Später

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Gast

Beitragvon Gast » 01.11.2007, 17:28

Alle Knochen im Leib tun ihm weh, auf dem Weg durch den Eingang des Wohnheims, hinauf in die erste Etage. Zusammen mit dem Betriebselektriker hat Hermann-Josef Kardenbach eine Kranreparatur durchgeführt. Nur weil der Limbacher den Betriebsschlosser unbedingt hat auf Montage schicken müssen. Sozusagen als Autoritätsbeweis. In Zeiten, in denen es mehr Arbeiter als Arbeitsstellen gibt, hat so etwas Tradition.
Vor einer Türe bleibt Hermann-Josef stehen und klopft. Eine ältere Frau öffnet ihm die Türe: „Hereinspaziert!“, sagt sie und müht sich zur Seite, um den Besucher hineinzulassen.
„Tag Mutter,“ sagt er, „wie geht es dir denn heute?“, obwohl er die Antwort schon kennt.

Der Limbacher heißt nicht Limbacher nur weil er aus Limbach kommt. Dieser Name ist ein Begriff, geprägt auf der nahe gelegenen Hütte. Sagen wir mal so: Steht ein Kollege mit einem Limbacher unter der Dusche und ihm flutscht sein Stück Seife auf den Fußboden – liegen lassen!
Seine Lehrstelle bei der Firma Stein & Sohn hat Hermann-Josef Kardenbach damals nur bekommen, weil der damalige Betriebsleiter an der falschen Stelle gespart hatte. Der Sicherheitszaun rund um den Sickerwasserteich war dem zu teuer. Gut für Hermann-Josef Kardenbach. Schlecht für seinen Vater, weil, der konnte nicht schwimmen. Und als er einmal im Dunkeln Material von hinterm Haus holen wollte, kam er nicht mehr zurück. Bemerkt hatten das die Kollegen von der Mittagsschicht kurz nachdem Feierabend war.
Das heißt, eigentlich war dann gar kein Feierabend mehr.
Und auch nur deshalb hat er damals dort eine Lehrstelle bekommen.
Sozusagen als Ausgleich zum schlechten Gewissen des damaligen Betriebsleiters. Das wiederum hatte zur Folge, dass der jetzige Betriebsleiter ihn nicht ausstehen konnte. Als Meister der Montage, hatte er sich damals ausgerechnet, dass sein Sohn eine Lehrstelle bei ihm, in „seinem“ Betrieb, bekommen würde. Dem war aber nicht so. Denn aus Kostengründen sollte zu der Zeit nur ein Schlosser ausgebildet werden, und der sollte nicht Zuck junior heißen!
Die Firma Stein & Sohn, produzierte Bohrmaschinen aller Art und Größen und hatte, außer der in dieser Region, noch zwei weitere Niederlassungen in Deutschland, mit insgesamt dreihundertachtundzwanzig Beschäftigten. Jupp wusste das so genau, weil er bei den letzten Betriebsratswahlen im Wahlausschuss war. Der Hauptsitz war in Berlin gemeldet, wegen der Steuervorteile damals.

Frau Kardenbach sagt: „Wie soll es mir schon gehen, Hermann-Josef? Seitdem Vater nicht mehr da ist, ist nichts mehr wie es sein sollte. Und jetzt habe ich noch nicht einmal mehr eine Familie!“
„Fängst du schon wieder damit an, Mutter?“
Hermann-Josef Kardenbach wurde seit er sich erinnern konnte, von allen Jupp genannt, nur von seiner Mutter nicht. Auch sein um zwei Jahre älterer Bruder rief ihn so, oder auch Juppchen, oder Juppi – oder Mamas kleiner Doofi.
Als der Vater starb, war Jupp dreizehn und sein Bruder im freiwilligen sozialen Jahr, weil er unbedingt Krankenpfleger werden wollte. Und das konnte er mit Volksschulabschluss nur, wenn er ein Jahr in einem Altersheim absolvierte.
Jupp setzt sich auf einen Stuhl, seiner Mutter gegenüber.
„Das haben wir doch schon so oft durchgesprochen. Es geht im Moment einfach nicht, Mutter, ...“
Eine Hüftarthrose machte Maria Kardenbach das Leben schwer. Längst schon hätte sie ein neues Hüftgelenk haben sollen. Aber sie weigerte sich, aus lauter Angst nicht mehr aus der Narkose aufzuwachen.
Jupp wollte die Wohnung erweitern, und weil das immer mit viel Dreck verbunden war, und auch weil sich in der Zeit niemand so richtig um die Mutter hätte kümmern können, hatten sie alle zusammen beschlossen Maria Kardenbach eine Zeit lang – länger als ein Jahr sollte es auf gar keinen Fall werden – in einem Pflegeheim unterzubringen, und sie dann, wenn der Umbau fertig war, wieder zu sich zu nehmen. Glücklicherweise fanden sie einen Platz ganz in ihrer Nähe. Aber sie hätte genauso gut am anderen Ende der Republik betreut werden können – so oft sah man sich.
Der Umbau zog sich hin.
Stein & Sohn hatten kaum noch Aufträge. Jupp wollte das Haus nicht aufs Spiel setzen, traute sich nicht Kredite aufzunehmen, und das Pflegeheim selbst war teurer als eingeplant.
„… später holen wir dich zu uns.“
Frau Kardenbach sagt: „Später? Wann ist das? Wenn ich nicht mehr da bin? Was ist nur aus unserer Gesellschaft geworden. Noch nicht einmal um die Alten kümmern sie sich.“
Hermann Josef Kardenbach kennt diese Gespräche in- und auswendig. Für ihn auch ein Grund nicht so oft her zu kommen.
„So wie sich die Alten früher um die Jungen gekümmert haben, Mutter?“
„Willst du damit sagen, dein Vater und ich hätten uns nicht um euch gekümmert?“
„Wann denn? Ihr habt doch nie richtig Zeit für uns und unsere Probleme gehabt. Immer war etwas wichtiger.“
Maria Kardenbach kann ihre Hände nicht mehr ruhig halten. Das ist das falsche Gespräch. Sie hätte gern ein anderes. Von der Familie getrennt zu sein tut ihr weh. Dafür ist der Mensch nicht gemacht. Die Natur verlangte nach Ausgleich, nach Gegensätzen, nach stark und schwach, nach groß und klein, jung und alt. Einsamkeit, auch die unter vielen Leuten, macht müde, lebensmüde. Sie versucht das Thema in andere Bahnen zu lenken.
„Wie geht es euch denn? Warum hast du Nicole nicht mitgebracht?“
Jupp ist kämpferischer Stimmung. Mit den Aufträgen verlieren sich auch gute Laune und die Bereitschaft auf andere Menschen zuzugehen.
„Gabi ist zur Vorsorgeuntersuchung, Nicole ist auf einem Kindergeburtstag. Und ich hab gedacht, ich schau mal bei dir vorbei.“
„Das ist lieb von dir, mein Junge. Gestern hat Harald geschrieben. Er kommt bald zurück. Dann ist seine Zeit beim Deutschen Entwicklungsdienst zu Ende.“

Harald Kardenbach ist seinen Weg gegangen. Über Koblenz kreuz und quer durch Deutschland bis Wächtersbach. Dort holte er sich in den vorbereitenden Kursen den letzten Schliff, bevor es ihn weiter nach Brasilien zog. Er wollte Entwicklungshilfe leisten und staunte nicht schlecht wie viel er noch lernen konnte. Bald heiratete er eine einheimische Krankenschwester und erzählte es niemandem. Nach Hause schrieb er, seine Ablösung sei noch nicht eingetroffen, aber bald käme er heim. Die Mutter ahnte die Wahrheit. Es war eine andere, als die geschriebene. Mütter ahnen so was immer. Mütter sind aber auch Künstler darin, die Hoffnung der Offensichtlichkeit vorzuziehen.

Jupp sagt: „Schön für ihn.“
Frau Kardenbach hat den Unterton sehr wohl bemerkt: „Früher habt ihr immer so schön zusammengehalten!“
“Was blieb uns anderes übrig?“
„Wie soll ich das denn schon wieder verstehen?“
„Eure Erziehung bestand doch im Wesentlichen darin uns gefügig zu machen.“

Die Brüder lernten schnell. Ihre Zwistigkeiten regelten sie außerhalb der elterlichen Aufsicht und zu Hause machten sie einen auf heile Welt. Mutter durfte sich nicht aufregen, damit Vater nicht erziehen musste.

Frau Kardenbach sagt: „Es waren Zeiten, die uns viel abverlangt haben. So leicht war es nun wieder auch nicht mit zwei Kindern, die großgezogen und versorgt werden wollten, gleichzeitig ein Heim aufzubauen. Wer hat denn dafür gesorgt, dass ihr immer etwas auf dem Tisch und ein warmes Zuhause hattet?“

Was die Alten auf die Beine gestellt hatten war enorm. Feierabend kannten sie kaum, und auch erst in späteren Jahren gönnten sie sich überhaupt etwas in der Art.
Jupps Vater war so einer, der konnte schuften bis zum Umfallen. Er konnte aber auch mal nichts tun. Später gewöhnte er sich dann an, samstags zum Kegeln zu gehen und am Sonntagmorgen zum Skat. Der Sonntagnachmittag war für die Familie, und den Jungs ein Gräuel.
Die Mutter ging zu einem Bauern, auf dem Feld helfen. Von dort brachte sie frische Lebensmittel mit.

Jupp war nicht nach Lobgesang zu mute, er wollte streiten.
„Andere Väter und die Generationen vor euch hatten viel mehr Kinder, und haben es geschafft.“
„Für wen hat sich euer Vater krumm und bucklig geschafft, wenn nicht für euch?“
„Wenn du damit seine Skatabende und seine Kegelleidenschaft meinst - für sich selbst?“
„Nach den vielen Arbeitsstunden hatte er sich ein wenig Ablenkung verdient.“
„Und das Auto vor der Türe? Er ist doch immer mit dem Bus zur Arbeit gefahren, genauso wie ich später auch. Hat er das tatsächlich nur wegen uns gekauft, oder doch eigentlich mehr wegen den Nachbarn, weil die auch eines hatten, und er nicht zurückstehen wollte?“
Jupp geht an das Fenster, von wo aus der Parkplatz gut zu übersehen ist. Hier steht seine Mutter bestimmt und hofft sein Auto zu sehen.
„Sag nicht, es hat was damit zu tun, dass ihr uns fast jeden Sonntag dazu gezwungen habt, bei Wind und Wetter, einmal um den Losheimer Stausee zu marschieren.“
„Komm, komm, so oft war das auch wieder nicht. Außerdem war dein Vater immer bestrebt aus euch anständige Kerle zu machen.“
„Ja – mit dem Ochsenziemer.“
„Du bist verbohrt.“
„Warst nicht du es, die ihrem Mann immer die Ohren vollgejammert hat, was wir alles angestellt haben. So lange bis er uns Vernunft eingebläut hat, und du ihn in Ruhe sein Bier hast trinken lassen.“
Maria Kardenbach wird müde - und traurig. Sie fühlt sich nicht verstanden. Sie hat gehofft ihren Sohn dafür gewinnen zu können, sie bei wenigstens für ein paar Tage zu sich zu nehmen. Sie sagt: „Du musst wissen was du tust! Hoffentlich ist es auch so wie denkst das es ist!“
„Mutter, wann akzeptierst du es endlich: Ich bin erwachsen!“
Als Jupp das Pflegeheim verlässt, steht die alte Frau am Fenster und sieht ihm nach.

Als Jupp von der Arbeit heimkommt, hat Gabi das Essen fertig. Nicole vertreibt sich die Zeit damit, den kleinen Hundemischling Tobi zu ärgern.
Mutter und Tochter warten immer auf den Vater, um zusammen mit ihm Mittag zu essen.
Die Kleine sagt: „Du, Papa, spielen wir nachher was?“
Hermann-Josef Kardenbach sagt: „Später, Prinzesschen. Mach erst einmal deine Hausaufgaben.“
Nicole protestiert: „Aber du hast es versprochen, Papa!“
Der Vater sagt: „Machen wir ja auch. Aber nicht jetzt – wir spielen zusammen wenn ich zurückkomme.“
„Wo gehst du denn hin?“
Die Mutter sagt: „Dein Papa will noch unbedingt an den Weiher.“
„Stimmt das, Papa?“
Er antwortet nicht darauf. Was soll er auch dazu sagen, weiß er doch worauf das Gespräch hinausläuft. Er begnügt sich damit seine Frau von der Seite her anzuschauen.
Gabi hat „Verheiratete“ gemacht – das sind Kartoffeln und Knödel durcheinander. Eines seiner Leibgerichte. Schweigend genießen sie die Mahlzeit, als das Telefon läutet. Gabi geht zum Apparat und meldet sich: „Kardenbach …?“, danach drückt sie die Lautsprechertaste, legt den Hörer neben das Telefon und geht in die Küche zurück.
Sie sagt zu Jupp: „Der Limbacher will dich sprechen.“
Jupp springt auf und versucht sich in einer Zeichensprache, die ihm selbst fremd sein muss.
„Pssst! Wenn der das hört!“
Im Flur nimmt er den Hörer auf und meldet sich: „Kardenbach…?“
Am anderen Ende der Leitung poltert die Stimme seines Betriebsleiters: „Kardenbach? Zuck hier! Du musst morgen früh nach Hannover. Dort streikt mal wieder eine unserer Maschinen.“
Jupp schluckt, nicht nur weil er noch was im Mund hat. Er sagt: „Muss das sein? Das kommt mir sehr ungelegen …“.
Herr Zuck lässt es sich nicht nehmen ihn zu unterbrechen.
„Weißt du wie viele Bewerbungen ich in der Schublade liegen habe, Kardenbach? Hör mal – du musst überhaupt nichts. Sag einfach du willst nicht, und jemand anderes fährt.“
Jupp beeilt sich sein Firmeninteresse zu bekunden: „Nein, nein, Herr Zuck, so war das nicht gemeint. Selbstverständlich fahre ich. Wie …?“
Zuck, der Limbacher in Alternativausrichtung, sagt: „Gut so, Kardenbach. Morgen früh in der Firma erfährst du alles was du wissen musst.“
Der Betriebsleiter legt auf. Jupp setzt sich an den Tisch zurück. Das Essen will ihm nicht mehr so recht schmecken. Gabi hat mitgehört. Auch ihr ist der Appetit vergangen.

Nicole ist fertig und setzt sich an den Wohnzimmertisch. Fleißig übt sie im Heft Buchstaben zwischen zwei Zeilen unterzubringen.
Gabi Kardenbach sagt bei der abschließenden Tasse Kaffee: „Andere Väter nehmen sich Zeit für ihre Kinder!“
„Ich kümmere mich schon noch um unsere Tochter.“
Gabi hat eine andere Vorstellung davon.
„Wann?“ sagt sie, „Du hast ja mittlerweile noch nicht einmal mehr an den Wochenenden Zeit für uns! Entweder du hängst von morgens bis abends in der Firma herum, oder bist am Umbau, oder in deinem blöden Angelsportverein!“
Viel Zeit verbringt er nicht mit der Familie, das stimmt. Gemeinsames Mittagessen und ab und zu noch abends ein paar Minuten vor der Glotze. Meistens wird es so spät, dass sein Prinzesschen noch schlaftrunken „Nacht, Papi“ murmelt, weil sie schon am Einschlafen ist, wenn er heimkommt.
Jupp sieht sich in der Zwickmühle.
„Es war unsere gemeinsame Entscheidung, diesen Umbau in Angriff zu nehmen - erinnere dich. Und was die Arbeit betrifft: Ohne meine Bereitschaft auch mal auf die Baustelle hinauszufahren, wäre ich schon längst arbeitslos!“
Gabi winkt ab.
„Für die anderen bist du immer da, das scheint deinem Ego mächtig zu schmeicheln. Warum wolltest du überhaupt eine Familie, wenn du eh keine Zeit für uns aufbringen willst? Tu bei wenigstens was für dein Kind – spiel mit deiner Tochter!“
Jupp rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
„Was soll das? Ich habe den Vorstand im Angelsportverein nun einmal übernommen.“
Konrad, sein Pate, hat ihn immer an den Weiher mitgenommen. Und weil weder sein Vater noch sein Bruder etwas mit der Fischerei anzufangen wussten, fühlte er sich dort sehr wohl.
„Soll ich jetzt hingehen und sagen: Tut mir Leid, meine Frau hat es sich für mich anders überlegt?“
„Du musst wissen, was du tust, Jupp! Du selbst bist es, der sich aus all den Möglichkeiten das raussucht, womit er am ehesten zufrieden ist – und anscheinend gehören deine Tochter und ich nicht dazu.“
Jupp lässt die Tätigkeit in „seinem“ Verein nicht in Frage stellen. Schon gar nicht in einer Zeit, wo niemand etwas machen will. Einer Zeit, in der jeder auf den anderen zeigt – der soll doch auch mal was machen, die Faulsau!
Das war ein ganz wunder Punkt bei ihm.
„Wo kämen wir denn hin, wenn jeder nur sagen würde, lass das mal die anderen machen?“
Gabi schüttelt den Kopf.
„Frag dich doch mal selbst: Die Menschen, um die du dich am meisten kümmerst, sind das auch die, die dich am meisten brauchen? Denn das kann man auch so sehen: Alles andere ist wichtig, nur nicht die Familie. Niemand hat was dagegen, wenn du dich für andere einsetzt. Aber wann gedenkst du dir Zeit für uns zu nehmen? Wir sind doch auch noch da! - Etwa wenn deine Tochter verheiratet ist und selbst Kinder hat? Willst du dann mit ihr spielen? Mau-Mau? Oder Blinde Kuh?“
„Nun übertreibst du aber …“ Jupp steht auf und geht. In der Türe dreht er sich noch einmal um. Er zögert, sagt dann: „Am Samstag habe ich mit Onkel Konrad Dienst am Weiher.“
Gabi sagt: „Aber nur, wenn du bis dahin schon zurück bist! Da fällt mir ein, wolltest du am Samstag nicht Nicoles Roller flicken?“
„Ja …“

Als Nicole längst schon ihre Aufgaben für die Schule fertig hat, und die Mutter nicht länger warten kann, weil sie einen Arzttermin wahrnehmen will, kommt ihr Vater mit dem Auto vorgefahren. Jupp und Elmar steigen aus. Beide gehen hinüber zu dem Haus, in dem Elmar wohnt. Nicole sieht es. Darauf hat sie nur gewartet. Schnell läuft sie mit Tobi in den Garten; klettert mit dem Hund auf dem Arm über einen Jägerzaun; läuft strahlend zu ihnen. Jupp hat mittlerweile eine Flasche Bier in der Hand und diskutiert angeregt mit Elmar.
Das Mädchen sagt: „Bist du fertig, Papa? Spielen wir jetzt was zusammen?“
„Später“, sagt der Vater. „Geh mit Tobi gucken was die anderen Kinder treiben. Ich ruf dich dann.“
Nicole trollt sich in Richtung Eisenbahnschienen, dorthin, wo die Kinder der Jabacher Straße auf dem Bahngelände ihren Abenteuerspielplatz gefunden haben; eine stillgelegte Strecke, auf der zwischengelagert wird - und der Hund hinterher.

Elmar und Jupp haben eine neue Flasche Bier aufgemacht, als der kleine Peter angelaufen kommt. Er ist gerade mal zwei Jahre älter als Nicole.
Er ringt nach Luft und stammelt: „Dem Jupp … sein Mädchen …“
„Nicole? Was ist mit ihr?“
„Schnell … es ist was passiert …!“
Peter läuft vor und die anderen hinterher. Vor einem riesigen Haufen Eisenbahn-Schwellen bleibt er stehen.
„Da!“
Aber niemand sieht etwas.
Peter beginnt auf den Haufen zu klettern, die anderen ihm nach, und dann sehen sie das Mädchen und den kleinen Hund. Nicole liegt zwischen den Balken und rührt sich nicht. Tobi läuft in ihrer Nähe aufgeregt auf und ab, kommt nicht bis zu ihr.

Die Kinder sind über die Balken geklettert, jedes wollte schneller als das andere sein. Ein Bohle hatte nachgegeben und Nicole mitgerissen.

Jemand ruft: „Den Notarzt! Schnell!“
Jupp steht da und weiß nicht was zu tun ist.
Die Nachbarn reagieren.
Schon bald sind die ersten Sirenen zu hören. Alle reden durcheinander, jeder weiß etwas; einige tun das Richtige.
Die Leute beginnen die Balken abzutragen, legen das Mädchen frei.
Nicole lebt.
Jupp kniet neben ihr, traut sich nicht sie anzufassen. Der Not-Arzt kommt. Hände, die genau wissen was sie tun, untersuchen das Kind, legen behutsam einen Zugang für die Infusion, spritzen ein Mittel, schließen eine Flasche über einen Schlauch an.
Schließlich landet der Rettungshubschrauber und bringt das Kind in die Klinik.
Den Jupp nehmen sie auch mit.

Die Ärzte operieren sofort. Nicole hat bei dem Sturz schwere innere Verletzungen abbekommen, so viel versteht der Vater, als der Leiter der Kinderstation, ein Privat-Dozent, ihm anschließend die Lage zu erläutern versucht. Sein Prinzesschen befindet sich in einem sehr kritischen Zustand.

Erst als Nicole schon längst aus dem OP ist, erreicht Jupp Gabi zu Hause. Die Nachbarn haben ihr bereits alles erzählt. Und als Gabi endlich im Krankenhaus ist, nehmen sie sich in die Arme und weinen miteinander. Gabi fängt sich zuerst, sie sagt: „Kopf hoch, Alter! Das packen wir schon noch.“

Auf einmal ist Zeit da, viel Zeit. Weil sich in Bedeutungslosigkeit verliert, was eben noch wichtig war. Aus Wissen wird Verunsicherung, aus Angst wird Wut. Warten kann zu einem Martyrium werden zwischen Hoffen, stillen Zwiegesprächen und Selbstvorwürfen; Gedanken, die einen erdrücken: Hätte ich doch nur …

Eine Schwester versorgt die beiden mit belegten Broten und Kaffee. Immer wieder stehen sie zusammen im Flur vor der Scheibe, die sie von ihrem Mädchen trennt - von ihrer kleinen Nicole, ihrem Prinzesschen; das auf ihrem Bettchen, umgeben von Apparaten und Schläuchen und Ärzten und Schwestern, liegt.
Rein zu ihr dürfen sie nicht.

Die Fenster des Warteraums zeigen nach Norden, dorthin, wo das Unglück seinen Lauf nahm. Jupp hält sich am Fensterbrett fest. Die frühe Luft des neuen Tages lässt die beiden Sendertürme auf dem Hoxberg aus dem Dunst auftauchen. Hatten sie sonst bei Aufenthalten in der Klinik, allein dadurch dass sie da waren, Trost gespendet, kamen sie ihm nun wie zwei riesige Mahnmale vor.
Er öffnet ein Fenster, inhaliert tief die frische Luft.
Gabi kommt zu ihm. Er schaut sie an und weiß: es gibt nichts Neues.
Jupp beginnt durch den Raum zu wandern. Gabi schaut ihm traurig zu. Ihre Augen sind gerötet.
Jupp geht zu ihr. Er stellt sich einen Stuhl zurecht, setzt sich neben sie und nimmt eine Hand von ihr in die seine. Dabei hängt sein Blick gedankenverloren irgendwo im Raum.
Er sagt: „Warum tun wir in unserem Leben immer das Verkehrte? Wir glauben immer das Richtige zu denken, aber was herauskommt ist Schmerz!“
Er saugt die kühle Luft ein, die an ihnen vorbei nach draußen, in den Vorraum zu den Fahrstühlen und dem Treppenhaus zieht. Gabi laufen Tränen über das Gesicht. Jupp sagt: „Herrgott noch mal“, und noch einmal lauter, „Herrgott noch mal, lass dieses kleine Mädchen leben!“
Die Türe öffnet sich; ein bekanntes Geicht, ein Körper in weißem Kittel, erscheint. Der Privat-Dozent räuspert sich, bevor er sagt: „Frau Kardenbach, Herr Kardenbach – es tut uns leid, Ihre Tochter hat es nicht geschafft.“


Anmerkung des Autors: Der nächste Teil wurde ausschließlich für Leser/innen geschrieben, die sich mit solch einem Ende / Schluss nicht zufrieden geben können.


Es ist ein Irrglaube anzunehmen die Zeit heile alle Wunden. Wir versuchen mit dieser unseren Verletzlichkeit den inneren Kräften entsprechend umzugehen. Und manchmal gelingt es uns auch eine gewisse Stärke an den Tag zu legen - mehr oder weniger.

Maria Kardenbach starb einen stillen Tod. Kurz nach ihrer Enkelin, und ohne noch einmal das Gefühl einer intakten Familie erleben zu dürfen. Sie wurde morgens tot in ihrem Bett vorgefunden.

Dass Gabi seit dem Tag des Unfalls weiß, dass sie wieder in Umständen ist, kann und will sie Jupp erst nach der Beerdigung seiner Mutter erzählen.
Trotzdem er sich darüber freut, es bringt ihm seine Tochter nicht zurück.

Jupp stürzt sich nicht in Alkohol, wie die meisten Leute mit großer seelischer Pein es tun, er stürzt sich in Arbeit. Was nicht viel besser ist. Und es bringt ihm auch nicht den Seelenfrieden, den er sich erwünscht. Aber er lernt. Vor allen Dingen öfter „nein“ zu sagen. In der Firma und auch im Angelsportverein, wo er alle Ämter niederlegt. Er will nur noch zum Entspannen dorthin, zur Erholung – mit der Familie. Und bald hat er Zeit für seine Familie.

Als Jupp mit seiner Gabi durch die City geht, hört er einen gellenden Pfiff und eine ihm wohlbekannte Stimme, die da: „He, Kardenbach! Komm mal da her, Kardenbach“ ruft.
In diesem Moment hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man überhört es oder man kuscht.
Gabi geht mit dem Kleinen weiter, während Jupp zu den Tischen des Stadt-Cafes schlendert, an dem der Rufer mit einem Unbekannten sitzt.
„Kardenbach“ legt der auch gleich los, „du wolltest doch wegfahren! Da bist du aber nicht weit gekommen, nicht?“
Jupp erwidert: „Kann es sein, dass mein Betriebsleiter mich eben zu sich gepfiffen hat?“
Herr Zuck kann seine Freude über Jupps Ärger nur schlecht verbergen.
“Du musst morgen zu einem Kunden, eine unserer Maschinen montieren.“
„Wenn ich mich nicht irre, habe ich Urlaub.“

Nun war es so, dass die Verhältnisse in der Firma recht unscharfe Konturen angenommen haben. Nahm man zum Beispiel den Zuck aus der Firma, lief alles wunderbar weiter. Das sah man jedes Mal wenn der in Urlaub oder bei einem Kunden war. Kaum war der aber zurück, begann das Verwirrspiel. Und daran waren bestimmt nicht die Leute schuld. Aber erzähl das mal einer dem Unentbehrlichen! Diese Doppeldeutigkeit half zwar alles besser zu ertragen, aber es drückte auch die Stimmung im Betrieb, und warf ein schlechtes Licht auf diesen Standort.

„Jetzt nicht mehr“ antwortet der große Chef, „alles weitere erfährst du morgen früh in der Firma. Du kannst gehen.“ Dabei macht er eine Handbewegung, als wolle er Mücken verscheuchen.
Jupp denkt nicht daran, und damit wird der Übergang zur dritten Möglichkeit eingeleitet.
Das war er seinem Prinzesschen und seinem Sohn schuldig.
Er sagt: „Die Maschine muss ein anderer aufstellen.“
Diese Antwort gefällt nicht.
„Kardenbach, ich werfe dich raus …“
Gabi ruft: „Jupp, kommst du?“
Jupp dreht sich halb zu ihr und winkt: „Sofort.“ Und dann wendet er sich wieder seinem Chef zu: „Wenn es dich glücklich macht, Limbacher.“

Manchmal wird man in der Firma tatsächlich gebraucht. Aber in der Regel macht man sich mit dem Glauben daran nur selbst froh. Man versucht sich eine unbequeme Tatsache etwas erträglicher zu machen.
Es soll aber auch Leute geben, denen Arbeit tatsächlich Spaß macht. Wobei wieder die Gretchenfrage des normalen arbeitenden Volkes aufgeworfen würde: Leben wir um zu arbeiten, oder arbeiten wir um zu leben?
Jupp hat eine Antwort für sich selbst gefunden.

Das Gesicht seines Chefs wechselt die Farbe: „Mehr Respekt, Kardenbach, mehr Respekt. Seit wann duzen wir uns!“
„Seit eben“ sagt Jupp, und: „Vor wem soll ich Respekt haben? Vor einem der sich von den Leuten Siezen lässt und selbst alle Welt duzt? Vor einem, der mich mitten vor all den Leuten und meiner Familie zu sich pfeift?“
„Glaubst du wirklich, du kannst dir das erlauben? Wovon lebt deine Familie? Ohne mich wärst du doch längst verhungert.“

Jupp hat nichts zu verlieren.
Der Limbacher war auf einen fahrenden Zug aufgesprungen und hatte vergessen eine Fahrkarte zu lösen. Er besuchte Lehrgänge über modernes Betriebsmanagement und dessen Auswirkung ohne überhaupt zu verstehen worum es geht. Trotzdem versuchte er es in diesem Werk umzusetzen und verlor dadurch in der Firmenleitung immer mehr an Ansehen. Das war ein offenes Geheimnis. Und Jupp war lange genug in der Firma um sich anderweitig den Rücken zu stärken.

Er sagt: „Meinst du, nur weil du der Betriebsleiter bist, kannst du dir alles erlauben?“
Es ist am Limbacher nach Luft zu japsen: „Morgen bist du beim Kunden, oder auf dem Arbeitsamt. Und jetzt geh!“
Jupp entgegnet: „Da bin ich aber anderer Meinung! Wenn du der Ansicht bist, dass du mir ans Bein pissen musst, lassen wir Leute zu Wort kommen, die mehr Ahnung von den Dingen haben!“
Wieder wechselt das Gesicht des Vorgesetzten die Farbe.
„Du drohst mir …?“
Jupp schüttelt den Kopf: „Davon kann keine Rede sein. Wenn du willst, klären wir das sofort.“ Jupp holt ein Handy aus der Tasche: „Wen sollen wir anrufen – den Personalleiter im Hauptwerk? Oder den Gesamt-Betriebsrat?“
Der Unterkiefer des Chefs driftet bedenklich dem Boden entgegen: „Wieso hast du ein Handy? Ich denke so was kommt für dich nicht in Frage.“
„Damit du mich nicht erreichen kannst! Aber Denken war noch nie deine Stärke, Limbacher“, sagt Jupp und fühlt sich richtig gut dabei.
Der Limbacher fühlt sich nicht so gut: „Mach dass du wegkommst“, sagt er, „aber wir sprechen uns noch. Das war nicht das letzte Wort!“
Jupp steckte das Handy wieder weg: „Davon bin ich überzeugt, aber das ist dein Problem!“

Niko

Beitragvon Niko » 01.11.2007, 19:22

hab den text jetzt nicht durchgelesen, prosa ist nicht meine dömäne zudem, will mir da nicht wertende urteile anmaßen, aber was ich komisch finde, ist, dass du hier lesergerecht schreibst. wers nicht mit maggi will, dem servier ich das gleiche halt mit sahne? ich finde, entweder hat man eine geschichte so oder anders im kopf. und genau das sollte man dem leser präsentieren. und nicht eine hardcore-variante mit alternativem weichspül-ende.
sach mal einfach so......
lieben gruß: Niko

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.11.2007, 17:01

Wie die Eltern, so die Kinder

Zum Titel: nicht aussagekräftig, macht nicht neugierig und passt auch nicht zum Text.

Der Einstieg in die Geschichte ist zäh und vermischt gleich zwei Fakten: den Beruf des Protags und die kranke Mutter, wobei die kranke Mutter erst mal zu kurz kommt, gleich wieder aus dem Fokus verschwindet und der Beruf des Prots. viel zu ausführlich geschildert wird, noch untermauert von einem Witz über den Chef, der deplaziert wirkt.

Der Autor verliert sich in uninteressanten Details, die das Lesen strapazieren, die Geschichte kommt nicht richtig in Gang.
Der endlich beginnende Dialog zwischen Mutter und Sohn, wie auch die folgenden Dialoge entbehren jeder Lebendigkeit und kreisen immer wieder um das gleiche Thema: "Du kümmerst dich nicht um mich." Der Sohn wirft ihr dasselbe vor, macht es jedoch mit seiner Familie genauso (--> Klischee)

Der Bruder des Prots. wird erwähnt, ich frage mich, warum? Es bringt die Geschichte nicht voran.

Prot. erträgt die jammernde Litanei der Mutter nicht, gibt Contra, um dann nach Hause zu kommen und dort die gleichen Vorwürfe seiner Frau und Tochter zu hören. Ich bin gelangweilt. Wo ist hier das Anregende, das Neue, das Element, das mich dazu bringt, weiterzulesen?

Die Dialoge beginnen meist mit dem kompletten Namen und dann "sagt": ...
So geht es in der ganzen Story. Keine Mimik, keine Abwechslung. Warum wird hier immer der komplette Name genannt?

Zwischendurch wird immer wieder der Druck beschrieben, dem der Prot. durch seinen Chef ausgesetzt ist und als Grund herbeigezogen wird, warum der Prot. sich nicht um seine Familie kümmern kann.
Auch wird dem Prot. sein Hobby vorgeworfen. So, wie er selbst es seinem Vater vorwarf, was aus dem vorherigen Gespräch mit der Mutter hervorgeht. Also auch hier verhält sich der Prot. wie sein Vater. (Klischee: Wie der Vater, so der Sohn)
Die Vorwürfe würden in einem Satz ausreichen, seien es die von der Mutter an den Sohn, den Sohn an die Mutter, der Frau an den Prot. oder der Tochter an den Prot. Aber sie werden viel zu ausgedehnt und wiederholen sich wie eine Repeatschleife.

Schließlich muss etwas passieren, um diesen Kreis zu durchbrechen. Und es passiert etwas. Die Tochter hat einen Unfall. Die Frau des Prots. und er selbst sind besorgt. Der Autor bedient sich erneut eines Klischees: Eine nicht mehr intakte Ehe soll gekittet werden durch ein dramatisches Ereignis des gemeinsamen Kindes.

Völlig unglaubwürdig ist die Reaktion der Mutter des Kindes, als sie sagt: "Kopf hoch, Alter! Das packen wir schon noch."
Es folgt eine kurze, nicht sehr gekonnte Innenschau des Prots., was er hätte besser machen können.
Doch das Kind stirbt. Aus der Geschichte. Denkste.

Der Autor bietet eine Fortsetzung an. Ich denke: Was soll das? Ist dies eine fertige Geschichte oder nicht? Wieso werden mir hier zwei Alternativen angeboten?
Okay, ich lese die Alternative, die keine ist, denn das Kind ist nach wie vor tot. Nur, dass aus dem bisher duckmäuserigen Prot. plötzlich einer wird, der nicht mehr duckt, sondern sich seinem Chef stellt.

Eingeleitet wird jedoch diese "Alternative" von einem Eingriff des Autors, indem er plötzlich aus der Außenperspektive schreibt. Das gehört definitiv nicht dahin.
Zu allem Überdruss stirbt die Mutter des Prots und die Frau des Prots. ist schwanger (wieder Klischee).

Fazit:
Insgesamt ist die Geschichte langweilig und zäh wie Kaugummi. Dialoge sind schlecht aufgebaut. Es wimmelt von Klischees, es fehlen etliche Worte und ca. 50 Kommas.
Kein Lesegenuss und alles andere als eine fertige Geschichte.
Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 03.11.2007, 06:29

Ich kann mich Muckis Krititk in jedem Punkt nur anschließen. Sie hat die Schwachstellen alle sehr gut und genau benannt, sodass man da nichts mehr hinzuzufügen braucht.

Natürlich findet man den ein oder andern guten Ansatz in dem Text. Der Weg zu einer gut erzählten Geschichte ist allerdings noch sehr weit.


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