Irrealis III

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Max

Beitragvon Max » 15.07.2005, 19:56

Irrealis III

Als gestern heute war
traf ich
meinen unbekannten Freund

Als gestern heute war
lehnten wir
ohne Halt
dachten wir rückwärts
erinnerten uns
zukünftiger Tage

Als gestern heute war
erkannten wir uns
durch blinde Spiegel

Als gestern heute war
war alles frisch
und doch
war alles ganz anders

Nitrogenium

Beitragvon Nitrogenium » 20.11.2005, 14:07

Hallo, Max.

Die Idee finde ich gut. Du erzählst Dinge, die in logischer Hinsicht nicht sein können, weil es in Sachen der Zeit Widersprüche gibt. Das Gestern kann nicht das Heute sein, genau so kann man sich nicht an zukünftige Tage erinnern. Auch andere Widersprüche tauchen auf; so kann man sich nicht in blinden Spiegeln sehen, und ein Freund ist normalerweise kein Unbekannter.

Zwei Dinge gefallen mir nicht so gut: Das "als gestern heute war" ist ein starkes Ding, aber es verliert an Effekt, wenn man es immer wieder aufführt und jede Strophe damit beginnt. Ich finde, maximal in der Schlussstrophe hättest Du es unvermittelt nochmal wiederholen sollen.
Und bei der Konstruktion solcher Logikfehler hätte ich mich auf zeitliche Widersprüche beschränkt. Ansonsten wirkt es ein wenig zu künstlich, finde ich.

Alles in allem aber ein nettes Stück :smile:

Liebe Grüße
Nitro

hwg

Beitragvon hwg » 20.11.2005, 14:37

Die von Nitrogenium angeführte Widersprüchlichkeit samt Wiederholungen von *Als gestern heute war" machen für mich den schwer erklärbaren Reiz dieses Gedichtes aus. Die Formulierung "unbekannter Freund" trifft meiner Ansicht nach die Sehnsucht nach einem solchen. Unter einem blinden Spiegel verstehe ich das unterbewusste Erkennen einer möglichen Verbindung. Gerade die Nicht-Logik finde ich spannend...

Gast

Beitragvon Gast » 20.11.2005, 15:04

Danke für die Antworten!
Hm, wenn ich ehrlich bin, ist die Wiederholung der Anfangssentenz "Als gestern heute war" bewusst gewählt. Ich hoffte, es gewönne eher dadurch (um mal etwas inflationär mit dem Konjunktiv aufzutrumpfen), als dass es verlöre. Hm (das gebrauche ich noch inflationärer, ist auch einfacher als ein Konjunktiv), der blinde Spiegel ist vielleicht ein Schwachpunbkt des Textes, weil Spiegel einfach zu oft in meinen Gedichten vorkommen .. was sagt das über mich und wie kann ich es ändern ;-)?

Babs

Beitragvon Babs » 09.12.2005, 17:15

Lieber Max,

mir gefällt dein Gedicht, auch der blinde Spiegel.
Für mich ist dein blinder Spiegel ein Bild für wortloses Verstehen und
vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass du etwas nicht sehen willst...
deine Zeilen hören sich für mich auch etwas wehmütig an,
so als wären frühere Beziehungen frischer gewesen...
und als hättest du früher weniger Sicherheit gebraucht als heute
(lehnten wir ohne Halt...)
Wenn der Spiegel so oft in deinen Gedichten vorkommt,
wie du es beschrieben hast, dann hat er auch eine große Bedeutung für dich, die du vielleicht (noch) nicht erkennen kannst.
Dieses Bild wird sich, glaube ich, von selber ändern, wenn du weißt, was du genau damit ausdrücken willst bzw. was es für dich bedeutet.

Es grüßt dich herzlich

die Hobbypsychologin :smile:

Babs

Perry

Beitragvon Perry » 15.12.2005, 10:54

Hallo Max,
unter der Flagge (Titel) Irrealismus sind die aufgezeigten Widersprüche geradezu „normal.“
Mir sind die Wiederholungen der Anfangszeile auch zuviel, vielleicht wäre hier weniger mehr.
Der Inhalt gefällt mir gut, weil er Interpretationsraum lässt. Insgesamt spüre ich eine Verunsicherung des lyrischen Ichs. Wie wird es sein, wenn morgen heute ist?
LG
Manfred

danielson

Beitragvon danielson » 15.12.2005, 14:35

Ich lese dieses Gedicht als die Einsicht, die sich einstellt, wenn man Vergangenes reflektiert. Irreal deshalb, weil nur in der Erinnerung manifestiert und somit nicht revidierbar. Irreal natürlich auch manches sprachliches Bild, aber aus aktueller Sicht eben nicht real oder "alles ganz anders" als jetzt.

Gefällt mir gut!

Liebe Grüße, Daniel


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