Ohne Titel

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 14.12.2010, 14:18

Ein Teufelsmal,
kreischte die Tante heiser.
Ich war ein Kind
und hatte die Wunde
zwischen den Augen
längst vergessen.

Später legte ich
eine Haarlocke
über die Narbe.

Keifende Weiber überall.
Ein Grauen,
sagte ich lachend.


Behext hat sie uns!
Sie tanzten und gurrten
mit fordernden Fratzen
und brüllten irr
meinen Namen.

Sie nahm uns
die Kinder,
wisperte es spitz
aus den einsamen
Wochenbetten.

Mit Raupen,
so klagten die Bauern
erregt und dumpf,
hat sie uns die Felder
besetzt.

Sie johlten
und grüßten mich
zahnlos und böse
auf meinem Weg
in den stinkenden Kerker.

Ich dachte an Christus,
der nie widerrief,
als sie mich kahl schoren
das Stirnmal fanden
und gierig nach
teuflischen Amuletten
in meinem Innern wühlten.

Ich dachte an Christus
an seinem Kreuz,
wenn sie mir
wieder und wieder
die Knochen brachen.
Nur eine Hexe,
spuckten sie
vor mir aus,
kann jetzt noch leben.


Der Stapel Holz
war schon entfacht,
da kam ein Notar
mit einem Text,
der meine Unschuld
beweisen sollte.
Ich signierte
mit meiner
linken Hand.

Entsetzt malten sie
das Kreuzzeichen
in den Rauch,
denn links schreibt
der Teufel.

Hier ist die Wahrheit,
rief ich und hob
den blutigen Stumpf
meiner Rechten.







für Katharina Henoth († 1627 erdrosselt und verbrannt), die trotz extremer Folter bis zuletzt ihre Unschuld beteuerte.

Last

Beitragvon Last » 17.12.2010, 12:01

Ich finde es schade, dass das hier anonym reingestellt ist, weil ich zu einem in der Gänze sehr gelungenem Text ein paar kritische Anmerkungen, einzelne Stellen betreffend, vorzubringen habe. Außerdem habe ich einen Verdacht, wer die Autorin/der Autor ist, was ich natürlich für mich behalte :pfeifen:

Mich überzeugt in erster Linie die Komposition als Ballade, die den historischen Stoff so verarbeitet, dass die Katharina Henot einerseits ein weiteres Denkmal gesetzt bekommt und andererseits zu einer allegorischen Figur verklärt wird. Dabei finde ich bezeichnend, wie der Aufbau des Textes durch das Zurückhalten von Informationen den Spannungsbogen gestaltet und gleichzeitig gerade durch die Lage des Lesers, dem bei der Erstlektüre noch die konkrete Zuordnung einzelner Textstellen fehlt, die allegorische Lesart provoziert. "Keifende Weiber überall", meint letztenendes ja die Verleumdung der Katharina Henot, solange ich das aber nicht weiß, tendiere ich dazu, eher die allgemeine Streitsucht hinterhältiger Frauen (potentieller Mutterfiguren?) herauszulesen. Ähnliches gilt für die verstorbenen Kinder, die Raupenplage, usw.

Gelungen ist auch die Pointe mit der abgetrennten Wahrheit, während ihr aber wie dem Text überhaupt gewisse Probleme anhaften, wenn es um die Perspektive auf enorm schmerzvolle Bestrafungen und Folter geht: so wird alles von einem lyrischen Ich erzählt, das bezüglich seelischem und vor allem körperlichem Schmerz resistent bleibt, wie ein Unbeteiligter. Das funktioniert nur in der allegorischen Lesart, nicht in der historischen, selbst wenn man von dem Widerspruch absieht, dass da eine Person in der Ich-Form und im Präteritum über ihre Hinrichtung berichtet.
Da ich aber ein Freund der Allegorie bin und im Allgemeinen nicht an historisch korrekte Darstellungen glaube, empfinde ich das sogar als Stärke des Textes und möchte der literarischen Figur die Schmerzlosigkeit im Sinne einer Entrückung durchaus zugestehen. Dann werte ich das Verbergen des "Teufelsmals" unter einer Locke und das Scheren des Hauptes als Metaphern für eine Erziehung, die der Heranwachsenden nachhaltig alle Gefühle raubt, und schon wird Katharina zur Schutzheiligen der unterdrückten Kinder und die Ich-Form bekommt den Charakter einer Projektion.

Ungünstig finde ich hingegen die Verse: "nach / teuflichen Amuletten / in meinem Innern wühlten." Wobei ich jetzt nicht weiß, ob ähnliche Folterpraktiken tatsächlich angewandt wurden. Ich vermute da eine recht ausführliche Recherche seitens der Autorin, bzw. des Autors, auch wenn sie/er sich ein paar Abweichungen erlaubt. Da mir aber das Hintergrundwissen fehlt, sehe ich nur, was da jetzt steht und das funktioniert auf einer dinglichen Ebene irgendwie nicht. Wenn eine Ausweidung des Körpers gemeint ist, wäre das Opfer kaum in der Lage, zu überleben. Wenn auf eine Penetration angespielt wird, stößt mir das "wühlen" und noch mehr das "in meinem Innern" als überzogen auf: die Sprecherin wirkt auf mich nicht wie eine Person, die ihren Schoß ihr Inneres nennen würde. Es bliebe dann wieder die allegorische Lesart, dann stören mich aber die "teuflichen Amulette", eine Metapher, die in meinen Augen einfach nicht gelungen ist.

Dieser Text fesselt. Seine inneren Fehlerchen wirken dadurch, dass überall noch etwas mehr dahinter steckt, fast genau so spannend, wie die eindeutig gelungenen Stellen. Soll heißen die "Fehler" stören mich nicht, oder viel eher der Umstand, dass sie stören, bindet mich an den Text, weil ich diese Störung mit dem Rest in Einklang zu bringen versuche.

LG
Last


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