Computertomographie (Text mit Film)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 31.08.2012, 21:30

Liebe Mitschreiber,

ein Experiment, von dem ich rein nichts mitbekommen habe, obwohl ich natürlich irgendwann mal meine Zustimmung erteilt habe:

Computertomographie - eine Lesung mit Bildern.




"... so schwammen sie vor den Schiffen her und sangen so wundersam, wie schön es auf dem Meeresgrunde sei ..."
(H. C. Andersen, Die kleine Seejungfrau)


Computertomographie

Erste Messung, zehn Sekunden.
In der Röhre. Sie hat die Augen geschlossen, weil gleich über den Augen eine weiße Wand hängt. Rundum weiße Wand. Unter den Kniekehlen klemmt ein Kissen, die Lendenwirbelsäule liegt platt auf dem harten Bett. Die Lider zucken.
Hohles Dröhnen bum bum bum bum.
Nur die Augen nicht öffnen. Nicht bewegen. Der Nacken ist locker, die Stirn entspannt, die Lippen liegen weich aufeinander, die Zunge rutscht zurück gegen den Gaumen. Tief atmen. Tief in den Bauch.
Ein unsichtbares Strahlenfeuerwerk schneidet die Wirbelsäule in Scheiben. Zweite Messung, dreißig Sekunden. Bulum bulum bulum bulum bulum. Tief im Rücken vibriert ein ungehorsamer Nervenstrang. Etwas in ihr sperrt sich gegen dieses Tasten von indiskreten Strahlenfingern. Da, wo die Wirbelsäule einen letzten Knick nach außen macht, vom Bauch weg, und in den verkümmerten, wieder nach vorne weisenden Schwanz übergeht. Dort vibriert es in ihrem Innern wie eine straff gespannte Saite.
Dritte Messung: acht Minuten. Dröhnen und Hämmern. Nicht die Augen öffnen. Die Luft wird drückend in dem engen weißen Rohr. In den Bauch atmen. An etwas Schönes denken. Weiße Strände. Das Schwappen kleiner grüner Wellen. Perlmuttblaue und rosafarbene Schneckenhäuser unter ihren nackten Füßen. Es knackt bei jedem Schritt. Die Zehen graben sich in die feinen Muschelsplitter. Manchmal fährt ein stechender Schmerz in die Beine - von oben her, vom Becken her. Stehen bleiben, die Beine reiben, was ist denn auf einmal los, warum tut das so weh. Im linken großen Zeh steckt eine halbe Muschelschale; beim Herausziehen fließt Blut. Doch der Schmerz in der Leiste ist schlimmer, es sticht bei jedem Schritt. Seit Monaten geht das schon so. Die Ärzte haben Lauftraining empfohlen. Dadurch ist es noch schlimmer geworden.
Jetzt runzeln die Ärzte ihre Stirnen, mannhaft und sorgenvoll. Die neue Diagnose kommt behutsamer. Spinalkanalverengung. Bald werden die Beine lahm sein.
Vierte Messung, eine Minute. Dröhnen. Wum bum wum bum wum bum.
Im Wasser ist sie schwerelos. Die Beine strudeln ganz natürlich durch die Wellen, der Schmerz ist vergessen, die straff gespannte Saite nahe des Steißbeins beruhigt sich und schwingt im gleichen Rhythmus wie die Füße, die das Wasser treten. Noch brennt die Wunde, die die Muschelschale geschnitten hat, aber bald wird das vorbei sein. Nur ganz ruhig atmen, in den Bauch atmen, mit dem Kopf unter Wasser, die Augen mit Grün gefüllt. Die Messung ist zu Ende. Sie wird aus dem engen weißen Rohr gezogen, blinzelt ins Licht. Setzt sich auf. Der Rücken rollt über das kleine harte Schwanzende in ihrem Innern. Sie schiebt die Füße in die Plüschpantoffeln. Warm und weich. Im Aufstehen fährt ein Stich durch die Oberschenkel; sie veratmet den Schmerz, kippt die Füße zum Außenrist hin. Ein feiner Blutfleck färbt den weißen Plüsch. Bald wird auch das vorbei sein, wenn sich das Meer in ihr beruhigt hat.




... Natürlich interessiert mich auch besonders die Meinung der Seminarteilnehmer, weil wir das Thema "Lesung mit Bildern bzw. Film" dort besprochen haben. Ich möchte aber nochmal betonen, dass ich an der Bebilderung meines Textes in diesem Fall gar keinen Anteil habe.
Zuletzt geändert von Zefira am 01.09.2012, 01:19, insgesamt 2-mal geändert.
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Cicero
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Beitragvon Cicero » 31.08.2012, 22:45

Liebe Zefira,

Dein Text ist exzellent gelesen, der Sprecher hat eine sehr angenehme Stimme, manchmal zelibriert er mir ein wenig zu viel. Aber das sieht, oder besser hört, jeder anders. Ich habe den Film zweimal abgespielt, einmal nur zugehört. Erstaunlich, dass mir beim reinen Hören zu dem Text keine Bilder gefehlt haben, die habe ich in meinem Kopf erzeugt. Sie waren intensiver als jene, die ich vorher sah. Wenn überhaupt, dann würde mir das Meer, mal bewegt, mal ruhig, völlig reichen. Aber auch das sieht und hört natürlich jeder anders.

Liebe Grüße
Cicero
Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet. (Karl Kraus)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.09.2012, 01:14

Lieber Franz,
danke für Deine Meinung. Wenn ich den Text bebildert hätte, hätte ich wahrscheinlich auch vorwiegend Meer- und Wassermotive genommen, vielleicht unterbrochen mit Bildern von Erdröhren oder Gängen. Auf die medizinischen bzw. biologischen Diagramme wäre ich nie gekommen, finde sie aber sehr originell.
Vermutlich hätte ich einen Weg gesucht, das Eingangszitat aus Andersens Seejungfrau, das in meinem Blogeintrag über den Text steht, stärker einzubeziehen. Leider fehlt das in der Lesung völlig. Wahrscheinlich hätte ich mich doch besser in irgendeiner Form beteiligt, weil ich das persönlich schon für wichtig halte, aber so ist es eben eine andere Lesart; ich bin damit durchaus einverstanden.
Meine Tochter, die eine ganze Reihe von meinen Texten illustriert hat, hat zu dieser Geschichte übrigens einen gestrandeten Fisch gezeichnet.
Ich editiere mal das Eingangspost und übertrage den Text hinein.
Übrigens habe ich es selbst immer vermieden, diese Geschichte vorzulesen; ich komme mit dem "bum bum bum" nicht klar :o(

Gute Nacht,
Zefira
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(Ikkyu Sojun)

Gerda

Beitragvon Gerda » 06.09.2012, 00:44

Erst einmal ohne Bilder.

Mir ist das Lesen zu künstlich, langsam. Manchmal klingt die Stimme gepresst. Auch fehlt mir Modulation.
Wenn ich an mein letztes CT denke, was noch kein Jahr zurückliegt, dann sind die Geräusche aus dem Tomographen nicht gut stimmlich umgesetzt. Ich habe sie lauter und in schnellerer Folge in Erinnerung.

Mit Bildern

Für mich haben die gezeigten Bilder nur manchmal einen Bezug zum Text. Meist empfinde ich, als ob sie den Text schwächten.

Insgesamt finde das Projekt enttäuschend umgesetzt.
Stelle ich mir vor, liebe Zefi, dass du es lesen würdest, habe ich gleich ein besseres Gefühl.

Liebe Grüße
Gerda

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 07.09.2012, 10:33

Da das Ganze, wie sich die Seminarteilnehmer vorstellen können, auf mich sehr große Wirkung hat, habeich länger gebraucht, um zu antworten, habe auch die vorigen Kommentare nicht gelesen.



Computertomographie
Zefira


Aus begreiflichen Gründen habe ich nun länger gebraucht, um diese „Mise en Images“ richtig zu sehen und kommentieren zu können.

Das Ganze wirkt auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich stark auf mich.

Einige Hauptaussagen:

1. Der Text kommt sehr gut zur Geltung.
2. Der Sprecher ist ausgezeichnet.
3. Die Bilder wirken gelegentlich sekundär, illustrativ.

Insgesamt gefallen mir diese Konstruktionen, vor allem die gelegentlich besonders schönen Zufallsmomente (die sicherlich absichtlich so gewählt wurden) in denen sich Spitzen, Zacken und Schmerzen ineinander verzahnten ohne Abbildungen des Gesprochenen zu sein.
Als die Auster auftaucht, ist es für mich schon zu spät, ebenso das Meer, daas sich im Bild (meiner Ansicht nach) früher anmelden könnte.

Da ich im Moment dabei bin, die Tonspur für meine eigenen kleinen Filmchen zu bearbeiten, kann ich in etwa abschätzen, wie sorgfältig und genau hier gearbeitet wurde.

Sehr, sehr interessant und anregend. Une petite secheresse artistique (eine Art künstlerischer „Trockenheit“) ist besonders inspirierend. ....

Mein Kompliment für eine so textintensive Bildverarbeitung!

lG
Renée

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.09.2012, 12:34

Hi Zefi,

mir liest der Sprecher viel zu langsam. Teilweise hat sein langsames Sprechen eine fast einschläfernde Wirkung auf mich. Und diese Bilder passen für mich nicht gut dazu. Ich hätte ausschließlich Meeresbilder genommen, mal Ebbe, mal Flutbilder, eben unterschiedliche Bewegungen des Wassers. Es ist sehr schade, dass dein Eingangszitat fehlt. Dies hätte unbedingt da hineingehört (und hätte dann wunderbar mit Wasserbildern korrespondiert).

Liebe Grüße
Gabi

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 07.09.2012, 13:22

noch etwas zu den Bildern: mir persönlich würde vermutlich ein einfacheres Konzept mit Meereswellen auch zusagen, aber das hätte dann sehr schnell keine Konsistenz als künstlerisches Gesamtprodukt. Dann kann man auch irgendein Bild, das meditative Wirkung hat, dazutun, eben wie eine Zutat. Mir hat der künstlerische Anspruch der Bilder gefallen, sie drücken etwas Seltsames, Fremdes aus, was sich bei mir nach und nach zu einem Ganzen gefügt hat. Ich möchte die Frau mit abgewandtem Gesicht, die die Ruder hält, sie stellt eine Frauengestalt dar, die in der Röhre liegt: das konnte ich ebenso wie die Dehnungen, Zerrungen, Blähungen der Bildovale durchaus nachvollziehen. Mir war das Meer als direkte Ilustration des Textes zu redundant.

Einen Text zu illustrieren, auszumalen ist eine andere Art, eine Beziehung zwischen Text und Bild zu schaffen. Mir persönlich liegt daran, beim Lesen, Betrachten, Hören etwas wahrnehmen zu dürfen, was mir den Zugang zum Text weder versperrt noch angelweit aufsperrt. Hier stehen sich zwei Ausdrucksformen relativ gleichwertig gegenüber. Dass sie sich nicht immer finden liegt meiner Ansicht nach eher daran, dass die Bilder nicht mehr und intensiver ausgeschöpft wurden, als daran, dass sie durch Meereswellen ersetzt werden sollten.

Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass ein anderes Bildmaterial möglicherweise ein besseres Ergebnis erzielt hätte.

lG
R.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 08.09.2012, 01:11

Vielen Dank für eure Meinungen zu dem Projekt. Ich habe mir eben alles noch einmal angehört und -gesehen und finde es wieder einmal interessant, wie unterschiedliche Lesarten möglich sind, weil ich selbst, glaube ich, den Text anders gelesen hätte. Der Sprecher gibt dem Text etwas Schwebendes, Tranceartiges. Ich hätte vermutlich das panische Element mehr betont, auch das Wummern der Messung schneller und betonter gelesen. Hier ist es mehr an Herztönen orientiert, was auch die Bildgestaltung so aufnimmt.
Obwohl ich es also anders gemacht hätte, finde ich, dass man es jedenfalls so machen kann; die Schwerpunkte sind etwas anders gesetzt (mir fehlt wie gesagt auch das Andersen-Zitat).
Die Bebilderung finde ich sehr gelungen, angefangen von der Frau im Boot (ein nahezu perfektes Bild für die ersten Sätze!) über die seltsamen Diagramme bis zu den Meeresbildern. Ausschließlich mit Wassermotiven zu arbeiten, fände ich wie Renée nicht so treffend; es geht ja nicht um Harmonie, sondern um die Spannung zwischen zwei Daseinszuständen, ähnlich wie in dem Seejungfrau-Märchen von Andersen. Die altertümlichen Strandbilder und die Diagramme, die mit für uns unleserlichen Legenden bezeichnet sind, bilden Vertrautes ab, das durch die Darstellung verfremdet wird, mal mehr, mal weniger. Die Diagramme stehen vielleicht etwas zu sehr im Vordergrund; ich hätte evtl. noch Fotos von Gängen oder Höhlen eingeführt (sag ich mal vom grünen Tisch aus - wie sich das dann gemacht hätte, weiß man ja erst, wenn man es probiert hat).
Wenn ich eine Aufnahmemöglichkeit hätte, würde ich den Text probeweise selbst lesen, aber zumindest im Moment fehlt mir das Knowhow dazu - da müsste ich meine Töchter fragen, wenn sie denn mal Zeit haben ...
Vielleicht kommen noch weitere Texte von mir in das Projekt, m.W. ist das geplant. Ich bin gespannt darauf.

Grüße von Zefira
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(Ikkyu Sojun)


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