf den Tag genau zwei Jahre ältere Freundin zu haben, die auf dem Gymnasium Deutsch als Leistungskurs belegt hatte. Und von ihr lieh ich mir dann (zugegeben erst auf ihr Drängen hin): Hesse, Böll, Grass, aber auch Oscar Wilde, Salinger, Kerouac, Virginia Wolf. Die Tür war aufgestoßen, von da an machte ich mich ständig auf die Suche, diese Leseerfahrungen nach zu überbieten oder wenigstens zu wiederholen. Und wo war besser Suchen, als in öffentlichen Bibliotheken.

Die Jahre im Ausland waren diesbezüglich natürlich ein Rückschritt. Der Lektüre beschränkte sich weitestgehend auf amerikanische Paperback, die von Touristen in irgendwelchen Second Hand Läden gegen Muschelketten und Schnitzereien eingetauscht worden waren. Thriller zumeist (Tom Clancy und Robert Ludlum waren damals die Favoriten). Aber auch hier hatte ich ein Leiherlebnis der besonderen Art. In der Stadt Ibarra, im Norden Ecuadors lernte ich den Maler Josè Villareal kennen. Und der war ein begeisterte Leser von Borges. Er besaß eine in Kolumbien gedruckte Gesamtausgabe. Band für Band lieh ich mir bei ihm und auch wenn ich nur ein Drittel verstand, reichte es aus, um in mir eine Leidenschaft und Begeisterung zu wecken, die bis heute angehalten hat.

Als ich 2002 von Marbella nach München zog, kam ich ins leihbibliothekarische Paradies. Da war einmal die große Bibliothek am Gasteig, eine unerschöpfliche Fundgrube für Literatur aller Art. Und nicht nur dort, auch die über alle Stadtteile verteilten Filialen hatten jede für sich ein eigenständiges Repertoire an erstklassigem Lesestoff. Wenn ich etwas an München vermisse, dann das (wer braucht schon Berge und Oktoberfest?)!

Seit drei Jahren nun sind es die Stadtbibliotheken von Koblenz und Trier, die ich regelmäßig auf der Suche nach Interessantem, nach Altem und Neuem durchstöbere. Natürlich halten sie einem Vergleich mit dem Münchner Gasteig nicht stand, aber gerade die Trierer Bibliothek braucht sich nicht zu verstecken. Mit etwas Glück bekommt man sogar aktuelle Romane kurz nach ihrem Erscheinen schon zur Ausleihe. Koblenz ist da etwas langsamer und auch geiziger im Sortiment. Dafür ist dort die Geschichts- und auch Philosophieabteilung groß und gut sortiert. Auf jeden Fall ist es unmöglich, eine der beiden Bibliotheken zu betreten, ohne etwas zu finden, in das ein Blick zu werfen sich nicht lohnen würde.

Aber nicht nur die Auswahl macht es, sondern auch die Möglichkeit zu probieren. Wer geht schon in einen Buchladen, kauft zehn Bücher, die ihm interessant erscheinen, liest sie zu Hause an und entscheidet sich dann dafür nur eines oder zwei davon zu lesen, da die anderen nicht ganz das halten, was Titel und Klappentext versprochen haben? In einer Leihbibliothek aber ist dies möglich. Dort kann man sogar zwanzig Bücher zum Verkosten mitnehmen. Mehr Luxus geht nicht, oder?

Wenn man in der Leihbibliothek durch die Reihen von Büchern geht, so ist das ein ganz besonders Gefühl, denn alle stehen sie einem offen. Man hört immer ein leises Flüstern. Es sind die Buchttitel, die als Gesäusel ins Ohr sickern, um im Gehirn ihre Lockstoffe zu hinterlassen. Das kann manchmal verwirrend sein. Anderseits ist es ein schönes Gefühl, ein Buch in der Hand zu halten, von dem man weiß, dass man es gerne lesen möchte. Aber im Korb liegen schon fünf andere, deren Anziehungskraft stärker ist. Dann stellt man es zurück ins Regal, nicht mit dem Gefühl des Verzichts (wie es einem vielleicht im Buchladen überkommen würde), sondern mit der Gewissheit, dass es auf einen bis zum nächsten Besuch wartet.

Natürlich würde ich all die Bücher, die ich bisher gelesen und auch nur angelesen habe auch gerne besitzen. Aber in dieser Hinsicht gilt:


#2
Ich gehe in die Bibliothek wie zu einer Geliebten, die ich mir leisten kann.


#3

Jean Améry äußert in seinem Buch "Hand an sich legen" einen Gedanken, der auch als Erklärung dafür dienen kann, warum wir das Böse nicht wirklich verstehen. Améry schreibt, die wahren Motive für einen Selbstmord werden nur in dem Augenblick klar, wenn der Suizident tatsächlich Hand an sich legt. Und auch nur ihm sind sie in diesem Moment ersichtlich und behaupten sich gegen alles für und wider. Mein Gedanke ist: Mit dem Bösen, das jemand im Begriffe ist zu tun, mag es sich genauso verhalten. Ausschließlich dann, wenn er zur Tat schreitet und auschließlich ihm als Handelnden erschließt sich der Grund für sein Tun. Das Davor und Danach bewegt sich, wie im Falle des freiwilligen Ausscheidens aus dem Leben, in dem von allen Seiten angreifbaren Bereich der Spekulation.



# 4

Das Musikalische, das Oszillierende in Thomas Bernhards Prosa lassen einen Menschen dahinter vermuten, der verzweifelt versucht, sich und alles andere gedanklich solange einzukreisen, bis der wahre Kern sichtbar wird. Oder, bis nichts mehr übrig bleibt. Seine Briefe, Interviews oder das kleine Büchlein „Meine Preise“ mit kurzen Berichten und Selbstdarstellungen, zeigen allerdings eher einen Menschen, der mit aller Macht demonstrieren möchte, er gehöre nicht dazu. Weil er davon überzeugt ist, eigentlich der Einzige zu sein, der dazu gehört. Das macht ihn als Person langweilig. Sowie auch Proust oder Kafka als Personen langweilig sind, da all das, was an ihnen interessant war, in ihre Prosa eingeflossen ist.
Bernhard, Proust, Kafka – man braucht nichts über sie zu wissen und kann sie dennoch mit großem Vergnügen und Gewinn lesen.

So ganz anders verhält es sich mit Thomas Mann. Es ist, als wäre da zeitlebens ein Impuls da gewesen, sich gegen sein Schreiben zu stemmen, damit er nicht gänzlich darin versickert und untergeht. Selbst auf Kosten von Lächerlich- und Peinlichkeiten. Dazu kommt, dass Thomas Mann in seiner Zeit lebte, auf eine aktive Weise, ihr seinen Stempel aufdrückte, wie umgekehrt sie auch ihm. Das letzte was T.M. sein wollte, war ein Opfer seiner Zeit. Deswegen auch seine beharrliche Weigerung, sich zum Chronologisten zu erniedrigen. Aus diesem Grund war seine Prosa nie auf Höhe der Zeit, sondern hinkte ihr immer hinterher. Er selber aber war es, mit all den Irrtümern, die er sich geleistet hat. Aber gerade dies macht ihn als Person interessant. Die Reibung an der Gegenwart lässt ihn in seinen Geschichten und Büchern und vielen Essays weit zurückgreifen, um seinen Kampf auf schon lange geräumten Schlachtfeldern auszutragen. Der Zugang zur Prosa Thomas Manns führt am Ende immer über den Menschen Thomas Mann. Ausführlich wieder beschrieben in dem Buch „Thomas Mann, der Amerikaner“ von H.R. Vaget.


# 5

Martin Walser ist ein Phänomen. Er ist der letzte Überlebende einer Schriftstellergeneration, die nach dem Krieg für eine neue deutsche Literatur stand und die vor allem durch die Gruppe 47 einen großen Bekanntheitsgrad erreichte. Überlebender nicht nur im physischen Sinne, er ist tatsächlich noch genauso produktiv wie eh und je, während andere nur noch in ihrer Biografie wühlen oder gänzlich verstummt sind. Neben vielem anderen ist ihm auch dieser ungebrochene Kreativitätsausstoß schon einige Male zum Vorwurf gemacht worden. Ich finde es, ganz unabhängig von der Qualität des Erzeugten, beachtens- und in gewissem Maße auch bewundernswert.

Muttersohn heißt sein neuestes Werk, bei dem er sich tatsächlich auch wirklich etwas Neues hat einfallen lassen: Gab es im letzten Jahr die Novelle „Mein Jenseits“ von ihm zu lesen, wurde nun der Roman drumherum nachgereicht, nicht als Fortsetzung, nein, die Novelle des Vorjahres ist nochmals vollständig integriert im „Muttersohn“ enthalten. Ob dahinter nun verlegerisches Kalkül steht, oder des Schriftstellers Wunsch, es mögen niemals mehr als zwei Jahre vergehen, bis ein neuer Walser in die Buchläden kommt – ich weiß es nicht. Womöglich gibt es dafür auch eine Erklärung, die sich auf eine dem Kunstwerk immanente Notwendigkeit gründet.

Mit Walser erlebte ich vor vielen Jahren das, was ich als Unglück des glücklichen Entdeckens bezeichne. Diese widerfährt einem immer dann, wenn das erste, was man von einem Schriftsteller zu lesen bekommt, auch sein bestes ist (wobei das natürlich eine völlig subjektive Wahrnehmung ist, und von vielen Seiten widersprochen werden kann. Es ist aber auch nicht so, dass das Ersterlebnis einen so prägt, dass alles andere danach nur noch als schwächer wahrgenommen werden kann. Bestes Beispiel in meinem Fall ist der hier ja schon ausgiebig diskutierte Thomas Mann, dessen Erstlektüre zwar auch eine Entdeckung war, die aber von nachfolgenden Leseerlebnissen übertroffen wurde. Wenn ich so nachdenke, gibt es in meinem Leseleben eigentlich mehr Autoren, die ich von unten nach oben oder nichtlinear entdeckte, als dass ich von allem Nachfolgenden enttäuscht gewesen wäre).

Meine ersten beiden Walserbücher waren „Ein fliehendes Pferd“ und „Ohneeinander“. Das konnte nichts davor und auch nichts danach oder dazwischen mehr überbieten. Sein vor einigen Jahren erschienenes Buch „Angstblüte“ kam nochmals in die Nähe dieser beiden. Aber auch „Mein Jenseits“ hatte mir gefallen, jene Geschichte eines Professors, der eine psychiatrische Klinik leitet, dem sein beruflicher Konkurrent die Frau ausspannt und der eine Schwäche für Reliquien hat, ja an eine Apotheose für dererlei Devotionalien schreibt und in seiner existenziellen Verzweiflung am Ende sich zum Diebstahl einer Monstranz hinreißen lässt. Es sind ja gerade diese verschrobenen Persönlichkeiten, die Walser wie kaum ein anderer zu beschreiben vermag. Die in Walsers verschrobenen Diktion ihren passenden Ausdruck finden. Nun aber diesem Schinken noch eine obere und untere Brötchenhälfte beigegeben, mit reichlich Butter, Gürkchen und Salatblatt. Das ist schon wesentlich schwerer zu Verdauen und der Verdacht scheint sich zu bestätigen: dieser Autor ist grandios auf kurzer Strecke. Wird er aber fortgetragen von seinem Thema und, viel mehr noch, von seiner Sprache, ist nahezu besoffen davon bis hin zum Rausch, dann erwarten einem am Ende Kopfschmerzen und ein wenig Bedauern um die vertane Zeit. Was aber gerade in diesem Buch „Muttersohn“ augenscheinlich wird: Walser schreibt keine Geschichten, er schreibt Sätze. Ich führe jetzt hier keine Beispiele an, die mag der neugierige Leser selbst entdecken, oder er wird schon wissen, was damit gemeint ist. Grundsätzlich sind Walsersätze eine Mischung aus fein ziselierter Grammatik, gewürzt mit Wortschöpfung, pointierter Wiederholung und/oder Paradoxie. (Nicht umsonst sind zwei seiner Bücher nur Sammlungen von Sätzen, „Meßmers Gedanken“ und „Meßmers Reisen“. Auch gibt es eine Sammlung von Walsersätzen, betitelt „Mit dem Schwert spielen“ die ein absolut kurzweiliges Lesevergnügen bieten.) Das Problem ist, dass sich die Protagonisten in „Muttersohn“ wie Gefangene in diesen Sätzen bewegen. Sie sind ihnen untergeordnet und haben deswegen auch kein Eigenleben. Da gibt es auch keine Hierarchie. Selbst die rudimentärste Figur im Erzählgefüge hat das Anrecht auf mindestens einen Walsersatz, sei er nun gesprochen oder gedacht. Das ergibt am Ende einen wahren Wasserfall an Originalität, ist aber wie dessen Rauschen und Donnern monophon.

Man muss sich mit guten Ideen begnügen. Jenen Percy z.B., eigentlich die Hauptfigur, eine Art schwäbischer Jesus, laut seiner Mutter ohne Vater gezeugt, der nichts verurteilen mag, der predigt, aber nur aus dem Stehgreif, sich dagegen wehrt, irgendetwas Aufgeschriebenes vorzutragen und auch nicht zulässt, dass man seine Reden schriftlich festhält. Daneben Fini, seine Mutter und eine Menge anderes Personal, alle irgendwie nicht ganz von dieser Welt oder aber auch zu sehr in dieser, alle auf der Suche nach etwas, das sie nicht in Worte fassen können und deswegen umso mehr davon verlieren. Letztenendes geht es immer um das, was man glaubt oder nicht glaubt, um den Griff in den Himmel, der genauso gut ein Griff ins Klo sein kann. Verständlich ist die starke Präsenz von Musik in diesem Buch. Musik als Ausdrucksform des Glaubens, als der Ort, wo der Glaube am besten überleben kann. Und im Wort natürlich – in dem reinen, unvorbereitet und unvoreingenommen Gesprochenen. Wobei hier der Glaube natürlich auch nur ein vom Autor hingeredeter ist, wodurch am Ende des Textes die Musik als stärkste Manifestation des Glaubens bestehen bleibt. Denn viele in diesem Buch, die viel reden, sind am Ende tot, aber die Musik bleibt, ein Chor, der mit jedem Gedenktag zu Percy-Jesu Tod an Stimmen zunimmt, bis es irgendwann keine Zuhörer, sondern nur noch Singende gibt.


# 6

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel beschäftigt sich mit so spannenden Themen wie dem praktischen Rationalismus und dem Spannungsverhältnis zwischen subjektivem und objektivem Standpunkten im Hinblick auf Ethik, Moral und Politik. Dem Diskurs mit der Welt, den wir mit Hilfe des Verstandes führen, geht ein innerer Diskurs mit uns selbst voraus, der mit Begriffen wie Klugheit oder Moralität noch nichts anzufangen weiß und somit als subjektivitätsmetaphysisch bezeichnet werden kann. Aus der Auseinandersetzung dieser beiden Wahrnehmungsebenen, die ständig versuchen einander zu verdrängen, entstehen die Prinzipien des Handelns.

1979 erschien Nagels Buch „Letzte Fragen“ (Originaltitel: Mortal Questions), mit Essays über verschiedene Themen, wie das Absurde, Krieg und Massenmord, Gleichheit und sexuelle Perversion. Ebenfalls darin enthalten ist sein berühmter Aufsatz: „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“
Der für mich interessanteste Essay ist gleich der erste im Buch, betitelt: Der Tod. Er beginnt mit der Frage:
„Warum eigentlich ist es schlimm zu sterben, wenn doch der Tod das Ende unserer Existenz ist, unwiderruflich und bis in alle Ewigkeit?“
Das Übel des Todes, so stellt er fest, liegt nicht im Zustand der Nichtexistenz, sondern in dem Herausnehmen aus der Zeit, dem Abschneiden der Zukunft. Um das zu verdeutlichen führt er einen Gedanken von Lukrez an. Dieser meinte, niemand mache sich Gedanken über seine Nichtexistenz vor der Geburt, also gäbe es auch keinen Grund, über die Nichtexistenz nach dem Tod zu grübeln, da diese nur ein Spiegelbild des Vorherigen sei. Aber, so Nagel, die Zeit nach unserem Tod ist Zeit, die uns geraubt wird. Wären wir nicht gestorben, könnten wir noch leben – der Tod also bedeutet auf alle Fälle einen Verlust, und zwar den an Zeit und Möglichkeiten. Die Spanne vor der Geburt wird nicht als Verlust betrachtet, weil jeder Mensch nun mal nur in dem Moment geboren (besser gesagt gezeugt) werden kann, an dem es passierte. Andernfalls wäre er eben nicht dieser Mensch, sondern einfach ein anderer. So sind die biologischen Gegebenheiten. Es gibt also keine Möglichkeiten für das Individuum vor seiner Geburt. Danach aber gibt es unzählige, die der Tod zu irgendeinem Zeitpunkt allerdings zunichte macht.

Soweit Nagel. Ich möchte nun dieses Gedankenspiel über die vorgeburtliche Nichtexistenz im Vergleich mit der postmortalen noch ein wenig fortsetzen. Dass das Nichtsein vor unserer Geburt von uns nicht als Verlust betrachtet wird, liegt ja nicht nur daran, dass es einfach eine biologische Unmöglichkeit ist, als der gleiche Mensch früher geboren worden zu sein. Es liegt meines Erachtens vor allem an unserer intellektuellen Fähigkeit, die Vergangenheit als einen Teil unseres eigenen Seins zu betrachten. Das betrifft nicht nur Naheliegendes, wie die eigenen Vorfahren, sondern auch die Geschichte des Landes, in dem man lebt, nicht zuletzt die Geschichte der Menschheit selber. Die Vergangenheit ist, auch wenn wir sie nicht erlebt haben, dennoch Teil unserer Erfahrung (natürlich beschäftigen sich die Menschen sehr unterschiedlich mit der Vergangenheit, die einen mehr, die anderen weniger, manche vielleicht überhaupt nicht. Aber zumindest in unserer Informationsgesellschaft ist es nahezu unmöglich ohne jegliche Vergangenheitserfahrung groß zu werden oder zu leben). Die Zeit vor unserer Geburt ist deswegen kein Verlust, weil wir sie aufgrund der Beschaffenheit unseres Geistes nacherleben können.
Mit der Zeit nach unserem Tod verhält es sich naturgemäß völlig anders. Sie ist uns nicht zugänglich. Zwar ist es für viele interessant und anregend sich Zukunftsvisionen auszumalen, Science Fiction Geschichten zu lesen oder als Film anzuschauen. Aber daraus entsteht nie das Gefühl einer Erfahrung oder des wenigstens indirekt beteiligt seins, wie beim Betrachten der Vergangenheit. Um Zukunft als Erfahrung zu haben, muss man sie erleben. Die Nichtexistenz nach dem Tod ist also ein Erlebnisverlust.

Noch etwas kam mir bei der Gegenüberstellung von den beiden Formen der Nichtexistenz in den Sinn: das Problem den Begriff Ewigkeit gedanklich zu erfassen.
Mir wurde als Kind beigebracht, Gott habe schon immer existiert. Unzählige Male habe ich versucht, diese Tatsache zu denken, aber es war nicht möglich. Innerhalb weniger Momente kamen ganz banale Fragen auf wie: Was hat er denn die ganze Zeit gemacht? Und davor? Und vor dem Davor?
Es geht einfach nicht, wir sind in unserem Denken sosehr in der Zeit verhaftet, dass wir allem einen Anfang geben müssen. Es ist ein intellektuelles Verlangen, alle Dinge bis zu ihrem Ursprung, ihrem Beginn zurückzuverfolgen. Daher ist die Existenz eines allmächtigen seit Ewigkeiten existierenden Gottes für viele nicht akzeptabel.
Dagegen macht uns unsere genauso ewige Nichtexistenz vor der Geburt keine gedanklichen Probleme. Auch die Vorstellung, vor dem Urknall gab es keinen Raum und keine Zeit, also irgendwie Nichts, ist leichter zu erfassen, als ein schon immerwährendes Etwas. Nichtexistenz ist in der Zeit vor unserer Geburt für uns also gedanklich zu erschließen.
Durch die Tatsache unserer Existenz, drehen die Dinge sich um. Nun ist die Vorstellung des zukünftig ewigen Nichtexistierens nicht mehr wirklich zu denken. Der Tod nimmt uns aus der Zeit und wir haben für diesen Zustand keine Begriffe mehr. Auch wenn unsere Nichtexistenz vor dem Tod theoretisch ebenso ewig war, ist sie es in unserem Denken nicht, denn sie hatte mit unserer Geburt ein Ende. Dem wird aber, unter Ausklammerung jedweden religiösen Hoffnungen, im Falle der Nichtexistenz nach dem Tod nicht so sein.

Wir finden also zwei unterschiedliche Perspektiven auf unser Nichtsein, die gleichermaßen auf unseren intellektuellen Fähigkeiten wie auf deren Grenzen beruhen.



#7

Die zwei Hauptargumente gegen Gott:

Verwirrung und Geheimnis


#8


Große Unruhe

Über Julian Barnes - Vom Ende einer Geschichte


Jemand sagte einmal sinngemäß, wir Menschen glichen einem Film, den die Gegenwart belichtet und der von der Erinnerung entwickelt wird. Aber ist es wirklich so, dass unsere Erinnerungen Erlebtes derart genau wiedergeben, wie Fotografien oder Filmaufnahmen?
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. In dem Maße, indem das Verständnis über das Entstehen von Bewusstsein zunahm, erweiterte sich auch das Wissen darüber, wie das Gedächtnis funktioniert. Da gibt es keinen Ort im Gehirn, wo alles abgespeichert und nach Belieben abgerufen werden kann, sondern so, wie Bewusstsein aus dem Zusammenspiel unzähliger Vorgänge in verschieden Hirnregionen entsteht, verhält es sich auch mit dem Gedächtnis. Erinnerung ist keine exakte Replikation von Wahrnehmungen aus der Vergangenheit, kein Wiederhervorholen aus dem zerebralen Archiv. Es ist eine Nacherzählung, die das Gehirn mit der gleichen Unabhängigkeit vom bewussten Ich vornimmt, in der es ihm auch das Hier und Jetzt der Gegenwart vorführt. Wie Wahrnehmung beeinflusst wird durch vielfältige Gegebenheiten – von einem Tiefdruckgebiet oder der einfachen Tatsache schlecht geschlafen zu haben, über Liebeskummer bis hin zu schweren psychischen oder physischen Erkrankungen – unterliegt auch das Wiedererzählen unseres Gehirns, das wir Erinnern nennen, den unterschiedlichsten Einflüssen. Was beträchtliche Verschiebungen hervorrufen kann, zwischen dem, was wirklich passiert ist, und dem, was erinnert wird. (Näheres dazu kann man z.B. in dem sehr interessanten und sich auf dem neuesten Wissensstand befindenden Buch „Inkognito“ von David Eagleman nachlesen.)
In einfachen Worten: Unsere Erinnerung ist oftmals weniger Chronist als vielmehr erfindungsreicher Märchenonkel.

Soweit die Fakten.

Gute Literatur nun schafft es immer wieder, theoretische Erkenntnisse lebendig werden zu lassen indem sie dessen trockenes Gerippe mit Fleisch und Blut zu ummanteln weiß.
Ein Beispiel dafür ist das Buch „Vom Ende einer Geschichte“ des britischen Schriftstellers Julian Barnes. Zu Recht wurde es 2011 mit dem Booker-Prize ausgezeichnet. Barnes, bekannt geworden durch Romane wie „Flauberts Papagei“, „Eine Geschichte der der Welt in 10 ½ Kapiteln“ oder der wunderbaren Geschichte von „Arthur & George“, ist ein Meister des ironischen Erzählens und des subtilen und feinsinnigen Humors. Sein Essay über den Tod „Nichts, was man fürchten müsste“, gehört zu meinen Lieblingsbüchern und ist das geistreichste und in seiner Offenheit und seinem Humor trostreichste Buch (auch wenn es keinen Trost enthält, denn Barnes ist kein gläubiger Mensch), das ich jemals über dieses Thema gelesen habe.

In „Vom Ende einer Geschichte“ erzählt der pensionierte und geschiedene Tony Webster. Er berichtet von seiner Schulzeit, seinen Kameraden und einem besonderen jungen Mann namens Adrian, der eines Tages in seine Klasse kommt. Eine Freundschaft entsteht, von der man aber merkt, sie steht auf etwas wackligen Füßen. Und Tony erzählt von Veronica, seiner ersten Liebe. Irgendwann ist die Schule zu Ende, man wird ins Leben entlassen, aber die Verbindungen halten noch für eine Weile. Dann ist plötzlich alles vorbei. Vorbei die Freundschaft zu Adrian, vorbei die Beziehung zu Veronica, vorbei die sporadischen Zusammentreffen mit seinen alten Schulkameraden. Einmal noch trifft er einen von ihnen. Bei dieser Gelegenheit erfährt Tony von Adrians Selbstmord.
Danach nimmt Tonys Leben seinen Lauf, mit Beruf, Ehe, der Geburt einer Tochter, Scheidung und schließlich dem Ruhestand. Tony ist mit sich selbst und seinen Erinnerungen im Reinen. Dann bekommt er einen Brief, und plötzlich findet Tony die Interpretation seines bisherigen Lebens in Frage gestellt.

Mehr will ich nicht verraten, aber die Geschichte nimmt noch vielfältige Wendungen und bleibt bis zum Ende hin interessant. Aber sie lebt keineswegs nur von der Spannung, sondern mehr noch von der Anschaulichkeit mit der Barnes beschreibt, wie sich Tonys Sicherheit was seine Erinnerungen betrifft langsam auflöst und er immer mehr erkennen muss, dass seine Version der Vergangenheit nicht mit dem übereinstimmt, was wirklich passiert ist.

Ganz am Anfang des Buches gibt es eine Szene, die exemplarisch ist und den Weg, den die Erzählung gehen wird, vorzeichnet. Auf die Frage des Geschichtslehreres: „Was ist Geschichte?“, antworte der junge Tony nassforsch: „Geschichte ist die Summe der Lügen der Sieger.“
Die Antwort des Lehrers: „Nun gut, so lange Sie im Auge behalten, dass sie auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten ist.“
Und der geheimnisvolle Adrian gibt noch ein Zitat von Lagrange zum Besten: „Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.“
Was hier noch als jugendliche Besserwisserei daherkommt, ist am Ende des Romans auf eindringliche Art bildhaft geworden.

Und noch ein Kreis schließt sich am Ende des Buches. Ein Mitschüler Tonys wird vom Geschichtslehrer gefragt, wie er die Herrschaft Heinrichs des Achten beschreiben würde. Nach längerem Nachdenken sagt dieser: „ Es herrschte Unruhe, Sir.“ Der Lehrer bittet ihn, das etwas näher zu erläutern. Darauf kommt die Antwort: „Ich würde sagen, es herrschte große Unruhe, Sir.“ Das ist auch Tonys Fazit am Ende, als die Vergangenheit ihr wahres Gesicht gezeigt hat und er aus dieser letzten großen Erfahrung seines Lebens die Schlüsse zieht. Es herrscht Unruhe. Es herrscht große Unruhe.

Eine ebensolche Unruhe mag auch dem Leser überkommen, nicht aus Unzufriedenheit mit der abgeschlossenen Lektüre, sondern weil er sich wohl unweigerlich die Frage stellen wird, inwieweit er eigentlich seinen eigenen Erinnerungen vertrauen kann. Ich denke aber, das Lesevergnügen, welches einem Barnes Roman bietet, ist dieses Risiko wert.
Zuletzt geändert von Sam am 30.08.2012, 19:19, insgesamt 7-mal geändert.

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Beitragvon Zefira » 31.08.2012, 00:57

Ja, das macht Lust auf das Buch. Ich habe Flauberts Papagei gelesen und Arthur & George; jetzt werde ich mir auch dieses bestellen. Danke!

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

scarlett

Beitragvon scarlett » 31.08.2012, 19:52

deine rezension zu lesen, war genuss pur.
hoffentlich ist es der roman auch ...

danke dafür.

monika

Sam

Beitragvon Sam » 02.09.2012, 11:34

Hallo Zefi und Monika,

schön, wenn ihr Lust auf das Buch bekommen habt (und nebenbei die Besprechung an sich auch gerne gelesen habt!). Ihr werdet, davon bin ich überzeugt, nicht enttäuscht werden.

Gruß

Sam


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