Der Pendler

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
derSibirier

Beitragvon derSibirier » 28.03.2010, 18:55

Das Leben eines Pendlers ist ein ständiges Hin und Her. Fortwährend treibe ich von da nach dort, wieder zurück und bin regelmäßig dazwischen. Ein Pendler wie ich hat kein zu Hause und das Dazwischen ist ein Niemandsland.
Meine Arbeit ist getan und ich sitze in einem Waggon der Eisenbahn. Alle Weichen höre ich schlagen; der gedämpfte Lärm lässt mich schläfrig werden und mit halb geschlossenen Augen döse ich gelangweilt vor mich hin.
Ein junger Mann grüßt mich knapp und setzt sich gegenüber auf die Bank. Sein blasses, etwas eingefallenes Gesicht ist mir bekannt. Ich frage mich, wann er mir das letzte Mal begegnet ist.
Wochen muss es her sein, denn ich kann mich an den Tag nicht mehr erinnern. Früher sprachen wir gelegentlich ein paar Worte miteinander, so wie es Pendler mitunter gerne tun, aber heute scheint er mir in keiner geselligen Laune zu sein.
Mein Bekannter hat die Hände in den Taschen und sieht zum Fenster hinaus. Die Stirn liegt in Falten, als trage er große Sorgen mit sich herum. Seine Augen blicken so leblos auf die vorbeiziehende Welt, dass ich an die präparierten Tiere denken muss, die ich neulich im Museum betrachtete. Er ist tief in seine Gedanken versunken und ich zerbreche mir den Kopf darüber, obwohl er eigentlich ein Fremder ist.
Schweigend sitzen wir eine Weile da und der Zug fährt monoton dahin.
Der Bahndamm führt neben einer Schule vorbei und links davon spielen Kinder in einem großen Pausenhof. Als mein Bekannter die Kinder sieht, nimmt er die Hände aus den Taschen und ich sehe, wie sie zittern.
„Im Herbst kommt mein Mädchen in die dritte Klasse“, sagt er leise vor sich hin, aber vielleicht doch in der schwachen Hoffnung, einen Freund für den Moment gefunden zu haben.
Ich sehe, dass er mit den Tränen ringt.
„Und wissen Sie, heute hat mein kleiner Sonnenschein Geburtstag.“ Der Mann sagt es, als möchte er sich bei mir entschuldigen.
Er versteckt sein Gesicht in den Händen und ich höre ein unterdrücktes Schluchzen.
Ich fühle mich auf einmal verantwortlich und frage ihn, als wäre er mein Freund: „Was ist geschehen?“
Mein Bekannter sieht mich an, als wäre er jemand, der sich nicht sicher ist, ob er mit seinen Tränen alleine sein möchte. Kleinlaut sagt er jedoch: „Mein ganzes Leben lang war ich nichts wert. Nur gesoffen habe ich und herumgehurt. Trotzdem hat sie mich geheiratet, als das Kind unterwegs war, ich hatte ihr versprochen, mich zu bessern. Eine Zeit lang ging es auch gut, vor allem, als Katja zur Welt kam, aber ich war nicht zufrieden mit dem Job und mit dem wenigen Geld, das ich für uns verdiente. Wissen Sie, ich bin nur ein einfacher Arbeiter. Überall drückte es und ich begann zu trinken, ich meine, so richtig zu trinken. Dann, vor etwa zwei Monaten …, da war eine andere Frau …, und da war eine Freundin meiner Frau …, sie hat’s erfahren.“ Er verstummt für einen Augenblick. „Sie hat geweint und mich weggeschickt, sie will mich nicht mehr sehen.“
Bedrückt betrachte ich das Häufchen Elend.
„Ich trinke manchmal auch zu viel,“ gebe ich kläglich als Trost zurück.
„Ich trinke nichts mehr,“ trotzig funkeln seine Augen. „Ich war einen Monat auf Entzug und ich werde mein ganzes, mein ganzes verdammtes Leben lang keinen Alkohol mehr anrühren ...“, er stockt etwas, „... auch, wenn ich bereits verloren habe.“
Er ist jung denke ich, er könnte es schaffen. Ich beuge mich etwas vor und sage vertraut: „Ihre Tochter hat doch heute Geburtstag, besuchen sie das Kind.“
Sein Gesicht verfinstert sich. Resigniert senkt er den Kopf.
„Nein, ich schäme mich. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich …“, er sucht nach Worten und sagt dann fassungslos, „… vor meiner Familie schäme. Ich hab Katja einen Brief geschrieben und sie um Verzeihung gebeten und dass der Papa krank und in Behandlung ist und wie sehr er sie lieb hat.“
Nun ist der Mann mit seinen Nerven völlig am Ende, er holt tief Luft und stößt sie wieder aus. Er sagt kein Wort mehr. Er tut mir leid und ich schweige mit ihm in Verbundenheit.
Wie immer steigt er zwei Stationen vor mir aus. Mit hängenden Schultern geht er am Bahnsteig entlang.
Armer Kerl überlege ich, während sich mein Waggon langsam in Bewegung setzt.
Auf einmal bleibt mein Bekannter stehen, als wäre er gegen eine Mauer getreten. Ich folge seiner Blickrichtung und sehe bei der Bahnstation eine junge Frau stehen. Ein kleines Mädchen ist an ihrer Seite. Das Kind hält einen Brief in der Hand.
Ich lächle etwas und winke dem Mann aufmunternd zu, aber er sieht mich nicht. Er wird es schaffen denke ich und bin zufrieden, denn ich weiß, wie es ist, wenn man es nicht schafft. Ich lehne mich zurück. Der Zug fährt ab und nimmt mich immer weiter mit.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.03.2010, 19:34

Hallo Sibirier,

wolltest du den Text wirklich in den Anonymus stellen? Dann hättest du dich vorher ausloggen und mit dem Anonymus-Account (siehe im Blauen Cafe, oberster Faden, dort steht auch das Passwort) einloggen müssen. Der Autor soll ja anonym sein.
Oder wolltest du den Text in den Publicus stellen? Ich kann ihn gern dorthin verschieben. Sag mir dann kurz Bescheid, ok?

Saludos
Gabriella

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 28.03.2010, 19:50

oje, ja, liebe Gabrielle, bitte verschieb in nach publicus.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 29.03.2010, 11:25

Der Pendler

Ein ungewöhnlicher Text des Autors "derSibirier"

Im positiven Sinne könnte dieser "Pendler" eine ungewisse, unsichere Wandlung, eine Kehrtwende im Werk des Autors darstellen. Die geballte Wucht, das missgelaunt über den Dingen stehende, der Wortblitze schleudernde Jupiter, den ich bisher kenne, hat hier einem S-Bahn-(oder Vorstadtbahn-) Insassen Platz gemacht, der kläglich an sich zweifelt. Der zudem einen Rest Hofffnung, der bei aller Hoffnungslosigkeit noch übrig geblieben ist, an einen jungen Erfolglosen weitergibt.
Zu meiner Bestürzung muss ich etwas unpassend Mainstreamartiges (um kein anderes Wort zu gebrauchen) feststellen, das mir an adjektivreichen Stellen auffällt: der gedämpfte Lärm, blasses Gesicht, große Sorgen, ein großer Pausenhof auch: die Hände zittern, er ringt mit Tränen, ein unterdrücktes Schluchzen, das Häufchen Elend, kläglich zurückgeben, trotzig funkeln Augen, - das ist viel Klischeevokabular für einen kurzn Text.
Außerdem pendelt der Text zwischen Erzähl- und Betrachtungsperspektiven hin- und her.

Der Pendler=Ich = hier könnte der erste Abschnitt klarer beginnen, etwa so:

Das Leben eines Pendler ist ein ständiges Hin- und Her. So treibt es mich fortwährend von da nach dort ...

Sein Gesicht ist mir bekannt = deshalb ist er noch kein "Bekannter" - trotz gelegentlicher Gespräche?

die präparierten Tiere : schönes Bild, aber dem Inhalt der Geschichte nicht angepasst.

Fazit:
Es fehlt mir etwas von der Dichte, die derSibirier gewöhnlich seinen Texten zu verleihen vermag. Auch hier könnte diese Konzentration, diese Spannung eingebaut werden; So aber, wie der "Pendler" hier erzählt wird. fehlt eine Zutat. Welche?
Die Art der Begegnung, die Distanz, der Abstand zwischen den beiden, zwischen den Bahnhöfen, das (plötzliche?) Wegfallen der Distanz, ein Plötzliches zusammen da sein, dann wieder "hin- und her". ...

Schade

liebe Grüße
Renée

Nifl
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Beitragvon Nifl » 02.04.2010, 16:22

Massentauglicher Sozialkitsch

Schon der Einstieg macht misstrauisch mit augenscheinlich auf Tiefgang getrimmten Phrasen wie: „Ein Pendler hat kein Zuhause“. Eigentlich sollte dies dem Leser Warnung genug sein, um rechtzeitig auszusteigen. Wer aber partout im Zug verbleibt, wird nicht enttäuscht. „Artgerecht“ wird er mit süßem Pathos und Larmoyanz sattsam überschüttet. Und dies leider- zu allem Überfluss- „in halbgarer Stiloppulenz“: „Etwas“ eingefallene Gesichter eingelegt in Beiwortspeck. Bon Appétit.
Bleiben wir bei der Mahlzeitenmetapher und schauen, was der Autor für einen haarsträubenden Plot auftischt. Eine Frau heiratet einen untreuen, versoffen Depressiven, weil sie ein Kind von ihm bekommt. Leider ist dieser nur ein einfacher Arbeiter und kein Arzt oder Anwalt. Deshalb beginnt er „richtig“ zu trinken, was noch kein Problem für die Familie ist. Aber als er fremdgeht, da reicht es seiner weinenden Frau. Selbstverständlich bekommt er innerhalb eines Monats sein Alkoholproblem in den Griff (obwohl er immer noch kein Anwalt ist und die Trennung seine Labilität selbstverständlich nicht verstärkt hat). Schlussendlich werden wir erlöst und dürfen Zeuge einer herzzerreißenden Versöhnungsszene werden. Das berührt sicher selbst noch den gestählten Schwarzwaldklinikdauergucker.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Eule
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Beitragvon Eule » 21.09.2010, 12:52

Schicksalhafte Begegnung

Hallo Sibirier, der Text besticht für mich durch Passagen der emotionalen Dichte und stilistischen Kohärenz (hm...hm...klingt gar nicht so schlecht ... :-) ). Eigentlich nur ein zufälliges Begegnen zweier zufälliger Personen, recht unbestimmt und trotzdem mit dem Potential, eine schicksalhafte Bedeutung zu tragen. Der "arme Kerl" wird den fast schweigenden Beistand gut gebraucht haben können, und der (fast) zufällige Gesprächspartner vielleicht noch einige Male darüber nachdenken, was für ein Mensch und welche Geschichte ihn da berührt haben ... obwohl stilistisch dabei sicher einiges zur Diskussion stünde, wie Renée schon angemerkt hat, z.B. ist die Länge des Textes und des Monologes der Hauptperson dem Inhalt entsprechend? Sind Positionen und Artikulation der Figuren überzeugend oder einleuchtend? und kann dieses Textfragment wirklich als eigenständig so bestehen ? ... aber insgesamt für mich durchaus spannend und berührend geschrieben. Viele Grüße !
Ein Klang zum Sprachspiel.


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