Auszug aus einem Roman - Kapitel: Ulm

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Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 16.05.2006, 22:07

Liebe Leute im Forum. Das ist jetzt ein wenig gewagt. Ich weiß auch nicht, ob ich so einen langen Text hier hineinstellen darf. An vielen Stellen steht er noch in der vorletzten Rechtschreibung. Es ist so eine Art Jünglingswerk. Mich würde aber interessieren, ob ihr das Kapitel lesenswert findet, oder lieber von solchen Dingen verschont bleiben wollt?

Ulm

Als unsere Zeit als Straßenmusikanten zu Ende gegangen war, stürzte ich in ein Loch. Tiefe Verzweifelung. Ich hasste die Stadt, in der ich lebte, mit meinem besten Freund hatte ich mich zerstritten und meine Freundin hatte ich mehrfach betrogen und vor den Kopf gestoßen. Es war einer der ersten Tage im September. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Die meiste Zeit lag ich auf meinem Bett, starrte Löcher in die Decke und rauchte endlos viele Zigaretten. Nur wenn es absolut nötig war, verließ ich meine hässliche Einzimmerwohnung und ging zum Zigarettenautomaten, der direkt neben der Haustür hing, oder in den Supermarkt, um mir Kaffee, Brot und Käse zu kaufen. Zu meinen Eltern konnte ich auch nicht gehen, denn die waren noch im Urlaub. Es schien mir, ich sei der gottverlassenste Mensch auf dem Planeten. Nachts streunte ich manchmal durch die Straßen, schaffte es aber kaum über das Südviertel hinaus, ohne unendlich müde zu werden.
Dann, an einem trostlosen Abend, es war ungefähr zehn Uhr, klingelte mein Telephon. Erschrocken zündete ich mir eine Zigarette an und nahm den Hörer ab. Es hatte mich schon seit Wochen niemand mehr angerufen.
„Paul Osterkamp“, sagte ich mit rauer Stimme, denn mein Zigarettenkonsum hatte alle Grenzen des gesundheitlich Vertretbaren überschritten.
„Hallo, hier ist Friedericke. Was macht die Musik?“
„Friedericke?“
„Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr an mich? Das sieht dir ähnlich. Du hast gewettet, dass ich dich nicht anrufen würde und jetzt tue ich es, und du weißt nicht mal mehr, wer ich bin.“
„Doch, du bist das wunderschöne Mädchen, das im Zug von Regensburg nach Augsburg so versonnen aus dem Fenster geschaut hat“, sagte ich jede Vorsicht vergessend.
„Danke für das Kompliment. Was macht die Straßenmusik?“
„Oh, ich bin wieder in Essen. Falls ich jemals gesagt haben sollte, dass Hamburg die letzte Stadt sei, dann nehme ich das hiermit zurück. Essen ist weit schrecklicher. Außerdem ist der Sommer vorbei. Über dem Ruhrgebiet liegt das übliche Tiefdruckgebiet und ich langweile mich zu Tode.“
„Hier in Ulm ist das Wetter richtig schön“, sagte Friedericke und sie schien mir durch das Telephon zu lächeln. Ulm. Das klang so verheißungsvoll. Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn.
„Was hältst du davon, wenn wir morgen zusammen frühstücken“, fragte ich sie einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Ja, das wäre schon eine nette Idee, aber das wird wohl kaum gehen, denn immerhin liegen zwischen uns ungefähr vierhundert Kilometer“, warf sie ein. Ihre Stimme klang selbstbewusst, tief und weich.
„Aber würdest du denn gerne morgen mit mir frühstücken?“ fragte ich sie noch einmal.
„Nun, im Prinzip hätte ich nichts dagegen“, sagte sie zögerlich.
„Gut, dann rufe ich dich morgen früh an, wenn ich in Ulm bin. Dann kannst du mir sagen, wie ich zu dir kommen kann, okay?“
„Ja, wenn du meinst.“
„Also, bis morgen dann.“
„Gute Nacht“, sagte sie und ich legte auf. Als nächstes griff ich meinen Rucksack, warf wahllos ein paar T-Shirts und Socken hinein, holte meine Zahnbürste aus dem mickrigen Badezimmer, packte noch zwei Bücher ein – eins davon war eine ältere Rowohlt Ausgabe der Erzählungen Musils – und machte mich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Ich hatte noch eine Fahrt auf meiner Straßenmusikertour-Fahrkarte und die musste ich auch so einsetzten, wie es sich für einen ungebundenen Stadtmusikanten gehörte. Ich würde Essen verlassen und morgen mit einem melancholischen Mädchen mit braunen Haaren frühstücken. Der Regen durchnässte meine Kleidung, als ich zum Hauptbahnhof lief, aber ich war der glücklichste Mensch auf der Welt.
Ich lief über die Freiheit in den Bahnhof, ignorierte alle Junkies, Dealer und Schlepper, die um dieses Uhrzeit noch sehr aktiv waren, und stürmte schnurstracks auf den Service-Point zu, an dem ein knurriger Mann mit einem Schnurbart saß und feindlich alle Reisenden musterte. Er hatte sich hinter dem hohen Tresen verschanzt, als hieße der Begriff „Service“ auf seinem Arbeitsplatz so viel wie Militärdienst.
„Ich muss so schnell wie möglich nach Ulm“, rief ich ihm atemlos entgegen.
„Wann wollen Sie denn fahren?“, fragte er misstrauisch zurück.
„Jetzt natürlich. Ich muss morgen früh in Ulm sein.“
„Wollen Sie denn mit einem ICE fahren?“
„Nein, ich will nach Ulm.“
„Haben sie eine Bahncard?“
„Ja. Ich habe auch schon eine Fahrkarte. Sie verkaufen doch hier auch gar keine Fahrkarten. Ich will wissen, wie ich jetzt nach Ulm kommen kann.“
„Ach so“, murmelte er und tippte etwas in seinen Computer.
„Wenn sie sich beeilen, dann bekommen sie den Zug auf Gleis 4, der fährt um 22.45 los und ist morgen früh um fünf in Ulm.“
Bevor er mir noch weitere Alternativen nennen konnte, sprintete ich los und erreichte gerade noch diesen Nachtzug, der offensichtlich im Schritttempo die Strecke abfahren würde.
Ich setzte mich zu einer Gruppe von italienischen Rucksacktouristen ins Abteil. Es waren zwei Typen und ein sehr hübsches Mädchen, die allerdings nicht sehr gesprächig waren. Ich schaltete daher die Lampe über meinem Sitz an und las in Musils Erzählungen. Ich weiß den Titel der Erzählung, die ich las, nicht mehr genau, aber es war die Geschichte von einem Ritter, der eine portugiesische Edelfrau zu sich holte, die dann allerdings mit dem rauen Klima im Land des Ritters nicht zurechtkommt. Meine italienischen Mitreisenden waren schon nach kurzer Zeit eingeschlafen. Ich hatte nur kurz auf Englisch gefragt, ob sie das Licht störe, aber sie hatten mich nicht verstanden. Auch als ich versuchte, meine Frage auf Italienisch zu formulieren, war mir nicht ganz klar, ob sie begriffen, worum es ging.
Als ich nach einiger Zeit das Buch zur Seite legte, fiel mein Blick auf meine schlafenden Mitreisenden. Sie hatten sich aneinandergelehnt und schliefen vertraut beieinander wie eine paar junge Katzen. Mir kam in den Sinn, wie merkwürdig meine Situation war, denn ich fuhr zu einem Mädchen, das ich nur einmal kurz getroffen hatte. Was erhoffte ich mir von dieser Begegnung? War es nur ihre Attraktivität, die mich dazu brachte zu ihr zu reisen oder wollte ich mir beweisen, dass es mir auch ohne Bastians Hilfe gelang, eine Affäre zu haben? Vielleicht war diese Fahrt mein Gesellenstück und ich würde nachher in der ars vitae mit ihm gleichziehen. Ich nahm mir fest vor, die richtigen Zutaten für ein Frühstück für sie einzukaufen, war allerdings etwas besorgt darüber, dass sie möglicherweise gar nicht an meinen Besuch geglaubt hatte. Würde sie mich überhaupt erwarten? Oder würde ich morgen allein in Ulm am Bahnhof stehen, in einer Stadt, in der ich niemanden kannte? Im Fenster spiegelte sich mein Gesicht: ich sah müde aus. Ein junger Mann mit nur leichtem Bartwuchs, langen Haaren und blauen Augen. Da ich kurzsichtig war, aber nur ungern eine Brille trug, kniff ich die Augen immer ein wenig zusammen. Kuno hätte gesagt, ich sähe aus wie ein halbblinder Maulwurf, aber Melanie behauptete, der Blick wirke auf sie arrogant, wie das Starren eines überheblichen Gelehrten, den die weltlichen Dinge schon lange nicht mehr interessieren. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob ich Friedericke überhaupt wiedererkennen würde. Irgendetwas an der Art, wie sie im Zug gestanden und eine Zigarette geraucht hatte, war auf eine schwer in Worte zu fassende Weise speziell gewesen. Vielleicht war es auch die Abwesenheit von jeglicher Bedeutung, nicht etwa die Bedeutungslosigkeit, sondern das ungeschützte Angebot einer Projektionsfläche für meine Gefühle und Ängste. Ich dachte an Milan Kunderas Theorie von der beschränkten Anzahl von Gesten, die auf eine potentiell unbegrenzte Anzahl von Menschen verteilt worden waren. Bei wem hatte ich diese Art, am Zugfenster zu stehen und eine Zigarette zu rauchen denn schon einmal gesehen? War es nur die scheinbare Unerreichbarkeit der unbekannten Frau, die mein Interesse geweckt hatte? Bisher hatte ich nur die Mädchen für mich begeistern können, denen mein Interesse gerade nicht gegolten hatte. War meine Aufmerksamkeit abstoßend und meine Gleichgültigkeit aufreizend?
Ich wurde von meinen italienischen Mitreisenden geweckt, die in Stuttgart aussteigen wollten und ihre Sachen zusammensuchten. Ich war müde und fror ein wenig, denn ich hatte vergessen, eine Jacke mitzunehmen. Ich trug nur das blau-weiß gestreifte Arbeiterhemd des Vaters meiner Freundin, darunter ein T-Shirt. Der Himmel war noch dunkel und auch ein wenig diesig. Als ich in Ulm ausstieg, war es unglaublich kalt. Ich ging, da es noch viel zu früh war, um Friedericke anzurufen, ein paar Schritte in die Fußgängerzone hinein, bis ich an einen Brunnen kam, an dem ich mir die Zähne putzte. Ich wollte verhindern, sie sogleich durch meinen schlecht riechenden Atem abzuschrecken. Würde ich sie wohl küssen können? Ich lief ein wenig durch die Fußgängerzone und genoss die Unsicherheit darüber, wie es heute weitergehen könnte. Es war ungefähr sechs Uhr, ich konnte also zum Bahnhof zurückgehen und dort einen Kaffee trinken. Da ich nun in Süddeutschland war, kaufte ich mir eine überregionale Tageszeitung und las einen Artikel über 44 Marschflugkörper, die die Amerikaner auf den Irak abgeschossen hatten, weil dieser Soldaten in die nördlichen Kurdengebiete geschickt hatte. Ein anderer Artikel setzte sich ausführlich mit der Frage auseinander, warum sich Lady Diana und Prinz Charles vor einigen Tagen hatten scheiden lassen. Neben Prinzessin Leia Organa war sie die Traumfrau meiner Kindheit gewesen, seit sie 1981 den komischen britischen Thronfolger mit den Segelohren geheiratet hatte. Ich war damals gerade mit meinen Eltern in Wales, als die Hochzeit auf allen Fernsehkanälen lief, und verbrachte den Rest der Ferien damit, auf den elenden Prinz eifersüchtig zu sein, der mir die schöne Prinzessin weggeschnappt hatte. Warum hatte ich mich als Kind so für diese merkwürdige Frau mit den wasserstoffblonden Haaren begeistern können? Prinzessin Leia war wenigstens schlagfertig und ließ sich auch von einem pistolenschwingenden Wookietreiber nichts sagen. Ein Jahr später hatte Nena ihren ersten großen Hit "Nur geträumt", und von da an waren die beiden Prinzessinnen in der Kathedrale meines Herzens auf Platz zwei und drei gerutscht. Meine Zigarette hatte sich von alleine geraucht, während ich auf das Photo der ehemaligen britischen Prinzessin schaute. Im Radio lief ein Song von Aerosmith: I was crying when I met you, now I am trying to forget you. Your love is sweet misery. Es war nun kurz vor neun Uhr und ich wollte Friedericke unbedingt früh anrufen, denn ich hatte großen Hunger. Also verließ ich das Bahnhofscafé und ging zu den Telephonzellen. Glücklicherweise hatte ich einige Groschen gesammelt, so dass ich nun genug Münzen hatte, um sofort zu telephonieren. Mit dem Hörer in der Hand rutschte mein Herz in die Hose. Bastian hätte keine Angst gehabt, sich zu melden. Ich wählte mit zitternden Fingern die Nummer und zählte wie das Telephon fünfzehnmal klingelte. Ich fürchtete schon, sie sei nicht da, als ich plötzlich ihre verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.
„Ja“, murmelte sie ärgerlich.
„Hallo Friedericke. Hier ist Paul. Ich wollte dich fragen, ob du zum Frühstück lieber Erdbeeren oder Weintrauben haben möchtest?“
„Wer ist da?“
„Paul. Wir wollten doch zusammen frühstücken.“
„Wo bist du denn?“
„Ich bin in Ulm am Bahnhof. Wohnst du weit von hier? Muss ich einen Bus nehmen, um zu dir zu kommen?“
„Was machst du denn in Ulm?“
„Wir haben doch gestern abgemacht, dass ich zum Frühstück komme. Fehlt dir irgendetwas? Vielleicht Kaffee oder Brötchen.“
„Ich hab’ keine Brötchen hier. Aber ich hab’ gedacht, gestern am Telephon, du machst nur Spaß.“
„Es ist sehr kalt hier draußen und ich habe gleich keine Groschen mehr. Soll ich jetzt wieder ins traurige Essen fahren, ohne dich auch nur gesehen zu haben.“
„Ich habe gestern Nacht noch ein wenig gekellnert, deshalb bin ich echt müde, entschuldige. Ich wohne direkt hinter dem Bahnhof. Wenn du aus dem Haupteingang rauskommst, musst du nur nach rechts gehen, bis zur Eisenbahnbrücke, die über die Gleise führt. Auf der anderen Seite der Gleise musst du dann nach links gehen, und dann ist es die dritte Straße auf der rechten Seite. Hausnummer 47. Du musst bei Sauer klingeln, das ist mein Mitbewohner.“
„Gut, ich bin gleich bei dir“, sagte ich und legte auf.
In einem türkischen Laden unter dem Bahnhof kaufte ich Erdbeeren, Weintrauben und ein paar Frühstückseier. Dann ging ich zu einer Bäckerei und kaufte drei Brötchen und zwei Croissants mit Schokolade. Als nächstes fiel mein Blick auf einen Blumenladen, in dem ich noch drei rote Rosen aussuchte. Ich wollte nichts unversucht lassen, um sie für mich zu gewinnen. Um nicht allzu früh bei ihr vor der Tür zu stehen, rauchte ich auf der Brücke noch eine Zigarette und schaute einem Intercity hinterher, der Richtung Norden fuhr. Ich war froh, nicht im Zug sitzen zu müssen. Der diesige Frühnebel hatte sich aufgelöst, und die ersten Sonnenstrahlen wärmten meine durchfrorenen Finger.
Ich fand den Weg, ohne mich zu verlaufen, und drückte mit klopfendem Herzen den Klingelknopf. Sie wohnte im vierten Stock, so dass ich völlig außer Atem war, als ich oben ankam.
„Mein Gott. Kannst du nicht weiter unten wohnen. Das macht meine Raucherlunge ja völlig fertig, wenn ich so viele Stufen steigen muss.“
„Komm erst einmal rein. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie du aussiehst.“ Sie musterte mich von oben bis unten. Ich konnte zumindest sagen, dass sie in ihrem weißen Schlabberpulli und den Jeans noch besser aussah als im Zug. Ich hielt ihr die Rosen hin und freute mich darüber, dass sie tatsächlich errötete.
„Wieso hast du mir denn drei Rosen mitgebracht?“
„Na ja“, sagte ich, indem ich ihr in die Wohnung folgte und ihr auch noch die Brötchen in die Hand drückte, „für jedes Brötchen eine.“
„Ja, setz dich schon mal ins Wohnzimmer, ich habe noch gar nicht den Tisch gedeckt.“
Sie schob mich in ein mit freundlichen Ikea-Möbeln ausgestattetes Wohnzimmer und verschwand sofort wieder in der Küche. Ich stellte mich ans Fenster und schaute über die Dächer von Ulm. Es war schon ein gutes Gefühl, wenn man weit oben wohnte. Ein Kaninchen hoppelte an mir vorbei und versteckte sich hinter dem Fernsehschrank, Friedericke war ihm dicht auf den Fersen. Sie kniete sich vor den Fernseher und streckte ihre Hände nach dem flüchtigen Mitbewohner aus. Ihr Pullover rutschte hoch und entblößte einen Streifen weicher Haut. Die Hose spannte sich eng über dem Po. Sie schnappte sich das Kaninchen, nahm es auf den Arm und zog sich mit der freien Hand den Pullover zurecht.
„Könnte ich dir nicht beim Tischdecken helfen?“ fragte ich und gemeinsam ging uns die Vorbereitung schneller von der Hand.
„Wie lange willst du in Ulm bleiben?“ fragte sie, als wir uns das erste Brötchen teilten. Sie schaute mich dabei mit ihren undurchdringlichen braunen Augen an, dass mir heiß und kalt wurde.
„Ich wollte mit dir frühstücken, weiter habe ich noch keine Pläne. Wahrscheinlich hast du ja auch noch etwas anderes vor?“
„Morgen kommt noch meine Mutter zu Besuch, und ich muss noch ein wenig arbeiten, aber ansonsten bin ich frei“, sagte sie und ich wusste nicht, was sie mit damit sagen wollte. War sie frei, zu tun, was sie wollte, oder war sie gebunden durch ihren Freund, ihre Vorstellungen davon, was Attraktivität sein konnte, oder vielleicht durch ihre moralischen Werte? Ich begann damit, auf sie einzureden. Ich erzählte ihr meine gesamte Lebensgeschichte, ich erzählte ihr von Bastian und unseren Freundinnen, ich verurteilte die Ruhr-Universität und bekannte meine bislang uneingestandene Liebe zu Süddeutschland und den Schwaben, denn da waren wir ja schließlich. Sie entgegnete, dass sie aus Ostdeutschland käme, ihre Eltern seien 1983, ungefähr zu der Zeit, als meine Liebe zu Nena am größten war, aus der DDR geflohen und zwar mit ihr im Kofferraum des Autos. Für das Kind hatte es keine Ausreisegenehmigung gegeben. Jetzt lebten ihre Eltern getrennt voneinander. Sie hatte auch noch einen Bruder, aber der war jünger und wohnte noch bei der Mutter, die nicht mehr mit dem Vater sprach. Beide Eltern waren Ärzte, aber sie wollte lieber ihr eigenes Geld verdienen und deshalb müsse sie eben kellnern. Sie hatte gerade ihr Abitur gemacht und wollte nun nach Berlin, um dort an der Freien Universität Kommunikationswissenschaften zu studieren. Während wir sprachen, bewunderte ich sie für ihre Selbstständigkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit. Wenn sie von ihren Plänen sprach, dann war sie sicher, dass alles, was sie wollte, auch funktionieren würde, während ich bei allem, was ich tat, immer Angst hatte zu versagen. Das sagte ich ihr natürlich nicht, denn wenn ich eins von Bastian gelernt hatte, dann, dass man einer Frau nicht gleich beim ersten Frühstück von seinen Ängsten erzählen soll. Nach einer Weile erwähnte sie auch, dass sie einen Freund hatte, der allerdings gerade mit dem Motorrad in Russland unterwegs sei. Ich dachte mir, dass ein Freund, der auf einem Motorrad durch Russland fährt, eine wirkliche Konkurrenz ist, nicht bloß ein langweiliger Mensch, der zuhause sitzt und auf den nächsten Arbeitstag wartet.
„Wolltest du denn nicht mitfahren?“, fragte ich daher mit einer subtilen Perfidität, die ich von meiner Mutter gelernt hatte.
„Ich muss hier arbeiten, um meine Miete zu bezahlen“, erklärte sie mir und ich merkte, dass es besser wäre, sie nicht weiter auf das Thema anzusprechen. Glücklicherweise hatte ich die Schokocroissants mitgebracht, denn sie schien geradezu süchtig danach zu sein und begann, während sie an dem zweiten knabberte, unseren Tag zu planen. Sie müsse noch ein paar Dinge einkaufen, denn sie wolle am nächsten Tag für ihre Mutter einen Kuchen backen, und dabei könne sie mir ein wenig von der Stadt zeigen.
„Wann bist du denn eigentlich losgefahren?“, fragte sie, während wir das Geschirr spülten.
„Gestern, nachdem wir uns verabredet hatten, bin ich zum Bahnhof gegangen und losgefahren“, entgegnete ich und freute mich, dass ich an ihrem Gesicht sehen konnte, wie sehr ihr mein spontaner Entschluss, zu ihr zu reisen, imponierte.
„Dann möchtest du jetzt sicher gerne duschen“, sagte sie.
Sie reichte mir ein paar Handtücher und erklärte mir, dass die Tür nicht abzuschließen sei, aber ihr Mitbewohner sei über das Wochenende bei seinem Freund in München und daher könne ich unbesorgt sein. Niemand würde mich stören. Ich kletterte also in die Dusche und dachte sofort an die Duschszene in Psycho. Ich stellte mir vor, sie habe sich nur deshalb auf meinen Besuch eingelassen, weil sie einen psychischen Schaden hatte und jeden ihrer männlichen Gäste beim Duschen ersticht. Friedericke kam aber nicht ins Badezimmer, so dass ich mich, nachdem ich den Reiseschweiß abgewaschen hatte, fast ein wenig enttäuscht wieder anzog.
Wir verließen gemeinsam die Wohnung und gingen den Weg, den ich gekommen war. Vom Bahnhof aus liefen wir auf den Marktplatz, wo an diesem Tag tatsächlich ein großer Markt war.
„Das hier“, sagte sie und zeigte auf die gewaltige Kirche, die mir schon vom Zug aus aufgefallen war, „ist die größte Kirche Deutschlands. Der Turm ist sogar der höchste Kirchturm in Europa.“
„Wie hoch ist er denn?“, fragte ich und legte meinen Kopf in den Nacken. Die Sonne strahlte am Himmel, so dass ich die Spitze des Kirchturms in dem blendenden Licht nicht sehen konnte.
„Ungefähr 160 Meter. Es dauerte 500 Jahre, bis die Kirche ganz zuende gebaut war“, erklärte sie mir.
„Hier ist die Welt noch in Ordnung“, sagte ich melancholisch.
„Wieso?“, sie hatte eine sehr zarte Stupsnase, wenn sie so sorgenvoll guckte.
„In Essen“, sagte ich nicht zum ersten Mal, „ist das höchste Gebäude der RWE-Turm und damit steht auch fest, welche Religion dort gepredigt wird. Es ist die Stadt der Manager, des Geldes und der Gottverworfenheit.“
„Du bist doch wohl kein Christ?“, fragte sie mit der Sorge in der Stimme, sie könnte sich mit einem missionarisch veranlagten Mormonen eingelassen haben.
„Nein, keine Sorge, ich bin ein Atheist mit einer gerissenen metaphysischen Seite“, sagte ich zu ihr.
„Komm, ich muss für den Kuchen noch ein paar Zutaten kaufen.“
Sie nahm meine Hand und mein Herz tat einen Sprung, als sei sie das erste Mädchen, das jemals meine Hand genommen hätte. Sie zog mich energisch über den Marktplatz und blieb an einem Stand stehen, wo sie die Frühstückseier begutachtete. Anders kann man das gar nicht nennen, denn sie nahm die Eier sorgfältig in die Hand, hielt sie in die Sonne, roch an ihnen, schüttelte sie und balancierte sie auf der Handfläche, um ihr Gewicht abzuschätzen.
„Wie viel kosten die?“, fragte sie die Verkäuferin, nachdem sie eine Minute lang die Ware geprüft hatte.
„Das Stück 30 Pfennige“, sagte diese.
„Zu teuer“, rief Friedericke lachend und zog mich weiter zum nächsten Stand.
„Wenn ich Eier kaufe, gehe ich in den Supermarkt und nehme mir die erstbeste Packung aus dem Regal“, merkte ich an.
„Aber die könnten doch schlecht sein oder angeschlagen“, erwiderte sie und begann an einem anderen Stand dieselbe Prozedur. Hier war sie mit dem Preis einverstanden, so dass wir uns den restlichen Zutaten zuwenden konnten. Ich liebte das Gefühl, von ihr im Schatten des gewaltigen Kirchturms über den Platz gezogen zu werden. Wenn ich in die Sonne schaute, dann musste ich niesen und sie lachte und wünschte mir Gesundheit. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatte, wollte ich sie auf einen Kaffee einladen, aber sie hatte an einen Sekt gedacht. Wir setzten uns also in ein gutbesuchtes Lokal, in dem sie die Kellner gut kannte. Ich trank ein großes Weizenbier, sie bestellte ihren Sekt und während wir in einem fort redeten, rauchten wir Zigaretten. Wenn sie zuhörte und ihren Blick in die Ferne schweifen ließ, dann weiteten sich ihre Augen und sie schaute genauso wie im Zug, als ich sie das erste Mal gesehen hatte.
Am Nachmittag besuchten wir das Café, in dem sie arbeitete und schlenderten anschließend durch das Fischerviertel, über alte Brücken und an Fachwerkhäusern vorbei, die sich malerisch vor der Blau verneigten. In einem urigen Lokal tranken wir noch ein Bier und schauten von einer alten Mauer aus auf die Blau, die hier friedfertig durch die Stadt floss. Irgendwann beschlossen wir, nach Hause zu gehen, um ein paar Nudeln zu kochen. Als wir wieder auf der Brücke standen, die über die Schienen führte, drehte sie sich plötzlich zu mir um und sagte völlig aus dem Zusammenhang gerissen:
„Du darfst dich aber nicht in mich verlieben.“
„Du darfst mir so etwas nicht befehlen, denn in meinem Leben gibt es eigentlich nur zwei Konstanten. Es geschieht immer das Gegenteil von dem, was ich mir wünsche und wenn ich etwas tun soll, dann mache ich immer das Gegenteil“, erwiderte ich und versuchte kühler zu wirken als ich war. In Wahrheit hatte ich mich in dem Moment, als sie mir dies sagte, Hals über Kopf in sie verliebt.
Sie wertete meine Ironie als eine abgeklärte Übereinstimmung, mit ihrem Befehl und ergriff wieder meine Hand, um mich in ihre Wohnung zu führen.
Beim Essen plauderten wir wie zwei alte Freunde, und als wir abgespült hatten, holte sie eine Flasche billigsten Lambrusco hervor, den wir zusammen tranken. Ich schenkte ihr eine Kassette, die ich selbst aufgenommen hatte und die ein ideosynkratisches Gemisch aus Blues, Jazz, Rock und Klassik enthielt, das ihr aber offensichtlich zu gefallen schien. Wir setzten uns auf den Boden und lehnten unsere Rücken an die Heizung. In dem Dämmerlicht, das den Raum erfüllte, sah sie zart und verletzlich aus. Ihr Duft, der mich an Flieder erinnerte, stieg mir in die Nase, und ich spürte, wie mich alles zu ihr hinzog. Ich war allerdings so ängstlich, dass ich einfach immer weiter redete und ihr von meinem Hund erzählte, den ich sehr vermisste, obwohl er sich doch eher zu Frauen hingezogen fühlte. Irgendwann zog sie mich einfach zu sich heran und küsste mich lang und ausgiebig. Ich nahm sie in die Arme und legte sie auf den Teppich, um sie weiter zu küssen. Zwischendurch tranken wir aus der Lambruscoflasche und sie ließ mich den Perlwein von ihren Lippen trinken, was mich noch mehr berauschte als das Getränk selbst. Nach einer Weile putzen wir uns die Zähne und wollten uns schlafen legen.
„Wo soll ich schlafen?“, fragte ich sie, aber sie zog mich einfach in ihr Zimmer. In einer Nische, über der die schwarze Silhouette eines Posaunenspielers angepinselt war, stand ihr Bett.
„Du schläfst bei mir“, legte sie fest. Wir küssten und streichelten uns und als ich ihr das T-Shirt über den Kopf zog, musste ich vor Freude lachen.
„Was ist denn?“ fragte sie.
„Nichts, nur dass du wunderschöne Brüste hast“, sagte ich und klang selbstsicherer als ich war.
„Du kannst mich doch überhaupt nicht sehen, so im Dunkeln“, warf sie ein.
„Hinter dir ist das Fenster“, lachte ich und zog ihr den Slip aus. Sie war feucht und warm, nur an die Kondome hatte ich wieder einmal nicht gedacht. Auch ihr schien Verhütung in diesem Moment völlig gleichgültig zu sein. Vielleicht nahm sie ja auch die Pille und wollte von Aids nichts wissen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich alleine im Bett. Die Sonne schien fröhlich durch das Fenster und Friedericke lärmte in der Küche. Ich erschrak darüber, dass ich gestern tatsächlich mit ihr geschlafen hatte und dachte darüber nach, was das jetzt wohl für Konsequenzen haben würde. Nach einigen Minuten kam sie in das Zimmer und erklärte, dass ihre Mutter bald käme, ich müsse also frühstücken und dann müssten wir Kuchen kaufen, denn gestern sei sie ja nicht mehr zum Backen gekommen.
Friedericke stellte mich ihrer Mutter als einen Freund vor, der zu Besuch sei. Die Mutter nahm mich jedoch während ihrer gesamten Anwesenheit nicht weiter zur Kenntnis. Nur ganz zu Beginn sagte sie zu Friedericke.
„Ich glaube, ich kenne ihn aus dem Fernsehen. Waren er neulich auf Sylt?“
„Ja, sagte ich, ich bin Straßenmusiker und zusammen mit einem Freund habe ich auch ein wenig in Westerland musiziert.“
Danach stürzte sich Friederickes Mutter mit dem Gesicht einer verbitterten Mitvierzigerin in einen ungefähr sechzig minütigen Monolog über ihren nichtsnutzigen Ex-Gatten. Ohne vor mir die geringsten Hemmungen zu haben, sprach sie von einer Abtreibung, von seiner Impotenz, seiner Arroganz, seiner Unfähigkeit, ein guter Liebhaber zu sein, und seiner Sucht nach schnellen Autos und jungen Frauen, die kaum älter seien als seine eigene Tochter. Ich schämte mich in Grund und Boden, schwitzte in einem fort und wünschte mir nichts sehnlicher, als an einem anderen Ort zu sein. Nach einer Stunde konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich sprang auf, sagte schnell auf Wiedersehen und ging zur Tür. Friedericke folgte mir, nahm meine Hand und sagte, sie würde mich gerne am Abend noch einmal treffen, doch jetzt müsse sie sich um ihre Mutter kümmern, die wohl ein wenig hysterisch sei. Ich versprach ihr, sie anzurufen und ging in den Ort, um ein Hotel zu suchen. Es war ein Sonntag, so dass es fast unmöglich war, an ein Zimmer zu kommen. Nach einer Weile begann es zu nieseln. Ich verfluchte mein Schicksal, denn es stand nun fest, dass das schlechte Wetter nichts mit Essen und alles mit mir zu tun hatte. Um nicht völlig durchweicht zu werden, folgte ich einem Schild, das ein Hotel anzeigte und stand auch schon in einem griechischen Lokal, wo gerade eine griechische Großfamilie feierte. Als ich das Restaurant betrat, verstummten die Gespräche an der großen Familientafel und eine matronenhafte Frau mit Schürze fragte, was ich denn wolle. Ich sagte, dass ich gerne ein Zimmer gehabt hätte und tatsächlich gab man mir einen Zimmerschlüssel gegen Vorkasse. Die Toiletten waren auf dem Flur, aber in dem Zimmer selbst gab es eine Dusche, einen Schrank, einen Tisch mit einem Aschenbecher, einen Nachttisch mit einem Aschenbecher und ein Bett. Der Linoleumboden hatte eine scheußliche Färbung verblichenen Gelbs, das mich an Sozialämter denken ließ. Ich öffnete den Schrank und mein Blick fiel auf eine Liste von Verboten:
1. Das Mitbringen und der Verzehr von eigenen Speisen ist verboten.
2. Das Trinken von Alkohl in größeren Mengen ist verboten.
3. Der Betrieb von Stereoanlagen oder Kassettenrecordern ist nach 22 Uhr verboten.
4. Der Besuch von weiblichen Gästen ist verboten.
5. Das Mitbringen von Schusswaffen ist verboten.
6. Das Mitbringen von Haustieren aller Art ist verboten.
7. Das Zimmer muss gegen 9 Uhr morgens geräumt werden oder für einen weiteren Tag bezahlt werden.
8. Die Belästigung der anderen Gäste ist verboten.
Durch das letzte Verbot fühlte ich mich ein wenig sicherer. Ich setzte mich an den Tisch und rauchte eine Zigarette, denn dazu wurde man ganz offensichtlich ermutigt. Meine Nachbarn zur Linken hielten sich offensichtlich nicht an das vierte Verbot oder vielleicht war es auch ein Mann, der einen weiblichen Gast besuchte oder gar ein Ehepaar, das sich gemeinsam eingemietet hatte. Zumindest konnte ich hier schlafen. Ich rauchte noch ein paar Zigaretten und ging dann spazieren. Einige Stunden später rief ich Friedericke an, die sich dafür entschuldigte, dass ich in einem Hotel übernachten müsste, aber sie könne ihrer Mutter nicht erzählen, dass ich bei ihr schlafen würde. Schließlich habe sie einen Freund. Wir verabredeten uns für den späten Abend, und ich lud sie zum Essen ein, das wir in einem urigen Lokal direkt an der Donau einnahmen. Der Keller, in dem wir saßen, war mittelalterlich eingerichtet, und ich genoss es, mein weniges Geld zusammen mit Friedericke für zahlreiche Biere und ein paar Whiskeys zu verprassen. Wahrscheinlich merkte sie an diesem Abend, dass ich keine Lust hatte, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen. Nach dem Essen spazierten wir noch an der Donau entlang und es wurde langsam dunkel.
„Ich würde zu gerne mal dein Zimmer sehen“, sagte sie, die nicht glaubte, dass es in Ulm billige Hotels gäbe.
„In Neu-Ulm kann man ja vielleicht mal für so wenig Geld übernachten, aber in Ulm ist das völlig unmöglich.“
„Es ist mir leider verboten, Frauen mit auf mein Zimmer zu nehmen“, sagte ich in meiner preußischen Ehrlichkeit, die so dumm war, dass es mir noch heute weh tut, wenn ich daran denke.
„Das ist doch aufregend, wenn du mich in dein Zimmer einschmuggelst“, neckte sie mich und fasste mich am Arm.
Es ist für mich heute völlig unverständlich, wieso ich auf dieses Angebot nicht eingegangen bin, aber ich war schon damals päpstlicher als der Papst, was ja bekanntlich eine strafenswerte Angewohnheit ist. In dieser Nacht im Hotelzimmer hatte ich einen erotischen Alptraum, der von da an immer wiederkehrte. Friedericke wollte mich in meinem Zimmer besuchen, aber ich durfte ihr die Tür nicht öffnen, da es mir verboten war. Ich war zwar vor Begierde fast besinnungslos, aber ich musste durch ein Glasfenster in der Tür mit ansehen, wie sie sich einer Horde von Motorradfahrern hingab, die russische Volkslieder sangen und Tullamore Dew tranken. Ich wachte schweißgebadet auf und lauschte dem Berufsverkehr auf der Straße vor dem Hotel. Als ich Friedericke an diesem Tag wieder anrief und sie bat, mich noch einmal am Bahnhof zu treffen, merkte ich, dass ich meine Chance vertan hatte. Im Bahnhofscafé erklärte ich ihr verspätet meine Liebe und malte uns eine gemeinsame Zukunft in Berlin aus. Bastian hätte mir natürlich gesagt, dass das ein grundsätzlich zum Scheitern verurteiltes Mittel war. Eine Frau kann man nicht zur Liebe zwingen, indem man sie bestürmt, sondern nur, indem man gleichsam an ihr vorbeistürmt und nur kurz bei ihr Haltmacht. Das wäre dann Bastians dritte Theorie der Liebe erweitert um die Weisheit, dass man sich an nichts binden solle, was man nicht binnen dreißig Sekunden verlassen könne. Ich redete noch eine halbe Stunde auf Friedericke ein, ließ sie dann aber gehen, denn sie musste noch arbeiten, und setzte mich in den Zug nach Essen. Ich ging direkt in den Speisewagen, der so voll war, dass ich neben einem fetten schwäbischen Geschäftsmann sitzen musste, doch während er für drei aß, trank ich für vier. Dabei schrieb ich einen verbitterten, langseitigen und ausschweifenden Liebesbrief an Friedericke, den ich gelegentlich mit Invektiven gegen den Geschäftsmann unterbrach, wenn dieser zu lesen versuchte, was ich geschrieben hatte. Als ich endlich in Essen ankam, war ich völlig erschöpft und lag einige Tage wie im Koma in meiner Wohnung. Nach ungefähr einer Woche rief ich Friedericke an und fragte sie, ob sie mich wiedersehen würde, aber sie fühlte sich nun zu sehr belagert und verbot mir, mich jemals wieder bei ihr zu melden. Zum Trost las ich einige Gedichte romantischer Dichter und ich entschied mich gegen Shellys Idee "to give the whole ad hominem" und für Byrons "never give all your heart". Wenn ich nie die Frau würde lieben dürfen, die ich wollte, dann würde ich eben die Frauen wollen müssen, die ich nicht liebte.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 23.05.2006, 15:00, insgesamt 2-mal geändert.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 23.05.2006, 21:29

Hallo Tom,

ich lerne mittlerweile bei jeder Korrektur um. Dadurch wächst meine Verwirrung. Wieviel Zeit dabei draufgeht, jede Regel fünfmal nachzugucken. Stell Dir vor, man würde plötzlich die Gesetze der Statik ändern.

... b) parallele gleichrangige Sätze
- Hauptsätze: Das Komma kann aber wegbleiben, wenn die Sätze durch "und", "oder", "entweder ... oder", "weder/nicht/kein/nie ...noch" verbunden sind: Der junge Vater hat sich von der Arbeit freistellen lassen (,) und dem Kind ist es nicht schlecht bekommen.

Quelle: Ernst Bury: Deutsch. Zeichensetzung im Griff. AOL Verlag, 2004.

Einigen wir uns also darauf, dass unsere Regel 2 im Jahre 2004 optinal war.

Es grüßt

Paul Ost

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 23.05.2006, 21:44

Hi Paul, das wusste ich so wirklich nicht, und um ehrlich zu sein, war ich mir vollkommen sicher, sonst hätte ich bestimmt nix gesagt. Danke für deine Mühe, und nix für ungut...

Zum Glück können sich die Regeln der Statik nicht ändern, dann müsste der liebe Gott schon mächtig an der Gravitation schrauben...Dafür gibts jede Woche neues, geltendes Baurecht... es ist ein Kreuz...

Tom.


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