Buchtipp Rundbrief März 2013 von Mnemosyne

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BlauerSalon
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Beitragvon BlauerSalon » 01.03.2013, 07:41

Rundbrief März 2013


Buchtipp und Besprechung März von Mnemosyne // Die letzte Welt von Christoph Ransmayr


"Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm hoch oben in der Nacht; ein weißer Schwarm, der rauschend näher kam und plötzlich nur noch die Krone einer ungeheuren Welle war, die auf das Schiff zusprang. Ein Orkan, das war das Schreien und das Weinen im Dunkel unter Deck und der saure Gestank des Erbrochenen. Das war ein Hund, der in den Sturzseen toll wurde und einem Matrosen die Sehnen zerriß. Über der Wunde schloß sich die Gischt. Ein Orkan, das war die Reise nach Tomi."

Ein literarischer Orkan ist schon die Reise des Protagonisten von Ransmayrs Roman "Die letzte Welt", des Römers Cotta, an den Küstenort Tomi, wo er nach Spuren des dorthin verbannten Ovid sucht. In dessen Haus in der nahen Ruinenstadt Trachila findet er indes statt Ovid nur dessen verwirrten und blinden Diener Pythagoras. Auch das legendäre, aber unveröffentlichte Werk, die Metamorphosen, bleiben verschollen. Nur im Garten des Dichters findet sich, auf zahlreiche Steinsäulen verteilt, eine Inschrift, die verkündet, er habe ein Werk vollendet, durch das er fortdauern werde. Ovid selbst ist fort.
Die unaufdringliche Verführungskraft, mit der Ransmayr uns dann aus der sicher geglaubten Wirklichkeit der Erzählung heraus führt, ist unter allem, was ich bisher gelesen habe, einzigartig: Erst langsam beginnt der Leser zu ahnen, wie wirksam und gegenwärtig der Verbannte in seinem Fortsein tatsächlich ist, dass nämlich Cotta selbst sich längst am Schauplatz der Metamorphosen befindet und Teil davon geworden ist.
Faszinierend ist auch Ransmayrs Methode, die Aktualität seines Stoffes durch gezielte Anachronismen zu betonen, die eine historische Lesart systematisch unterlaufen. Wenn der Dichter gegen den Despoten antritt, dann beginnt ein zeitloser Kampf, dann darf auch Ovid in Klatschspalten erscheinen und bei der Eröffnung eines "aus Kalkstein und Marmorblöcken aufgetürmten" Stadions vor Kaiser Augustus seine skandalöse Rede in einen "Strauß von Mikrophonen" sprechen.
Ransmayr jedenfalls gelingt das Meisterstück, solche Elemente, die bei nahezu jedem anderen wohl zu Stolpersteinen geraten würden, zu einem harmonischen Gesamtbild zu vereinen - nicht zuletzt durch seine atemberaubend schöne, stellenweise fast lyrische Sprache.
"Die letzte Welt" ist ein Roman, den man zwar leicht zuende liest, mit dem man aber schwer fertig wird. Auch jetzt noch, 11 Jahren nachdem ich erstmals darauf gestoßen bin, bleibt er für mich ein literarisches Rätsel und Vorbild.



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