Mensch Tier I + II

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Epiklord
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Beitragvon Epiklord » 23.09.2023, 00:31

Jedes lyrische Segment könnte für sich stehen. In gewählter gruppierter Anordnung entsteht ein besonderer Reiz.

Mensch Tier

1
Als Sternenstaub,
gefallen aus
der Unendlichkeit,
gestrandet
hier, endlich,
sagt sich der Leuchtkäfer,
glutvoll Erfüllung finden,
zündet sein Licht an;
Glühwürmchenhoffnung;

so segelt er durch liebliche Nacht,
aus luftiger Traumperspektive
ein böses Erwachen:
seine Eva war nackt und kroch herum,
bodenständig,
ein Schneckerl, dem Genuss auf
schleimiger Spur.

2
Die junge Biene flog von Nektarquelle zu
Nektarquelle, frohlockte:
“Das Leben ist süß.”
Ein Bienenfresservogel packte sie, beförderte sie zu
seinem Ansitz, knetete sie durch, mundgerecht, und
quetschte das Gift aus dem Stachel.
Da wusste die Biene, was ihre Mutter gemeint hatte,
als sie die Warnung aussprach:
“Das Leben ist kein Zuckerschlecken.”

3
Ich erkannte den Schmerz.
Von unten aus festverbauter Fresspyramide
gesehen, wurde der Koala, welcher nicht mehr ist,
vom Eukalyptus getötet, der nicht mehr war;
der Wolf ohne Lamm, Reh und Mäuschen,
sei ein Nichts, klagte der Himmel.

4
Seine Frau besuchte ihn täglich auf dem Friedhof.
Ich sagte, es sei nicht nur seine Asche durch den Rost
gefallen, sondern ebenso alles, was ihr an ihn erinnerte,
seine besondere Art, das Ich, dessen Träume, von
denen er ihr erzählt hatte. Sie könne auch zu Hause
bleiben; hier auf dem Friedhof würde
sie ihm nicht begegnen.

5
Und über mir Verwesungsgeruch,
als du mir dein Senkblei zuwarfst,
meine Seele auszuloten.

Die Hoffnung, einst frisch und grün,
war welk geworden;

wässere sie beim Beten
im Morgentau.

* * *

Weitere Stimmen
Mensch Tier


1
Hier draußen
bin ich ein Lauscher,
beim Nachtkonzert
der Grillen und
Schlagen der Nachtigallen,
dem Röhren der Hirsche.

In der Stadt spiele ich
die erste Geige,
lass mein Auto röhren;
in seinem Licht lichtet
sich das Zirpen,
die Nachtvögel geraten
aus dem Takt.

2
Im Geisterdorf ist
ihr Geschrei verstummt,
keine Kinderhand entzündet
sich mehr an den Nesseln;
am Saum der Gärten stehen
sie verschlafen,
die Häuser nur noch leere
fruchtlose Hülsen, vereinzelt
bewohnt von Alten, gefallen
wie aus einer längst
vergangenen Zeit.
Ein Greis döst in seinem
Lehnstuhl, unwirklich
wie ein Rauchermännchen,
verschwindet einen kurzen
Moment in dem Qualmwirbel
wie in einem schwarzen Loch;
einzig die Ente im
verwilderten Fischteich
zeigt sich befindlich,
beim Eintauchen
den Bürzel aufwärts.

3
I schau, davorn
haben sich zwei
von euch >>> X.
Uns fehlt:
ABCD_FG
HIJKLMN
OPQR_TU
VW_YZ.

4
Ich übergebe mich,
draußen bei den Föhren,
unweit vom Quantenmeer,
dem schwankenden Sturm
der Neuronen,
setze meine Schaumkrone ab,
verschwimme im Strom
der Gezeiten.

* * *

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birke
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Beitragvon birke » 23.09.2023, 17:36

das hat was, gefällt mir gerade in dieser zusammenstellung echt gut!
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Epiklord
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Beitragvon Epiklord » 24.09.2023, 00:40

Freut mich. Ja, ich experimentiere gerne rum. Habe erst versucht, beliebige Formulierungen in einem (geschlossenem) Gedicht unter einen Hut zu bringen, und denn noch ein Foto als Hintergrund. Ist nicht geglückt. Jetzt habe ich es breit und offen angelegt.
Mit de Lyrik is ja son Dingens. Zu platt soll se nich sein, zu unverständlich och nich. Ich will mich da auch nicht schlau machen, wie die Postmoderne (die, welche noch einigermaßen verstehbar ist) funktioniert. Für mich ist es ja nur ein Bastelspaß. Und der würde verloren gehen, wenn ich nun Lyrik studierte und nach Anweisung schriebe. Also mache ich so weiter.

LG Epiklord

OscarTheFish
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Beitragvon OscarTheFish » 07.11.2023, 14:21

Also, ich muss auch zugeben, dass mir diese beiden Endprodukte wirklich gut gefallen. Absurder Wortwitz, der ruhig und seriös daher kommt. Besonders das erste Stück hat mir zugesagt. Da möchte ich mir das Nörgeln grundsätzlich verbieten!

Im Stück Nummer zwei gefällt mir vor allem die dritte Strophe. Das Spiel mit dem Verkreuzen eines I-Paares. Und dann folgt noch die analytische Feststellung der möglichen offensichtlichen Mängel. Sehr zeitgeistig. Herrlich.
Ein paar ausgewählte Werke zur Stillung weiterer Neugier:
AKUTES ABDOMEN, OBWOHL WIR BLIND SIND, SCHMUSEREI, MUCH ADO ABOUT FUJI.
Gedichte von: Der beste Dichter der Welt und XRayFusion.


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