Kolumne: anne [ah-näh]

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 14.05.2006, 15:02

anne [ah-näh]

Ich lerne jetzt türkisch.
Das ist ganz einfach.
Ich brauche nur das Fenster meiner Schreibkammer zum Innenhof zu öffnen.

Das erste Wort, was ich nun kenne, ist: anne. Gesprochen: ah-näh.
Mein Lehrer ist ein Dreikäsehoch. Er kann das Wort schon prima sagen: ah-näh.

Die Übersetzung ist auch einfach. Sie erschließt sich Einem relativ schnell, man muss nur richtig hinschauen:
Er steht ganz allein im Garten und ruft dieses Wort. In den Himmel.
Nein. In den vierten Stock hinauf, in den vierten Stock eines peinlichgelb gestrichenen Mehrfamilien-Wohngebäudes mit mittlerer Ausstattung und 6-Zimmer-Wohnungen. Pro Zimmer eine Satelliten-Schüssel. Mit 12 geschlossenen Fenstern. Drei davon im vierten Stock. Zu einem von denen spricht er wohl. Ahnäh!

Ich spreche ihm nach: Ahnäh!
Scheint also 'Fenster' zu bedeuten. Falls ich mal irgendwann türkische Bauherren haben sollte, könnte das wichtig werden.
Jetzt er wieder: Ahnäh! Ah-nääh!
Aha: Fenster! Feeen-ster!

AHHHNÄÄÄÄÄH!!!
Oha, das wird lauter. Muss es wohl auch. Das Fenster scheint ihn nämlich nicht zu hören. Oder es spricht kein Türkisch. Es antwortet jedenfalls nicht.

AHHHNÄÄÄÄÄH!!! AHHHNÄÄÄÄÄH!!! AHHH-NÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄHHH!!!
Nun gut, mein Kleiner, die Wiederholung ist zwar das Salz in der Suppe der Pädagogik, aber ich hab´s jetzt verstanden, und in Ruhe telefonieren müsste ich jetzt auch mal.

AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH-NÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄHHH!!!
So ein stures Fenster habe ich aber auch selten erlebt. Der arme Kerl hat schon einen ganz roten Kopf.

AAAAAAAAAAAhhh...
Schließlich hat das Fenster dann doch ein Einsehen und öffnet sich. Na endlich. Ein weißes Tuch mit einem Ballon darin erscheint.
Aha, 'ahnäh' heißt also gar nicht 'Fenster', sondern: Gespenst.
Oder: Vermummter Demonstrant. Vermutlich je nach Betonung.

Die Stimme des Schreihalses wird ganz mild und sagt ganz leise noch einmal: ahnäh.
Das Kind mag also Gespenster oder vermummte Demonstranten. Das ist nett.
Das Gespenst mag aber kleine Kinder nicht. Es beginnt wütend, in seinem unverständlichen Gespenster-Kauderwelsch auf den Knaben einzukeifen, so dass ihm Hören und Sehen vergeht. Nana, tut so was ein anständiges Gespenst? Vielleicht doch ein Demonstrant? Ein unflätiger Anarchist?
Das Fenster schließt sich knarzend, eine Weile lang passiert überhaupt nichts, und dann kommt das Gespenst durch die Kellertüre auf den Hof hinausgeschwebt.

Der Bursche steht nur stumm da und fängt sich eine.

Und jetzt weiß ich es endlich genau:
'Ahnäh' bedeutet auch nicht 'Gespenst'.
Es bedeutet:
Mama.
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 16.07.2006, 11:43, insgesamt 1-mal geändert.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 16.05.2006, 21:43

Lieber Thomas,

Deine kleine Kolumne gefällt mir sehr gut. Sie erinnert mich an meine Jahre in Bochum, als ich in verschiedenen Studenten-WGs in der Hustadt und in Stahlhausen gewohnt habe.

Eine wirklich schöne Zeit. Vor allem, als ich in Stahlhausen eine meiner zahlreichen Abschlussarbeiten schrieb. Unter meinem Fenster spielte sich eine ganze Demonstration ab.

Das lag wohl daran, dass die Kinder gemeinsam auf der Straße spielen sollten, damit die Mutter oder die Eltern ihre Ruhe haben konnten. Wenn die Kinder mal aufs Klo gehen mussten oder keine Lust mehr hatten, draußen herumzulaufen, schrien sie nach ihrer Mutter.

Aus dem Leben gegriffen.

Es grüßt

Paul Ost

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.06.2006, 18:09

Lieber Tom,

was Paul schreibt, stimmt. In Bochum Goldhamme war das ebenso. Allerdings der größte Witz: Auch die deutschsprachigen Kinder versteht man nicht :razz: . Die Worte klingen zumindest genauso wie anne [ah-näh] :cool:

Gerne gelesen,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.06.2006, 13:19

Danke, Ihr Lieben.

Das Lustige ist, dass ich diesen Text einer befreundeten türkischen Familie (mit allerdings eindeutig westlicher Orientierung) vorgelegt habe, und die sind bald vom Stuhl gefallen vor Lachen. Denen geht das Blag der anderen türkischen Nachbarn (mit anderer Orientierung) nämlich auch ziemlich auf den Sack.

Andererseits wurde die Kolumne schon einmal in einem anderen Forum abgelehnt, da sie 'fremdenfeindlich' sei und das Kopftuch als islamisches Glaubensbekenntnis verhöhne.
Auf sowas wäre ich nun wirklich nicht gekommen; das muss ein ziemlich national-verkrampfter Lektor gewesen sein, oder was meint Ihr? Kann man da ernsthaft etwas Fremdenfeindliches draus lesen?

Tom.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 22.06.2006, 13:40

Lieber Tom,
Texte wirken in ihrer Zeit und könne ohne den Kontext nicht rezipiert werden. Stünde dort: ich lerne jetzt "Französisch" oder dergleichen wäre der Text sicher eher nicht als fremdenfeindlich bezeichnet worden, das hat meiner Meinung nach mit Situation in diesem Land zu tun.

Ich finde, es verhält sich hier wie oft in amerikanischen Filmen: In Filmen, in denen zum Anfang eine Gruppe startet (Alien etc.), gibt es immer einen Schwarzen, der stirbt, nach meiner beobachtung, zu 90 Prozent immer als Vorletzter, der Held (alle anderen müssen ja dahingerafft werden) ist aber weiß. Und in kritischen Zukunftsfilmen ist der Präsident immer schwarz. Genau so der Einsatz von Schwulen oder Behinderten...das geschieht fast nach einer Quote wie die Frauenquote am Arbeitsplatz und bezeichnet für mich das immer noch nicht natürliche Verhältnisse zu eben diesen Themen (Schwarze, Behinderte, Frauen, Schwule...etc..). Das Besetzen geschieht nicht zufällig, sondern bewusst: Komm, unser präsident ist mal schwarz!" (statt es am schauspieler fest zu machen etc.)

Wenn nun in deinem Text zufällig (in dem Sinne, dass dieses nervige Kind, dem der Text zugrunde liegt, nun mal türkisch ist) die handlung des textes daran anbindet, dass du türkisch lernst, können viele dies nicht als freie Variable lesen (wie zum Beispiel, ob eine Protagonistin braune oder blaue Augen hat), sondern denken, dass sei EXTRA und es läge ein Grund dahinter. Daher die Vermutungen, denke ich.

Es dauert halt (einige Ewigkeiten) bis etwas (verhalten, etc.) ein natürlicher Teil der Gesellschaft ist....
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 22.06.2006, 14:07

Ja Lisa,

da gebe ich dir völlig Recht. Erstaunlich aber, dass die vermeindlich Betroffenen damit erheblich natürlicher, lockerer und vor Allem humorvoller umgehen als die Birkenstock-Erhobener-Zeigefinger-Pädagogik-Fraktion unserer selbsterklärten Betroffenheits-Elite.

Meinem einen türkischen Nachbarn geht - in Hinblick auf den anderen türkischen Nachbarn - ganz locker der Betitelung "dieser Scheiß-Türke da" - natürlich mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen- über dieselben . Von einem Rolli-Fahrer kenne ich die besten Behinderten-Witze, und einen schwarzhäutigen Musikerkollegen kann ich mit "na, du schwule Niggerbockwurst" begrüßen, und wir lachen uns kaputt. Zu meinem Döner-Mann sage ich: "Ey Alden, machßu mir krassen Döner ey mit Alles!", worauf er mich mit dem korrekten Dativ korrigiert: "Es muss mit AlleM heißen, mein Herr", und die Imbissbude liegt flach auf dem Boden.
Von diesem natürlichen Umgang sind die Protagonisten unseres Betroffenheits-Holocaust-Wiedergutmachungs-Staates noch um Lichtjahre entfernt. Und die ganze Medien-Sippe ebenfalls. Bleibt wieder die ganze Entwicklungsarbeit an uns kleinen Meinungsstiftern hängen. Auf dass uns jemand Gehör schenke.

Zwei Blinde laufen durch die Fußgängerzone.
Der Eine muss niesen.
Sagt der Andere:
"Ey, machze mir auch 'n Bier auf?"


In diesem Sinne,
Tom.


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