allein

Der Anonymus bietet Mitgliedern die Möglichkeit, ein Werk sowohl anonym einzustellen, als auch anonym (auf die Rückmeldungen) zu antworten. Bitte lest euch die FAQs gut durch, bevor ihr etwas in diese Rubrik einstellt.)
Anonymus
Beiträge: 434
Registriert: 28.09.2007

Beitragvon Anonymus » 08.05.2010, 10:58

entkernt von dir
den kleinigkeiten
die anwesenheit bezeugten
sind die räume nun

ein handheben wischt
vorüber das schütteln des haars
wie honig süß das lächeln
und flüsterworte

eingebrannt bleibt das
bei mir in stillen mauern
und ich trinke ein glas wein
auf dich

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 08.05.2010, 15:41

Scheinbar abgeklärter Abschied

Ohne Pathos wird hier die Trennung vom LyrDu beschrieben. Scheinbar abgeklärt. LI "behauptet", über die Trennung hinweg zu sein. Doch zwischen den Zeilen ragen die liebevollen Erinnerungen durch. In der ersten Strophe deutet das Wort "entkernt" bereits darauf hin, dass LyrDu für das LI mehr als wichtig war. "Entkernt" zeigt mir, dass der Partner sehr tief mit dem Ich verbunden war. Dieses "Entkernt" symbolisiert auf der anderen Seite einen fast "brutalen" Vorgang für mich. LI hat sich das Du aus sich selbst herausgeschnitten. (Ich stelle mir vor, wie man einen Apfel entkernt, ihm das Herz herausnimmt.) Durch "sind die räume nun", das ich direkt mit dem "entkernt von dir" lese, versucht LI diesen tiefgehenden Prozess zu relativieren. Es ist sehr viel mehr, als LI zugeben mag.

In der 2. Strophe, auch wieder sehr bildhaft, versucht LI die Erinnerungen wegzuwischen. Doch diese bleiben hartnäckig bestehen, wie man aus der 3. Strophe entnehmen kann. Nicht nur hartnäckig, sie haben sich eingebrannt. LI knabbert hart an der Trennnung.
Und auch hier versucht LI, dies zu relativieren, wischt auch hier noch einmal die Erinnerungen mit einer Hand fort, nur diesmal, indem es ein Glas Wein auf das Du trinkt. Dieses "und ich trinke ein glas wein auf dich" wirkt trotzig und hilflos/resignierend zugleich auf mich.
LI ist nicht über die Trennung hinweg, ganz im Gegenteil, was auch der Titel bezeugt. LI ist/fühlt sich allein.

Fazit:
Ein sehr gelungenes Gedicht für mich, das sehr anschaulich (bildhaft) beschreibt, wie jemand vergeblich versucht, den Schein zu wahren und den Schmerz zu verbergen.

scarlett

Beitragvon scarlett » 11.05.2010, 10:04

Abschiedswalzer

Die Frage bleibt: wer ist letztendlich besser dran? Derjenige, der geht, oder der Zurückgelassene, der dem Fluch (oder Segen) der Erinnerungen in den eigenen (sic!) Mauern ausgesetzt, darin verwoben ist? Darauf gibt dieses Gedicht freilich keine Antwort, aber es regt mich an, darüber nachzudenken.

Ein Abschied wird hier thematisiert. Ob ein endgültiger oder nur ein zeitweiliger/vorübergehender ist dabei unerheblich. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn jemand einen Ort verlässt, der zuvor durch Gemeinsamkit definiert war, ist wohl in beiden Fällen für den Zurückgebliebenen ähnlich. Und allein um dieses geht es im vorliegenden Gedicht.

Es beginnt mit einem, zugegeben, harten Wort: entkernt.
Des Kerns, der Mitte beraubt zu sein, diese Formulierung lässt Rückschlüsse auf die Art der Beziehung zwischen LI und LD zu. Bei einer eher oberflächlichen würde man wahrscheinlich dieses Wort nicht wählen.
Es eröffnet einen ungeheueren Spannungsbogen, der sich erst in V4 der S1 löst, aber nicht etwa mit einem "bin ich", das man erwarten könnte, sondern mit "sind die räume".
Ab diesem Moment wird klar, dass das gesamte Gedicht mit dem Außen und Innen spielt, dass die Räume etwa und später dann die Mauern nur stellvertretend für die Innerlichkeit des LIs stehen. Und genau das mag ich an diesem Gedicht ganz besonders.

Mauern bewahren, schützen ... Sie grenzen ein Außen von einem Innen ab, definieren ein Vor und ein Dahinter. Was als scheinbar so "einfaches" Abschiedsgedicht daherkommt, erweist sich bei genauerem Hinschauen als raffiniert gestaltetes Seelenbild, in dem nichts zufällig gesetzt wurde.

Nicht der Honig, (bei dem mir einzig das "süß" redundant ist), der über Farbe und Geschmack eine Verbindung zwischen den Haaren und dem Lächeln bzw. den Flüsterworten herstellt, nicht das Schütteln des Haares, bei dem ich an Blüten/Pollen denken kann und das somit wiederum auf Leichtigkeit, Duftigkeit der Haare (und der Beziehung?) verweist, nicht das Vorüberwischen, das sich letztendlich als unmöglich erweist: Honig klebt, verzuckert und wird zäh. Kein Wunder also, dass das Gedicht damit fortfährt, dass sich diese Erinnerungen "eingebrannt" haben, sie lassen sich nicht so einfach entfernen.

Am Schluss wird ein Glas Wein getrunken. Auf die Erinnerung an das LD. Und wir wissen vordergründig immer noch nichts Genaues über die tatsächliche Befindlichkeit des LIs dabei, über die Art der Beziehung zum LD, es hat uns ein Bild geschenkt, hinter dem es sich verstecken kann.
Und beinah hätt es sich doch noch verraten, hätte der Autor den Zeilenumbruch anders gesetzt:

"und trinke ein glas
wein für dich"

Damit wäre der Bogen perfekt zum "entkernt" gewesen, der Abschiedstanz rund.

Eine vergebene Chance - zumindest hier. Aber letztendlich doch eine Antwort.

scarlett


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 11 Gäste