Rike (Ausschnitt)

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 08.01.2010, 09:50

Papierpuppen

Rike liebte die stille, raschelnde Welt der Papierpuppen. In einem Schreibwarenladen, der am anderen Ende der Radetzkystrasse lag, gab es Ausschneidebögen. Eine Puppe mit ihren Kleidern war jeweils auf einem Bogen abgebildet und Rike sammelte alle Bögen, die sie irgendwie ergattern konnte. Der Besuch im Schreibwarenladen, in dem es nach Leder und feinem Staub roch, war der Höhepunkt der kleinen Einkaufstour, die sie fast jeden Tag mit der Mutter durch Lechhausen machte. Sie erträumte schon unterwegs die Leben der Puppen. Ihre Namen, ihre Art, ob sie böse oder nett waren. Ob sie bestraft werden mussten. Ganz in Gedanken versunken, stolperte sie hinter der Mutter in den Gemüseladen, den Metzger und den Milchladen, wo sie immer Kaubonbons geschenkt bekam. Auf dem Silberpapierchen war ein Obst abgebildet, nach dem das Bonbon schmeckte. Meistens waren es zwei Kirschen und ein grüner Streifen. Auf dem Weg ermahnte die Mutter sie oft, nicht über den großen Onkel zu laufen, die Füße gerade auszurichten.
Sobald sie wieder zuhause waren, lief Rike zum Küchentisch und begann, mit der Schere, die Kleider der Puppe auszuschneiden und sie immer neu anzukleiden. Sie hatte festliche Gewänder und Strandkleider und manchmal einen kleinen Spielzeughund.
Während sie im Hintergrund die Mutter staubsaugen hörte, träumte sie von einer sibirischen Puppe, die ein grünes Samtgewand trug mit dickem, schneeweißen Pelzbesatz und weiche Lederstiefel. Das Wichtigste war, dass sie einen süßen, kleinen Fellmuff für ihre Hände hatte. Rike wünschte sich für die Puppe eine dunkelblaue Kapelle mit vergoldeten Zwiebeltürmchen und tiefe Wälder, in denen schneeweiße Füchse schrieen.
Rike holte schnell den Katalog und alte Modehefte, die sie von der Mutter und der Oma geschenkt bekommen hatte zum Ausschneiden. Sie blätterte und blätterte, aber fand keine sibirische Puppe und kein Schloss, in dem sie wohnen konnte mit großen Spiegelsälen und glänzendem Parkett. Enttäuscht, dass sie den Traum nicht einfangen konnte, klappte sie den Katalog zu.
Sie schlich zur Mutter hinüber, die an einem Kleid nähte und bettelte um ein neues Modeheft.
„Du hast erst letzte Woche eines bekommen...“, sagte die Mutter ablehnend. Rike wusste, dass ein weiterer Vorstoß zwecklos war. Sie trollte sich in ihr Zimmer und sah durch das Fenster auf die noch kahlen Lindenbäume und das silbergraue Band des Flusses hinaus, der unbeirrt seinem Weg folgte.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 10.01.2010, 21:25

Hallo,

ich finde, dieser Ausschnitt sagt nicht genug aus, um etwas über diesen oder den angeahnten ganzen Text sagen zu können - ich kann diese kleine Stelle/Episode nicht deuten, darin etwas Erzähltes finden, erahnen was die Grundstimmung des ganzen sein könnte : es ist einfach ein Teil und der Rest fehlt.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.01.2010, 22:28

Alles klingt normal und bekannt, bis auf die merkwürdige Frage Rikes, ob die Puppen wohl bestraft werden müssten.

Ich finde ich selbst in dem Text sehr gut wieder (ich hatte diese Leidenschaft als Kind auch mal), nur dieser Satz klingt fremdartig und wirft Fragen auf. Die aber leider nicht beantwortet werden.

Der Text ist bilderreich, aber als Ausschnitt zu kurz; ich hätte gern mehr gelesen.

Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Nicole

Beitragvon Nicole » 11.01.2010, 09:32

Ja, dies ist wirklich ein Ausschnitt, der mich zumindest nicht erahnen läßt, wo das Ganze hinführt. Auch mir ist dies zu wenig. So, wie es dort steht, ist es für mich eine ganz nett gemacht Beschreibung, mehr leider nicht. So, wie es dort steht, fallen mir sprachliche Unschönheiten, Holprigkeiten mehr auf, als die hübschen Details. Mir fehlt einfach etwas. Sei es eine Auflösung oder auch nur ein Hinweis auf den von Zefira auch zitierten Satz der zu betrafenden Puppen, sei es ein "warum" für die Suche nach der sibierischen Puppe. So wirkt es für mich wie eine Skizze ohne Ziel und die beschriebenen Details irgendwie zwecklos.

Nicole

Litfink

Beitragvon Litfink » 28.09.2010, 23:20

Der Titel Papierpuppen stimmt gut auf das ein, was folgt. Rike ist die Heldin des kurzen Textes, den ich als "fertig", als abgeschlossen empfinde. Der Erzählton ist gut durchgehalten. Glanzpunkt ist, leider nur erträumt, "die sibirische Puppe, die ein grünes Samtgewand trug mit dickem, schneeweißen Pelzbesatz und weiche Lederstiefel. Das Wichtigste war, dass sie einen süßen, kleinen Fellmuff für ihre Hände hatte. Rike wünschte sich für die Puppe eine dunkelblaue Kapelle mit vergoldeten Zwiebeltürmchen und tiefe Wälder, in denen schneeweiße Füchse schrieen."
Diese Passage bildet für mich den Reiz des Textes. Er klingt im Schlußsatz noch einmal auf, wie die Voraus-Schau auf eine Zukunft: "Sie trollte sich in ihr Zimmer und sah durch das Fenster auf die noch kahlen Lindenbäume und das silbergraue Band des Flusses hinaus, der unbeirrt seinem Weg folgte."

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 14.10.2010, 11:55

Einen Text der den Titel Papierpuppen trägt und auch von jenen handelt, als Ausschnitt zu präsentieren hat schon für sich genommen einen gewissen Reiz.
Es geht um Ausschnitte. Ein Ausschnitt aus Rikes Leben, die Papierpuppen liebt, die damit scheinbar ihrer Mutter nacheifert, die Schnittbögen ausschneidet und Kleider näht.
Rätselhaft bleibt die Sehnsucht Rikes nach einer sibirischen Puppe, mit Schloss, Spiegelsälen und glänzendem Parkett. Eine Szenerie, die an den Palast der Eiskönigin erinnert. Woher kommt diese Sehnsucht? Was weiß Rike über Sibirien? Wie alt ist das Mädchen überhaupt?
Der Ausschnitt endet mit einem Blick aus dem Fenster unddem Ausschnitt der Welt, den Rike dort wahrnimmt. Sie sieht den Fluss, der unbeirrt seinem Weg folgt und der Leser verfängt sich enttäuscht im Punkt, der den Ausschnitt in rikes Welt viel zu schnell beendet hat.


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