Jeanne, die Diebin

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 17.12.2009, 09:28

JEANNE, DIE DIEBIN

Vorsichtig schlüpfte Jeanne durch das große, rote Stadttor. Es wehte ein kalter Wind und Jeanne fror in ihrem dünnen grauen Mantel, den sie über ihren ausgebeulten schwarzen Hosen trug. Entschlossen schob sie die Hände in die Manteltaschen. Sie ertastete die schimmernden Perlen aus Meerglas, die sie erbeutet hatte und ein durchtriebenes Lächeln zuckte kurz über ihr schmales Gesicht mit den mandelförmigen Augen.
Hinter dem Stadttor führte eine Gasse steil bergauf. Verwundert bemerkte Jeanne, dass sich trotz der fortgeschrittenen Stunde viele Leute in der breiten Gasse drängten. Jeanne, die sich lieber im Verborgenen hielt, zuckte kurz zurück, dann zog sie ihre große Kapuze über die dunkelroten, kurz geschnittenen Haare und bewegte sich unauffällig an den Hauswänden entlang.
Die Leute liefen langsam in Richtung auf den Domplatz zu,. Schon von weitem hörte Jeanne die grellen Rufe der Spielleute, die dort auf dem rauen Kopfsteinpflaster eine Vorstellung gaben. Sie stießen Tierlaute aus, trommelten wild. Dann wieder ertönten schrille Pfiffe. Niemand schien Jeanne zu beachten. In dem Gedränge lief Jeanne in eine Gruppe kleiner Mädchen hinein, die „Machet auf das Tor“ spielten. Sie trugen runde Hüte über ihren katzenähnlichen Gesichtern und weite, schwingende Röckchen. Als sie Jeanne sahen, kreischten sie und packten sie an ihrem Mantel. Sie versuchten, ihr die Kapuze herunterzureißen. Bestürzt bemerkte Jeanne, dass sie lange Fingernägel hatten, die Katzenkrallen glichen. Sie versuchte, sich loszureißen, doch es gelang ihr nicht. Eines der Mädchen fuhr ihr mit den Fingernägeln ins Gesicht, als Jeanne krampfhaft versuchte, ihre Kapuze festzuhalten. Jeanne taumelte kurz und stürzte auf das Pflaster. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Knie, während die Mädchen sich über sie warfen. Einen kurzen Augenblick unterdrückte Jeanne heiße Tränen, dann begann sie, sich verbissen zur Wehr zu setzen. Eine Fanfare ertönte und die Quälgeister ließen plötzlich von ihr ab und rannten in eine andere Richtung.
Mühsam richtete sich Jeanne auf. Einen Augenblick starrte sie fasziniert auf die Bühne mit den Spielleuten, die altmodische Samtgewänder trugen und hohe Hüte mit Stulpen.
Eine üppige Frau lehnte an einer Mauer und sang Opernarien. Ihr Mund war riesig und kirschrot geschminkt. Um ihre breiten, fast männlichen Schultern hatte sie eine Federboa drapiert.
Jeanne versuchte aufzutreten, ihr Knie schmerzte. Sie bückte sich und sah, dass ihre Hose einen Riss hatte, durch den Blut sickerte. So schnell sie konnte, humpelte sie über den Platz. Sie musste die Perlen eintauschen, bevor der Morgen dämmerte. Sie hatte eine Verabredung mit dem alten Samuel im spanischen Cafe in der 13.Gasse. Sie schuldete ihm noch eine Lieferung.
Sie lief schneller, versuchte den Schmerz im Knie nicht zu beachten. Plötzlich näherte sich ihr ein alter Clown. Er lief direkt auf sie zu. Er schnitt Grimassen und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf sie. Als Jeanne ausweichen wollte, stieß er ein grelles Gelächter auf. Seine Zunge quoll aus dem Mund. Ein Schauer lief über Jeannes Wirbelsäule, schnell schlug sie wieder einen Haken. Sie übersah das ausgestreckte Bein des Clowns und stolperte wieder. Der Länge nach stürzte auf den Boden. Als sie sich aufsetzte, sah sie, dass sich Leute um sie sammelten und sie angafften wie ein Weltwunder. Bestürzt bemerkte sie, dass ihr dichtes rotes Haar unbedeckt war. Die Kapuze war hinuntergerutscht. Ein Mädchen hielt sich die Hand vor dem Mund und kicherte. „Ich glaube, die kenne ich…“, rief es laut, „das ist Jeanne die Diebin…“ Jeanne lief rot an. Die Leute griffen den Ruf des Mädchens auf und schrien immer lauter: „Jeanne, die Diebin,…Jeanne die Diebin…“ Sie begannen, Jeanne mit Kupfermünzen zu bewerfen und machten den Kreis enger. „Wir müssen sie durchsuchen…“, rief ein Mann mit einer dicken roten Knollennase. „Los,…prügelt die Diebin…richtig durch, rief der alte Harlekin.
Instinktiv tastete Jeanne in ihrer Manteltasche nach den wertvollen Perlen.. Sie griff ins Leere. Ihr wurde siedend heiß. Die Perlen aus Meerglas waren verschwunden. Ihr Mund wurde staubtrocken. Sie erschrak furchtbar.
Wieder versuchte sie, aufzustehen. Doch sie sackte sofort wieder zusammen, der Clown zog ihr einen knallroten Knüppel über den Rücken. Jeanne ächzte, kroch auf allen Vieren vorwärts wollte dem Stock ausweichen. Doch der Clown blieb dicht hinter ihr. Von vorne griff wieder eines der Katzenmädchen an, es verkrallte sich in Jeannes Haare. Tränen stürzten aus Jeannes Augen. Wütend wischte sie mit ihrem Ärmel über ihr Gesicht. Die Leute, die herumstanden brüllten und lachten sie aus. Sie kam nicht mehr auf die Beine. Alles tat ihr weh. Sie war nahe daran, aufzugeben.
Plötzlich stürzte eine dunkelhaarige Zwergin auf Jeanne zu und schrie: „Lasst sie,…lasst sie in Ruhe…“ Sie schubste den Harlekin weg, der gar nicht wusste, wie ihm geschah. Dann warf sie sich schützend über Jeanne und sammelte blitzschnell die Kupfermünzen auf. Sie verzog ihren großen Mund und grinste Jeanne zu, dann beschimpfte sie wieder die Umstehenden, die Angst vor der Zwergin zu haben schienen. Sie schüttelte ihre kleinen Fäuste und schrie obszöne Flüche, bis die Leute langsam zurückwichen.
Sie schob Jeanne ein Stück bittere Schokolade in den Mund und flüsterte: „Komm, beeile dich,…der alte Samuel wartet schon…steh endlich auf…“


Jeanne humpelte neben der Zwergin Barbola her, die sie vorwärts trieb. Sie nahm nicht den direkten Weg zum Cafe, das in der 13. Gasse lag, sondern führte Jeanne in endlosen Kreisen durch die Gassen der Altstadt. Jeanne fühlte sich völlig erschöpft und wenn sie an die Perlen dachte, zog sich ihr Magen zusammen. Sie stiegen dunkle Stufen hinauf, schlüpften durch dornige Hecken und kletterten durch verlassene Hausruinen. „Mädchen, beeile dich…, ich habe meine verdammte Zeit nicht gestohlen…“, murrte Barbola. „Wir haben den Weg verloren…wir gehen doch seit einer Ewigkeit im Kreis…“, stöhnte Jeanne, die fieberhaft darüber nachdachte, ob sie Barbola anvertrauen sollte, dass die Perlen verschwunden waren
Über Barbola waren viele Gerüchte im Umlauf. Viele glaubten, dass sie große Zauberkräfte hatte und in dunkle Geschäfte verwickelt war. Mehrere Leute, die sich mit ihr angelegt hatten, waren danach spurlos verschwunden. Jeanne biss sich auf die Lippen. Es war wohl besser, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Sie wollte versuchen, abzuhauen und unterzutauchen. Das erschien ihr bei weitem die günstigste Lösung.
Wieder liefen sie durch eine herunter gekommene dunkle Gasse. Ihre Schritte hallten auf dem leeren Pflaster. Es musste weit nach Mitternacht sein. „Wo gehen wir denn hin…“, jammerte Jeanne. „Ich hole meinen Hund ab, meinen Jack…er ist gerade bei einem Freund von mir…“ sagte Barbola und grinste hinterhältig. „Meinst du, ich gehe zu Samuel, dem alten Gauner, ohne meinen Hund…?“ Jeanne antwortete nicht. Sie beschloss abzuhauen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Als könnte sie Jeannes Gedanken lesen, packte Barbola Jeanne hart am Handgelenk und zerrte sie in einen dunklen Hinterhof. Aus einem Schuppen dröhnte Gebell. Wie aus dem Nichts tauchten zwei kräftige Männergestalten im Hinterhof auf, rissen die Schuppentür auf. Ein riesiger pechschwarzer Hund raste heraus, stürzte auf Barbola zu, bleckte strahlend weiße Zähne und leckte ihr quer über ihr Gesicht. Barbola schlang ihre Arme um den Hund und gurrte in seine langen Ohren. Jeanne wich leicht zurück in die tiefen Schatten der Mauer. Sie wollte den Augenblick nutzen, um endlich zu flüchten. Barbola riss derbe Witze mit den beiden Männern.
Jeanne bewegte sich in Zeitlupe rückwärts und wollte gerade zu einem Sprung über die Mauer ansetzen, als Jack plötzlich über ihr war. Er stemmte seine Vorderpfoten gegen ihre Schultern und knurrte furchterregend. Seine Augen glänzten aus dieser Nähe wie Kohlenstücke. „Meinst du, ich lasse dich so einfach entkommen,…du traust dir was zu,…“, sagte Barbola scharf. Dann wollte sie sich ausschütten vor Lachen. „Los jetzt, wir gehen zum alten Samuel…“ , rief sie munter und drückte Jeanne eine Hand in den Rücken. Jeanne grübelte angestrengt nach. Sie wollte herausfinden, was Barbola mit Samuel zu tun hatte. Sie konnte sich keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Die Angst würgte sie fast. Wenn es ihr nicht bald gelang zu fliehen, würde sich schnell herausstellen, dass sie die Perlen nicht mehr hatte. Doch der Hund wich ihr nicht von der Seite, als sie ihren Weg durch die nächtliche Altstadt wieder aufnahmen.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 18.12.2009, 00:03

Hallo!

Ich gestehe, dass sich bei mir recht schnell ein "Wie lange dauert das denn noch"-Gefühl einstellte statt des eigentlich zu bevorzugenden "Wie geht es bloß weiter"-Gefühls...

Das liegt, glaube ich, zum einen an dem immer gleichen Erzähltempo und -ton, vor allem aber an den viel zu stark ausgewalzten Ereignissen. Zum Beispiel hier:

Instinktiv tastete Jeanne in ihrer Manteltasche nach den wertvollen Perlen.. Sie griff ins Leere. Ihr wurde siedend heiß. Die Perlen aus Meerglas waren verschwunden. Ihr Mund wurde staubtrocken. Sie erschrak furchtbar.

Für meinen Geschmack ist hier angefangen mit den "Instinktiv" die Hälfte des Textes unnötig.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 18.12.2009, 00:19

Das ist einerseits richtig, andererseits hatte ich beim Lesen eher das Gefühl, dass mir der Text zu schnell war.
Ich vermute, er ist ein Ausschnitt aus einem größeren Stück, und vielleicht wird wenigstens Jeanne vorher etwas eingehender eingeführt. In der ersten Hälfte des Textes ging es, aber nach dem Auftauchen Barbolas wurde mir die Geschichte zu actionlastig, ohne "erfahrbares" Gefühl für die Situation, eher wie ein nacherzählter Filmstreifen.
(Ich muss allerdings zugeben, dass es mir mit moderner, auf den Bestsellertischen plazierter Literatur oft ganz ähnlich geht. Von daher ist das vielleicht kein "Fehler" im allgemeinen Sinn. Kann sein, dass dieser Stil von einer Mehrheit der Leser gern genommen wird; mein Ding ist es weniger.)

Schönen Gruß von Zefira
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(Ikkyu Sojun)

aram
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Beitragvon aram » 18.12.2009, 01:06

jeanne war vorsichtig. das stadttor war groß. und rot. der wind war kalt. der mantel war dünn. und grau. die hosen waren ausgebeult. und schwarz. jeanne war entschlossen. die perlen schimmerten. das lächeln war durchtrieben. das gesicht war schmal. die augen waren mandelförmig. die gasse führte steil bergauf. jeanne war verwundert. die kapuze war groß. die haare waren dunkelrot. und kurz geschnitten. die bewegung war unauffällig. die leute liefen langsam. die rufe waren grell. das kopfsteinpflaster war rau. die pfiffe waren schrill. die hüte waren rund. die gesichter waren katzenartig. die röckchen waren weit. und schwingend.

jeanne war bestürzt. ihr versuch war krampfhaft. ihr taumel war kurz. der schmerz war stechend. der augenblick war kurz. die tränen waren heiß. das zur wehr setzen war verbissen. das aufrichten war mühsam. die samtgewänder waren altmodisch. die hüte waren hoch. die frau war üppig. ihr mund war riesig. und kirschrot geschminkt. ihre schultern waren breit. fast männlich.

das tasten war intensiv. die perlen waren wertvoll. die hitze war siedend. ihr mund wurde staubtrocken. ihr erschrecken war furchtbar. der knüppel war knallrot.


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