Die Menge der Legenden von der wir nicht sprechen

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 29.10.2009, 17:08

Die Menge der Legenden von der wir nicht sprechen


Nackt liegt das Licht über der Einkaufszone
die sog. letzten Fragen ziehen als Rauch
über dem Schornstein einer Modelleisenbahn
Spuren legt der Wind Aschespuren
und fächert Halt mit einem Blatt.

Hier ist das Schleifen der Körper
wie es ist
hier soll sich kein Phantom beklagen
unter diesem Blau,
das nichts mehr zu erzählen weiß.

Den Tagen geht das Licht aus
jeder von uns sitzt sich selbst gegenüber
gegen die Abwesenheit. Morgens
schießt aus den Dielen Laub begräbt
Verbrennung und Stillstand.


Cento + 25

aus der Anthologie „Lyrik von Jetzt“, DuMont, 2003. Alle 25 Seiten wurde eine Zeile ausgewählt. Also die Überschrift („Die Menge der Legenden...“) aus einem Gedicht von Seite 25, die erste Gedichtzeile („Nackt liegt das Licht...“) von Seite 50, dann von Seite 75 usw. Die Länge des Gedichts war somit durch die Dicke des Buches vorbestimmt.
Zuletzt geändert von fenestra am 15.11.2009, 23:39, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.11.2009, 19:28

Nur die Tumbleweeds sprechen noch

Schnörkelos und ohne dramatisch zu werden, wird hier ein Endzeitszenario beschrieben.
Selbst das Licht ist nackt, nicht warm oder kalt. Die Einkaufszone, sonst Lebenszentrum der Menschen, ist zu Asche geworden. Einstige Betriebssamkeit ("sog. letzte Fragen") verpuffen zu Rauch. Und selbst dieser Rauch entstammt einer Modelleisenbahn, somit einem Spielzeug, mit dem niemand mehr spielt. Nur ein Blatt agiert, ist anstelle der Menschen zum Sujet des Lebenden geworden. Dieses Blatt wird zum einzig Konkreten/Wahren, zum Halt, doch für wen? Für niemanden. Es ist Mahnmal und zeigt auf das, was wirklich ist: keine Trugbilder mehr, nur noch Wahrheit. Die Wahrheit vom Grauen, vom Tod ("Schleifen der Körper").
Schließlich (Strophe 3) geht auch das nackte Licht aus. Der Tag wird zur Nacht, die Apokalypse. Jeder sieht sich dem Tod gegenüber ("gegen die Abwesenheit" ... von Leben).
Die Endgültigkeit konstituiert sich im Plural des Mahnmalblattes und wird zum Laub, das sich wie eine Schicht über alles legt, sogar über die Zerstörung selbst.
Das Blatt wird zum tumbleweed, welches durch das Verbrannte, Tote und Stille weht.

Fazit:
Ein eindrücklicher, bildreicher Text, der auch ohne theatralisch zu werden, eine beklemmende Wirkung erzeugt.
Sehr gelungen.

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leonie
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Beitragvon leonie » 21.11.2009, 23:13

Nach dem Hinweis der Autorin, dass es sich hier um ein Cento handelt, erklärt sich mir ein Eindruck, der schon beim ersten Lesen entstand: dass hier kein "einheitlicher" Text vorliegt. Insbesondere geschieht das durch diese Zeile
jeder von uns sitzt sich selbst gegenüber
,
die den Text ins Persönliche holt, indem sie ein lyrUns einführt.
Aber auch die Wendung ins Hoffnungsvolle am Ende (man könnte sie jedenfalls so verstehen) hat mich nach den beklemmenden Bildern des Beginns stutzig gemacht.
Und das Gefühl, dass ein oder andere Bild schon einmal gesehen (bzw. gehört) zu haben, ohne es aber wirklich zuordnen zu können.

Für mich stellt sich die Frage, ob es denn bei dieser Form anders sein könnte und ob nicht auch gerade das ihren ungewöhnlichen Charme ausmacht. In jedem Fall bin ich beeindruckt von der Kunstfertigkeit, mit der die Autorin die Zeilen so zusammenfügt, dass neue Lichtflecken, Bilder und Eindrücke entstehen. Als wechsele ein Photograph die Perspektive und lasse Bekanntes in ganz neuem Licht erscheinen. Vertraut und doch so, wie man es noch nie gesehen hat.
Fazit: fenestra hat hier wieder ein eindrückliches Beispiel für ein Cento vorgelegt.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 13.10.2010, 21:19

Was ist ein Gedicht?
Ist es die Menge der Legenden, von der wir nicht sprechen?
Und vor allem was ist der Autor?
Wenn aus einer Reihe für sich nichtssagender Sätze ein rhythmisch und atmosphärisch dichtes Werk entsteht?
Und das ist Kunst:
Wenn das nackte Licht über der Einkaufszone
die sogenannten letzten Fragen aus dem Rauch einer Modelleisenbahn destilliert
und ein ganz eigenes Licht wirft in das Blau, das nichts mehr zu erzählen weiß,
d.h. aus ganz viel Mittelmaß etwas sehr eigenes und Besonderes schafft.
Sätze, die sich selbst in Frage stellen, die sich selbst hinterfragen, da kann den Tagen getrost das Licht ausgehen. Möglicherweise erkennt man die Abwesenheit so weniger, wenn jeder von uns sich selbst gegenüber sitzt.
Ein Gedicht, das sich selbst und die Einzelteile aus denen es gemacht ist, kritisiert. Laub, das aus den Dielen schießt um Verbrennung und Stillstand zu begraben.
Etwas besseres kann man vermutlich nicht machen aus einer Anthologie wie Lyrik von Jetzt.


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