Dementia

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 07.11.2010, 11:49

Sie liebte dieses Spiel.

Vor allem seiner Regelmäßigkeit wegen, in der es sich dienstagnachmittags in den Ablauf ihrer immergleichen Woche einbettete.
Davor Gesprächskreis mit "Gehirnjogging" unter der Leitung von Dr. Döhnke vor dem Mittagsmahl. Dann, nach dem Essen, Geselligkeit im großen, lichtdurchfluteten Aufenthaltsraum mit der vorgesetzten verglasten Veranda.

Zeit für die wöchentliche Revanche beim Boggle gegen Hubert, dessen Demenz noch nicht so weit fortgeschritten war wie die ihre. Sie mochte Huberts Gesellschaft, weil sie ihrer beider ewiggleiche Gesprächsthemen dennoch nie anödeten.

Nicht wie bei ihm. Da war schon seit jeher alles, was aus seinem Mund gekommen war, nichts weiter als heiße Luft gewesen und auch geblieben.

Er erschien meist pünktlich, kurz vor dem Start des Kuchenbüffets um Vier. Stets direkt von der Arbeit kommend, mit zerknittert-durchgeschwitztem Hemd unter dem seriös-kleinkarierten Banker-Sakko und immer welchselweise einem Kaffee- oder Majonäsenfleck auf Krawatte oder Ärmelmanschette. Verlässlich mit einem jener lieblos trist wirkenden Billigschnittblumenbündel vom Diskonter in der Hand, an dem er sich festhalten konnte.

Sie freute sich schon jedesmal auf seinen Besuch.
Begann schon zwei Tage davor, am Sonntag, sich auszumalen, wie es diesmal wieder sein würde, um zumindest zwei Tage der immergleichen Woche mit einer erfüllenden Beschäftigung zuzubringen: mit Warten.
Auf den hoffnungsvoll-bangen Ausdruck in seinem Gesicht, der dann stets seine Stirn so herrlich querfurchte.
Auf die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die er ihr - jetzt endlich - mehr als zur Genüge zuteil werden ließ.
Auf die vom Festklammern weißen Fingerknöchel seiner Blumenstraußhand.
Auf die von der Erwartung verkrampften Schultern, die seinen ohnehin nicht gerade schlanken Hals nur noch kürzer aussehen ließen.
Auf die verschämte, beinah tappsige Berührung ihrer Schulter, die wohl eine Begrüßungsgeste darstellen sollte.
Auf dieses erste, tausendmeterhohe, inhaltsschwere Schweigen vor der ewiggleichen Begrüßung.

Gute Güte! Er war jetzt in seinen Fünfzigern und benahm sich noch immer wie ein nichtsnutziger Anfänger in der Grundschule!
Wie er es in der Bank so weit hatte bringen können, war ihr seit Anbeginn ein Rätsel.
Vermutlich hatte man ihm die geopferte Zeit, die eigentlich all die Jahre ihr zugestanden hätte, dementsprechend als guten Willen angerechnet. Fachkompetenz konnte es schließlich kaum sein, so, wie sie ihn kannte.

Erst letzten Dienstag hatte er ihr erzählt, dass wieder ein Kollege bei der Beförderung vorgezogen worden war.
Sie hätte ihm schon erklären können, weshalb.
Weil er nämlich nie auf die Idee kommen würde, sich deswegen jemals auch nur bei irgendjemandem zu beschweren. Er schluckte bereitwillig und ohne Widerstand stets alles.

So, wie er es schon immer getan hatte. Doch sie verspürte keine Lust, mit ihm zu reden. Er hatte früher nicht auf sie hören wollen. Jetzt wollte sie nicht mehr erklären. Stattdessen tätschelte sie geistesabwesend seine Hand, mit der er immer die Lehne ihrer Ruheliege umfasst hielt, nachdem er die Blumen an eine Stationsschwester hatte abgeben müssen.

Als seine Frau ihn vor drei Jahren mit den gemeinsamen, bald selbst erwachsenen Kindern von heute auf morgen verlassen hatte, hätte sie ihm auch damals erklären können, warum. Sie hatte es kommen sehen. So, wie sie die letzten acht Jahre auch sonst nichts von dem überrascht hatte, was er ihr erzählt hatte.

Ah! Er war da.
Sie konnte seine antriebslosen, gottergebenen Schritte bereits im Flur ausmachen.

Pünktlich wie immer. Sie blickte nicht von ihrer Großdruckillustrierten auf, während sie ihn in ihrem Rücken näherkommen hörte.
Sie setzte das Lächeln für ihn auf. Jenes mit dieser Mischung aus Hilflosigkeit und verträumter Abwesenheit in den Mundwinkeln.



"Grüß dich, Mama.....?"


"Kenne ich sie, junger Mann?"


* * *

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