Mit dem Kopf auf der Schiene

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 22.05.2006, 20:37

Ich bin die Bahnstrecke hinter Stendal schon einige Male entlanggelaufen. Vom Bahnhof aus muss man noch eine ganze Weile neben einem hohen Zaun hergehen, der nur dem Zweck dient, Menschen davon abzuhalten, die Gleisanlagen zu betreten. Erst ungefähr vier Kilometer hinter Stendal liegt die Schnellfahrstrecke frei. Wie schwarz die Schienen im Dunkel der Nacht aussehen! Links und rechts der Gleise erstrecken sich Felder und dahinter der finstere Wald. Kein Mensch ist mehr zu sehen, obwohl man natürlich immer mit einem Jäger oder einem Spaziergänger mit Hund rechnen muss. Es ist kalt. Mein Atem kondensiert, sobald ich ausatme. Alles ist still. Ich werde noch ein paar Kilometer weiter laufen müssen. Ungefähr zehn Kilometer hinter Stendal erreicht der ICE seine Reisegeschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern. Das wird reichen. Ich laufe und versuche, nicht mehr an sie zu denken. Es ist vorbei. Sie hat mich betrogen und verlassen. Sechs Jahre sind wir zusammengewesen. Wir waren glücklich, meistens jedenfalls.
Es beginnt zu regnen. Kalte, große Tropfen durchweichen meine Cordjacke. Sie war mal schwarz. Meine Haare hängen in nassen Strähnen herunter. Um eine mögliche Erkältung muss ich mir jetzt keine Sorgen mehr machen. Es zählt nur der Augenblick.
Die Stelle hier erscheint mir perfekt für mein Vorhaben. Der Bahndamm ist problemlos begehbar. Ich steige die kleine Anhöhe hinauf, rutsche auf den feuchten Steinen aus, stehe wieder auf. Oben lege ich mich auf den Boden, bette den Kopf auf die Schiene. Zuerst lege ich mich auf den Bauch, damit meine glühende Stirn von dem kalten Metall gekühlt wird, doch nach einer Weile drehe ich mich um und schaue in den Regen. Ich schließe die Augen und warte.

Ich hatte nach meinem Universitätsabschluss keine Stelle bekommen. Ich war arbeitslos und wurde zunehmend verzweifelter. Alle meine Bewerbungen schlugen fehl. In den letzten Monaten hatte ich ein unbezahltes Praktikum in einer Zeitschriften-Redaktion gemacht. Auch hier gab es keine freien Stellen. Sie wohnte in einer kleinen Stadt in Thüringen, seit sie vor zwei Jahren anfing zu studieren. Eigentlich wollten wir zusammen nach Berlin ziehen, doch ihre Bewerbung an der Hochschule der Künste war abgelehnt worden, während ich einen Studienplatz an der Humboldt Universität bekommen hatte.
Ich bin zwei Jahre lang fast jedes Wochenende nach Thüringen gefahren, habe sie dort besucht. Sie hatte meistens etwas für mich gekocht. Freitags war ich ihr noch fremd. Schon am Samstag, wenn wir ein paar Mal miteinander geschlafen hatten, war es wie früher. Wir verließen kaum das Zimmer, schauten fern, kochten ein wenig, badeten zusammen, sprachen miteinander und liebten uns. Am schönsten war der Sonntagabend. Ich musste immer den Zug um sieben Uhr nehmen. Es war der letzte, der noch nach Berlin fuhr. Um fünf Uhr liebten wir uns und dann bat sie mich, für immer zu bleiben. Ich konnte nicht bleiben, das wusste sie ebenso gut wie ich. Sie war zärtlich und strich mir über das Haar. Dann ging ich allein zum Bahnhof.

Eine andere Möglichkeit, mich zu töten, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Die Entfernung hatte uns auseinander gebracht. Die Entfernung und meine Arbeitslosigkeit. Während ich den heißen August über an einem Computer saß und ohne Bezahlung Texte schrieb und redigierte, war sie auf eine Exkursion nach Frankreich gefahren. Dort hatte sie einen anderen kennen gelernt. Sie schrieb mir keine Briefe, rief mich nicht an und verlängerte ihren Aufenthalt in Frankreich noch um eine Woche, um bei der Weinlese mitarbeiten zu können. Ich hatte im August Geburtstag. Ich war krank und lag in meinem dunklen Hinterhauszimmer auf meiner Matratze, als sie mich anrief, um mir zu gratulieren. Natürlich merkte ich, dass etwas nicht stimmte, aber was sollte ich machen? Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, wie verzweifelt ich war und dass ich schon wieder zwei Absagen in meinem Briefkasten gehabt hatte. Ausgerechnet an meinem Geburtstag. Sie stand in einer Telefonzelle. Das Gespräch war schnell vorüber, denn der Automat fraß viel Geld. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon mit dem anderen geschlafen und gemerkt, dass das Leben ohne mich viel schöner sein konnte als mit mir.
Zehn Tage später kam sie nach Berlin, stellte mir als verspätetes Geschenk drei Flaschen Wein auf den Tisch und machte mit mir Schluss.
„Ich habe unsere Beziehung kaputt gemacht“, waren ihre Worte.
Ich lief aus der Wohnung, kam zurück, bat sie, mir zu erklären, was geschehen war, verzieh ihr, bat sie, mich nicht zu verlassen, drohte ihr, trank den Wein, zerschlug ein Bild und tobte. Sie zog ihre schwarze Lederjacke an und ging zur Tür. Auf die Frage, ob sie ihn wiedersehen wolle, sagte sie nur.
„Ich weiß nicht.“
Heute Abend habe ich vom Bahnhof Stendal aus bei ihr angerufen. Ich hatte eine Telefonkarte mit einem Guthaben von zehn Euro. Ich sagte ihr, dass ich ohne sie nicht leben kann und dass dies unsere letzte Chance sei.
„Ich bin nicht allein. Ruf morgen noch einmal an“, sagte sie und legte auf.
Ich wählte immer wieder ihre Nummer, sprach auf ihren Anrufbeantworter. Sie nahm den Hörer nicht mehr ab. Als das Guthaben verbraucht war, machte ich mich auf den Weg.

Wir hatten uns in elf Städten geliebt. In Hamburg, Berlin, Weimar, Paris, Amsterdam, Oerlinghausen, Verona, Essen, Dublin, Cork und London. Wie oft hat man in sechs Jahren miteinander Sex? Bevor ich nach Berlin ging und sie nach Weimar, liebten wir uns fast jeden Tag. Haben wir fünfhundertmal miteinander geschlafen oder tausendmal? Ich denke an ihre langen weichen Haare, die sie je nach Laune schwarz, rot oder blond färbt. Ich denke an ihren Blick, als sie mir sagte, dass es vorbei sei. Von dem unaufhörlichen Regen ist meine Kleidung mittlerweile völlig durchnässt. Ich denke an einen Tag in Verona, als wir aus einem Museum kamen und keinen Regenschirm dabeihatten. Wir waren klatschnass, als wir im Hotel ankamen. Es war noch früh am Nachmittag. Im Haus herrschte geschäftiges Treiben. Über die Via XX Settembre rasten die frisierten Mofas. Wir hatten ein Zimmer zum Innenhof. Vom Bett aus konnte man die Wäsche sehen, die die Bewohner des Hauses zum Trocken aufgehängt hatten. Die Leinen waren über den Hof gespannt. Irgendwo spülte jemand Geschirr. Wir zogen uns die nassen Kleider vom Leib und liebten uns den ganzen langen Nachmittag.

Ich muss eingeschlafen sein. Meine Glieder sind völlig steif. Mir ist unglaublich kalt. Ich zittere am ganzen Leib. Ich schaue auf die Uhr. Der Zug hätte schon vor einer Stunde meinen elenden Schädel zertrümmern sollen. Es war der letzte Zug. Ich muss wieder zurück zum Bahnhof gehen.

Nur in Brandenburg gibt es auf Provinzbahnhöfen noch Bahnhofsvorsteher. Der von Stendal wohnt sogar im Bahnhofsgebäude. Ich klingle ihn wach.
„Wo war der ICE nach Düsseldorf?“
Er schaut mich an, als hätte er einen Geist gesehen.
„Der Zug ist ausgefallen. Personenschaden zwischen Zoo und Spandau.“
Zuletzt geändert von Paul Ost am 23.05.2006, 21:11, insgesamt 1-mal geändert.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 23.05.2006, 03:21

Bei solchen Texten immer zuerst meine Frage: erlebt oder fiktiv?

Davon unabhängig: Bisschen zuviel Sex, aber ansonsten: Wow!!! da hat man echt was dran zu knacken. Tiefgang.

Tom.

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 23.05.2006, 09:03

Hallo Paul,

schwere Kost, sehr gut geschrieben. Du kannst dich wohl prima in andere Menschen reinversetzen.

Trennungen und Sex haben in dieser Beziehung die Hauptrolle gespielt, so kommt es jedenfalls rüber. Da dürfte es normal sein, dass sich der Prot. daran verstärkt erinnert, während er auf den Zug wartet.

Liebe Grüße
Marlene

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 23.05.2006, 14:47

Hallo ihr beiden,

ich bin - leider - ausgebildeter Literaturwissenschaftler, deshalb darf ich aus Gründen meiner Berufsehre nicht mit persönlichen Erlebnissen argumentieren. Thomas, Du wärst da ein anderer Fall, vielleicht, weil Du was Ordentliches gelernt hast.

Aber natürlich steckt in allem, was man so schreibt auch ein bisschen von der eigenen Lebenswelt. Ich kann mir aber zum Beispiel nicht vorstellen, dass es in Stendal tatsächlich einen Bahnhofsvorsteher gibt.

Ihr seid der Meinung, dass da zuviel Sex drin ist? Also, wenn ich mir überlege, was eine Freundschaft zu einer Frau von einer Liebe zu einer Frau unterscheidet: Sex. Woran mache ich Untreue fest? Sex. Was sind für mich Momente des Glücks? Sex? Natürlich sind da auch noch andere Dinge. Aber irgendwie ist das dennoch wichtig.

Mit Leonie hatte ich übrigens eine kleine Diskussion über geschlechtsspezifisches Schreiben. Wahrscheinlich erkennt man deutlich, dass ich ein Mann bin, wenn man solche Texte liest. Komisch, dass sich zu diesem Thema noch kein Literaturwissenschaftler geäußert hat.

Aber was denken andere Leser darüber?

Grüße

Paul Ost

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leonie
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Beitragvon leonie » 23.05.2006, 18:36

Ja, Paul Ost, das erkennt man sehr deutlich!! Grins...Aber nicht nur am vielen Sex. Auch zum Beispiel an der Methode des versuchten Suizids. Frauen wählen eher „weiche“ Methoden.
Ich könnte mir auch vorstellen, dass eine Frau sich noch an andere gemeinsame Erlebnisse als die Anzahl der Beischläfe erinnern würde. An romantische Situationen etwa. (Aber mancher Mann vielleicht auch)

Ich werde mal in Zukunft beim Stöbern im Salon darauf achten, woran sich das Geschlechtsspezifische sonst noch so festmacht.

Mir ist es nicht unbedingt zuviel Sex in der Geschichte, aber die Beziehung scheint mir vom Protagonisten zu sehr auf Sex reduziert zu werden...Wie Du sagst, gibt es da noch andere Dinge, aber die tauchen kaum auf...

Viele Grüße

leonie

Unterscheiden sich Freundschaft und Liebe zu einem Menschen anderen Geschlechts wirklich nur durch Sex???? Da muss ich noch mal drüber nachdenken.


Hier noch ein paar sprachliche Anmerkungen:

Ich bin die Bahnstrecke hinter Stendal schon einige Male entlanggelaufen. Vom Bahnhof aus muss man noch eine ganze Weile neben einem hohen Zaun hergehen, der dazu (nur dem Zweck) dient, Menschen davon abzuhalten, die Gleisanlagen zu betreten. Erst ungefähr vier Kilometer hinter Stendal liegt die Schnellfahrstrecke frei. Wie schwarz die Schienen im Dunkel der Nacht aussehen! Links und rechts der Gleise erstrecken sich Felder und dahinter der (finstere) Wald. Kein Mensch ist (mehr) zu sehen, obwohl man natürlich immer mit einem Jäger oder einem Spaziergänger mit Hund rechnen muss. Es ist kalt. Mein Atem (wird) kondensiert, (sobald ich ausatme). Alles ist still. Ich werde noch weit (ein paar Kilometer weiter) laufen müssen. Ungefähr zehn Kilometer hinter Stendal erreicht der ICE seine Reisegeschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern. Das wird reichen. Ich laufe und versuche, nicht mehr an sie zu denken. Es ist vorbei. Sie hat mich betrogen und verlassen. Sechs Jahre sind wir zusammengewesen. Wir waren glücklich, meistens jedenfalls.
Es beginnt zu regnen. (Kalte) große Tropfen durchweichen meine Cordjacke. Sie war mal schwarz. Meine Haare hängen in (nassen) Strähnen herunter. Um eine (mögliche) Erkältung muss ich mir (jetzt) keine Sorgen mehr machen. Es zählt (nur) der Augenblick.
Die Stelle (hier) erscheint mir perfekt für mein Vorhaben. Der Bahndamm ist problemlos begehbar. Ich steige die kleine Anhöhe hinauf, rutsche auf den (feuchten) Steinen aus, stehe wieder auf. Oben lege ich mich auf den Boden, bette den Kopf auf die Schiene. Zuerst lege ich mich auf den Bauch, damit meine (glühende) Stirn von dem (kalten) Metall gekühlt wird, doch nach einer Weile drehe ich mich um und schaue in den Regen. Ich schließe die Augen und warte.

Ich hatte nach meinem Universitätsabschluss keine Stelle bekommen. Ich war arbeitslos und wurde zunehmend verzweifelter. Alle meine Bewerbungen schlugen fehl. In den letzten Monaten hatte ich ein unbezahltes Praktikum in einer Zeitschriften-Redaktion gemacht. Auch hier gab es keine freien Stellen. Sie wohnte in einer kleinen Stadt in Thüringen, seit sie vor zwei Jahren angefangen hatte zu studieren. Eigentlich hatten wir zusammen nach Berlin ziehen wollen, doch ihre Bewerbung an der Hochschule der Künste war abgelehnt worden, während ich einen Studienplatz an der Humboldt Universität bekommen hatte. (Könnte man das in einer anderen Zeit erzählen?)
Ich bin zwei Jahre lang fast jedes Wochenende nach Thüringen gefahren, habe sie dort besucht. Freitags war ich ihr noch fremd. Sie hatte meistens etwas für mich gekocht. (Die letzten beiden Sätze würde ich umdrehen, erscheint mir von er Reihenfolge her logischer) Schon am Samstag, wenn wir ein paar Mal miteinander geschlafen hatten, war es wie früher. Wir verließen kaum das Zimmer, schauten fern, kochten ein wenig, badeten zusammen, sprachen miteinander und liebten uns. Am schönsten war der Sonntagabend. Ich musste (immer) den Zug um sieben Uhr nehmen. Es war der letzte, der (noch) nach Berlin fuhr. Um fünf Uhr liebten wir uns und dann bat sie mich, für immer zu bleiben. Ich konnte nicht bleiben, das wusste sie ebenso gut wie ich. Sie war zärtlich und strich mir über das Haar. Dann ging ich allein zum Bahnhof.

Eine andere Möglichkeit, mich zu töten, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Die Entfernung hatte uns auseinander gebracht. Die Entfernung und meine Arbeitslosigkeit. Während ich den heißen August über an einem Computer saß und ohne Bezahlung Texte schrieb und redigierte, war sie auf eine Exkursion nach Frankreich gefahren. Dort hatte sie einen anderen kennen gelernt. Sie schrieb mir keine Briefe, rief mich nicht an und verlängerte ihren Aufenthalt in Frankreich noch um eine Woche, um bei der Weinlese mitarbeiten zu können. Ich hatte im August Geburtstag. Ich war krank und lag in meinem dunklen Hinterhauszimmer auf meiner Matratze, als sie mich anrief, um mir (zum Geburtstag) zu gratulieren. Natürlich merkte ich, dass etwas nicht stimmte, aber was sollte ich machen? Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, wie verzweifelt ich war und dass ich schon wieder zwei Absagen in meinem Briefkasten gehabt hatte. Ausgerechnet an meinem Geburtstag. Sie stand in einer Telefonzelle. Das Gespräch war schnell vorüber, denn der Automat fraß viel Geld. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon mit dem anderen geschlafen und gemerkt, dass das Leben ohne mich viel schöner sein konnte als mit mir.
Zehn Tage später kam sie nach Berlin, stellte mir als verspätetes Geschenk drei Flaschen Wein auf den Tisch und machte mit mir Schluss.
„Ich habe unsere Beziehung kaputt gemacht“, waren ihre Worte.
Ich lief aus der Wohnung, kam zurück, bat sie, mir zu erklären, was geschehen war, verzieh ihr, bat sie, mich nicht zu verlassen, drohte ihr, trank den Wein, zerschlug ein Bild und tobte. Sie zog ihre schwarze Lederjacke an und ging zur Tür. Auf die Frage, ob sie ihn wiedersehen wolle, sagte sie nur.
„Ich weiß nicht.“
Heute Abend habe ich vom Bahnhof Stendal aus bei ihr angerufen. Ich hatte eine Telefonkarte mit einem Guthaben von zehn Euro. Ich sagte ihr, dass ich ohne sie nicht leben kann und dass dies unsere letzte Chance sei.
„Ich bin nicht allein. Ruf morgen noch einmal an“, sagte sie und legte auf.
Ich wählte immer wieder ihre Nummer, sprach auf ihren Anrufbeantworter. Sie nahm den Hörer nicht mehr ab. Als das Guthaben verbraucht war, machte ich mich auf den Weg.

Wir hatten uns in elf Städten geliebt. In Hamburg, Berlin, Weimar, Paris, Amsterdam, Oerlinghausen, Verona, Essen, Dublin, Cork und London. Wie oft hat man in sechs Jahren miteinander Sex? Bevor ich nach Berlin ging und sie nach Weimar, liebten wir uns fast jeden Tag. Haben wir fünfhundertmal miteinander geschlafen oder tausendmal? Ich denke an ihre langen weichen Haare, die sie je nach Laune schwarz, rot oder blond färbt. Ich denke an ihren Blick, als sie mir sagte, dass es vorbei sei. Vo(n de)m (unaufhörlichen) Regen ist meine Kleidung mittlerweile völlig durchnässt. Ich denke an einen Regentag in Verona, als wir aus einem Museum kamen und keinen (Regen)schirm dabeihatten. Wir waren klatschnass, als wir im Hotel ankamen. Es war noch früh am Nachmittag. Im Haus herrschte geschäftiges Treiben. Über die Via XX Settembre rasten die frisierten Mofas. Wir hatten ein Zimmer zum Innenhof. Vom Bett aus konnte man die Wäsche sehen, die die Bewohner des Hauses zum Trocken aufgehängt hatten. Die Leinen waren über den Hof gespannt. Irgendwo spülte jemand Geschirr. Wir zogen uns die nassen Kleider vom Leib und liebten uns den ganzen langen Nachmittag.

Ich muss eingeschlafen sein. Meine Glieder sind völlig steif. Mir ist unglaublich kalt. Ich zittere (am ganzen Leib). Ich schaue auf die Uhr. Der Zug hätte schon vor einer Stunde meinen elenden Schädel zertrümmern sollen. Es war der letzte Zug. Ich muss wieder zurück zum Bahnhof gehen.

Nur in Brandenburg gibt es auf Provinzbahnhöfen noch Bahnhofsvorsteher. Der von Stendal wohnt sogar im Bahnhofsgebäude. Ich klingle ihn wach.
„Wo war der ICE nach Düsseldorf?“
Er schaut mich an, als hätte er einen Geist gesehen.
„Der Zug ist ausgefallen. Personenschaden zwischen Zoo und Spandau.“

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 23.05.2006, 21:18

Liebe Leonie,

herzlichen Dank für die stimmigen Kommentare. Ein paar Vorschläge habe ich übernommen.

Was den Sex angeht... Vielleicht ist das ja das Problem unseres Protagonisten? Vielleicht ist er ja ein bisschen manisch. Möglicherweise würde seine verlorene Geliebte der Kritik an seiner Fixierung zustimmen. Was könnte unser Protagonist dagegen einwenden? Woran ist die Liebe gescheitert? Wenn seine Freundin ihm fremdgeht, dann hat das vielleicht doch etwas mit Sex zu tun?

Und was die Romantik betrifft, vertrete ich den Standpunkt, dass die Via XX Settembre mehr zu bieten hat als so manche Lavalampe.

Immerhin wirft die Geschichte Fragen auf. Das ist gut.

Grüße

Paul Ost

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Beitragvon leonie » 23.05.2006, 23:02

Hallo Paul Ost,

Es ging mir allein um die etwas ungleiche Gewichtung von Sex und Romantik...Wenn es das Problem des Protagonisten ist, muss das natürlich so bleiben. Die Geschichte ist sowieso gut...Nicht nur durch die Fragen, die sie aufwirft...

Gruß
leonie

P.S. Meinetwegen können alle Lavalampen in düsteren Kellern verstauben...

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Beitragvon Lisa » 24.05.2006, 13:49

Hallo Paul,

mir ist das nicht zuviel Sex, weil für mich in solchen Beschreibungen mehr mitschwingt (vorallem Träume)...deshalb lese ich bezüglich dieses Punktes zum Beispiel Irving auch sehr gern. Es kommt dabei aber darauf an, den Liebesspielen einen gewissen Ton zu verleihen und sie nicht einfach aufzuzählen.

Was Männer/Frauen angeht: ich habe das bisher nur bei (meiner Meinung nach bestimmten) Männertypen gelesen...auf diese Art meine ich, dass der Schmerz, der darin mitschwingt, ein männlicher ist...(soweit man das trennen kann).

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 24.05.2006, 16:14

Hallo Leserinnen,

ich hoffe, dass jetzt nicht jeder hier mit einem Foto aufwarten muss, sonst werde ich mich demnächst zu den Lavalampen im Keller gesellen müssen :smile: .

Es geht in dieser Geschichte doch um eine Liebe, die (wörtlich gesehen) auf der Stecke bleibt.

Was die Verarbeitung von Trennungen angeht, ist dieses hier eindeutig, Lisa, die männliche Variante. Dazu gibt es sogar Statistiken. Und ich liebe Statistiken. Lange Beziehungen werden üblicherweise (70%) von Frauen beendet. Dabei ist der Trennungsgrund in den meisten Fällen ein neuer Partner (63%), gefolgt von der Entfernung (17%) oder persönlichen Differenzen (12%).

Es können sich 78% der Frauen vorstellen, mit ihrem Ex-Partner befreundet zu bleiben. Allerdings teilen nur verschwindende 13% der Männer diesen Traum. :shock:

Männer leiden grundsätzlich länger an Trennungen. Durchschnittlich leiden Männer ein Jahr lang; Frauen brauchen üblicherweise nur 3 Monate, um sich von dem Schock zu erholen.

Den ersten Sex mit einem neuen Partner haben Deutsche heutzutage 2 Wochen nach dem ersten Kennenlernen, usw.

Wer keine Statistiken mag oder meinen Angaben nicht traut, darf sich zu einem gesunden Verstand gratulieren. Ich habe sie aber ausnahmslos aus modernen Frauenzeitschriften zusammengestellt. Sie mögen zwar unzureichend sein, aber sie werden "gelesen" und bilden einen "Trennungsdiskurs der Liebe". Früher wurde pathologisiert, wer sich trennte, heute ist unnormal, wer sich nicht trennt.

Beste Grüße

Paul Ost

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Beitragvon Lisa » 24.05.2006, 16:55

Hallo Paul,

ich verstehe nicht ganz, was du mit den Statistiken in Bezug auf deinen Text aussagen willst :-$ Unterhaltsam sind sie aber allemal. Vorallem für jemanden, der keine Ahnung vom Trennen hat.

Widersprochen habe ich dir doch nicht, oder?

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 24.05.2006, 19:46

Liebe Lisa,

ich war einfach noch beim Thema der geschlechtsspezifischen Kommunikation.

Grüße

Paul Ost

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Beitragvon Lisa » 25.05.2006, 11:52

Hallo Paul,

mir ist gestern abend eingefallen, dass, lasse ich mich mal auf meine in mir geisternden Statistiken ein, das männliche an diesem Text (und eben auch z.B. bei Irving) gar nicht der viele Sex, sondern das wie des Sex ist...nämlich die WIEDERHOLUNG...das ist das männliche und darin líegt meiner Meinung die männliche Schwermut, die erzählt wird.

Es gab da mal einen Film:

Originaltitel: L'Ennui (schrecklich ins Deutsche übersetzt in Liebe, Sex und Leidenschaft :sleepy5: )


Nach dem Roman "La Noia" von Alberto Moravia - Eine der großen, erotischen Liebesgeschichten der Weltliteratur: "Ich habe die Liebe aufgegeben", sagt der junge Philosoph Martin. Von seiner Ehefrau getrennt und vom Leben gelangweilt, beginnt er eine Affäre mit der jungen Cécilia. Das anfänglich harmlose Abenteuer zwischen dem Denker und dem scheinbar naiven Mädchen entwickelt sich zusehends zu einer "amour fou": Er will sie besitzen und erniedrigen, sie entzieht sich und betrügt ihn. Martin verfällt ihr immer mehr, bis sein Leben total außer Kontrolle gerät.


Quelle: http://www.zelluloid.de/filme/index.php3?id=11047

In diesem Film wird meiner Meinung (allerdings ist es Jahre her, dass ich ihn gesehen habe, vielleicht idealisiere ich das auch) in deutlichster Weise der Mann und seine Not, der männliche Schwermut, des Wiederholens gezeigt...ganz ganz unglaublicher Film...


Viele Grüße,
Lisa

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 25.05.2006, 12:54

Hallo Lisa,

ich kenne den Roman und den Film. Wie es der Zufall so will, diskutierte ich schon vor Jahren mit meiner babylonischen Baumeisterin darüber. Wir haben wohl einfach zuviel miteinander gesprochen...

Du hast da wohl den Freud in uns Männern entdeckt. Hast Du schon sein "Jenseits des Lustprinzips" (1920) gelesen? Als Literaturwissenschaftlerin ist das ja fast Deine Pflicht. Daraus:

"Es bleibt genug übrig, was die Annahme des Wiederholungszwanges rechtfertigt, und dieser erscheint uns ursprünglicher, elementarer, triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip. Wenn es aber einen solchen Wiederholungszwang im Seelischen gibt, so möchten wir gerne etwas darüber wissen, welcher Funktion er entspricht, unter welchen Bedingungen er hervortreten kann und in welcher Beziehung er zum Lustprinzip steht, dem wir doch bisher die Herrschaft über den Ablauf der Erregungsvorgänge im Seelenleben zugetraut haben."

Freud kommt im Folgenden auf den Todestrieb, der damit gewissermaßen als Konsequenz des Lustprinzips erscheint. Ich bin mir sicher, dass Moravia auch ein Freud-Fan war.

Grüße

Paul Ost

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Beitragvon Lisa » 25.05.2006, 13:03

Hallo Paul,

ich werde meiner Pflicht nicht nachkommen und trotzdem mal in der preiswerten Gesamtauflage in meinem Regal nachlesen, das klingt sehr spannend! :smile:

Freud kommt im Folgenden auf den Todestrieb, der damit gewissermaßen als Konsequenz des Lustprinzips erscheint.


Ja, dazu passt bestimmt auch Kierkegaards Werk: "Die Wiederholung" (Thema auch in Entweder/Oder).

Ich werde es lesen.

Ist das Buch von Moravia nach dem Film noch lesenswert? Leider sah ich den Film zuerst.


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