Entwidmet

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 21.09.2010, 12:01

Entwidmet


Sie sangen
Veni Creator
und wussten:
hierhin
kommt keiner mehr.

Das Heiligste
nahmen sie
singend mit
während drei Alte
weinten.

Sie stapelten
Stühle
auf denen
sie früher
bitten und beten
und hören
mussten.

Der Tabernakel
steht lange
leer
als stumpfe
kunstvolle Hülle
kein Brot
des Lebens
lebendiger Leib
freundlicher Gott
nicht schmecken
nicht sehen
kein Dogma mehr.

Wie ausgetrocknete
Vogeltränken
stehen drei
Becken im Raum
Weihwasserränder
leergesegnet
versottet
ersoffen
der Glaube.

Gekreuzigt
als Denkmal
blickt Christus
ins Leere
gestorben
begraben
und auferstanden.

Louisa

Beitragvon Louisa » 22.09.2010, 20:36

Hallo!

Also - an manchen Stellen wird mir das Kernthema des Textes noch nicht ganz deutlich. Ich weiß nicht, ob es sich eher um eine traurige Bekundung darüber handelt, dass die katholischen Kirchen immer mehr Freiflächen bieten oder ob hier nicht auch auf den sogenannten "Missbrauchsskandal" angespielt wird - wenn dem so sein sollte: ich denke die katholische Kirche hat schon schlimmere Schandtaten überstanden (...)

An das Ende dieses Textes muss man als Rezpient wohl erst einmal glauben... ich finde es so ausgedrückt im Vergleich zu dieser makaberen Stille der Kirche eigentlich ein bisschen zu wenig an Glaubensferteidigung.

Diese Stelle hier hat mir rein von ihrer Metaphorik sehr gefallen:

"Wie ausgetrocknete
Vogeltränken
stehen drei
Becken im Raum
Weihwasserränder
leergesegnet"

- Das ist eine gute Idee... Ansonsten kann ich gerade nicht so viel damit anfangen... es fehlen mir auch ein bisschen die Gründe für diese leeren Kirchengebäude und die Rechtfertigung dieser leichten Rührseligkeit im Text. Wieso weinen denn diese alten Männer? Wieso können sie jetzt nicht mehr dort beten? Sind das etwa Opfer jenes besagten Missbrauchs gewesen? Ich kann es nicht herauslesen.

Aber es war trotzdem interessant zu lesen.

Schönen Abend!
l

Quoth
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Beitragvon Quoth » 22.09.2010, 21:31

Hallo, Anonymus,
Für mich liegt die Lösung in der Überschrift: Hier ist ein Kirchengebäude "entwidmet" worden, d.h. es hat seinen Zweck, für Gottesdienste zu dienen, verloren, und damit hat auch die dazugehörige Gemeinde ihre bisherige geistliche Heimat verloren und muss in eine andere Kirche umziehen. Aus der Kirche wird ein Privatwohnung, vielleicht auch eine Disco, vielleicht wird sie auch aufgekauft und abgerissen und durch ein Geschäftshaus ersetzt - Kirchen liegen ja oft in ausgezeichneten Lagen ...
Man kann diesen Prozess sicherlich als Betroffener mit Wehmut sehen. Man kann ihn als Außenstehender aber auch als das notwendige Gesundschrumpfen einer überalterten und moralisch verwahrlosten Institution erleben. Der Text scheint eher auf der Seite der wehmütigen Betroffenen zu stehen, kann aber ein allzu starkes Mitgefühl bei mir nicht wecken.
Mit Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Louisa

Beitragvon Louisa » 22.09.2010, 23:32

Achso! Das habe ich nicht verstanden! Jetzt leuchtet mir zumindest der Sinn schon eher ein -

Na gut, ich glaube sowieso das eine tiefe Religiösität nicht unbedingt am Besten in einer Kirche empfunden werden muss...

Nee, dann gefällt mir das nicht... Außerdem: Diese Alten, von denen da gesprochen wird - gibt es die heute in Deutschland tatsächlich? Das muss aber eine sehr ländliche, süddeutsche Gegend sein von der du da erzählst, Anonymous!

Für Berliner Protestanten ist der Text wohl gar nischt ;) ...

gute nacht,
l

Quoth
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Beitragvon Quoth » 23.09.2010, 10:34

Hallo, Louisa,
die drei weinenden Alten mag es durchaus geben, auch in Berlin. Vielleicht sind sie in dieser Kirche getauft, gefirmt und getraut worden, ihre Kinder desgleichen, vielleicht haben sie hier von verstorbenen Angehörigen Abschied genommen - und nun soll das alles auf einmal verschwinden, die Kirche ist keine Kirche mehr, sie wird säkularisiert, entheiligt ... Als in Russland der Sozialismus fiel, sind die Alten schleunigst in ihre vielfach entweihten und zweckentfremdeten Kirchen zurückgekehrt, gleichsam in ihre geistliche Heimat. Verstehen kann ich das, auch wenn ich kein Christ bin.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Max

Beitragvon Max » 23.09.2010, 21:16

Der Text beginnt vielversprechend - ein Auftakt mit der ersten Strophe, der neugierig macht auf den Rest des Textes. Der aber krankt zunahmend daran, dass man eine sehr eindeutige perspektive lesen kann, die mit einer Vielzahl von Adjektiven sichtbar gemacht wird. Was "eine stumpfe, kunstvolle Hülle" ist, erschließt sich nur, wenn man den Text in einer bestimmten Art verstehen will. Das trübt leider den Lesegenuss.


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