Das Fundbüro

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.07.2008, 09:30

Zweite Fassung

Das Fundbüro


Es beginnt immer auf diese Weise. Die Landstraße, die Gabelung, die Entscheidung für einen Weg und diesmal ist es eine Tür, auf die alles zuläuft.
Sie betritt ein Labyrinth aus Regalen. Als sie sich an den Anblick zu gewöhnen beginnt, kann sie den Mann ausmachen. Versteckt im hinteren Teil des Raumes, in der Aussparung zwischen zwei Regalsystemen, sitzt er an einem großen roten Tisch. Seine Augen scheinen bereits alles gesehen zu haben, mehr als nur einmal und doch spricht Neugier aus seinem Gesicht. Als sie vor seinem Tisch steht, breitet er ein halbes Dutzend Fotos vor ihr aus. Die Gesichter sind ihr allesamt bekannt.

Ihr Herz rast. Die Vergangenheit liegt vor uns, denkt sie, und die Zukunft spielt sich hinter dem Rücken ab.

„Warum zeigen Sie mir das? Woher nehmen Sie das Recht?“
Dem Gesicht des Mannes kann sie nicht ansehen, ob er ihre Worte gehört hat. Sein Ausdruck ist gelassen und freundlich.
„Normalerweise kommen zu mir nur Menschen, die etwas wirklich Wichtiges verloren haben.“
„Ja, ja,“ beeilt sie sich zu antworten, „meinen Ring habe ich verloren. Deshalb bin ich hier.“
Der Mann lächelt und schweigt.
„Hören Sie, aber natürlich ist er wertvoll, der Ring.“
Der Mann deutet auf die ausgebreiteten Fotos:
„Sehen Sie, diese Frau hat ihr Vertrauen verloren, der Mann dort seine Geduld, das Kind hier seine Hoffnung. Was führt Sie zu mir?“
Sie spürt, dass er genau weiß, warum sie hier ist.
Sie schließt die Augen, weil sie nicht mehr weiß, ob sie hier ist um etwas zu finden, und ob sie das Verlorene wirklich zurück will.

Aber es ist nicht ihre Art, Zeit zu verlieren. Sie ist stolz darauf, ihr Leben lang keine Zeit verloren zu haben.
Hinter der Tür, die sie eben geschlossen hat, hört der Mann wie ihre bemüht energischen Schritte immer wieder aus dem Takt geraten, und fügt lächelnd ein weiteres Foto zu seiner Sammlung.



Ursprungsfassung

Das Fundbüro


Es beginnt immer auf diese Weise. Die Landstraße, die Gabelung, die Entscheidung für einen Weg und diesmal ist es eine Tür, auf die alles zuläuft.
Sie tritt ein in ein Labyrinth aus Regalen. Als sie sich an den Anblick zu gewöhnen beginnt, kann sie den Mann ausmachen. Versteckt im hinteren Teil des Raumes, in der Aussparung zwischen zwei Regalsystemen, sitzt er an einem großen roten Tisch. Seine Augen scheinen bereits alles gesehen zu haben, mehr als nur einmal und doch spricht Neugier aus seinem Gesicht. Als sie vor seinem Tisch steht, breitet er ein halbes Dutzend Pässe vor ihr aus. Die Gesichter auf den Fotos sind ihr allesamt bekannt.

Ihr Herzschlag gerät aus dem Takt, wie der Zeiger einer Uhr, der auf einmal rückwärts läuft. Die Vergangenheit liegt vor uns, denkt sie, und die Zukunft spielt sich hinter dem Rücken ab.

„Warum zeigen Sie mir das? Woher nehmen Sie das Recht?“ Sie sieht den Sätzen hinterher, die ohne ihr Zutun dem Mund entweichen und sich in den Regalen auf die leeren Stellen setzen. Dem Gesicht des Mannes kann sie nicht ansehen, ob er ihre Worte gehört hat. Sein Ausdruck ist gelassen und freundlich.
„Normalerweise kommen zu mir nur Menschen, die etwas wirklich Wichtiges verloren haben.“
„Ja, ja,“ beeilt sie sich zu antworten, „meinen Ring habe ich verloren. Deshalb bin ich hier.“
Der Mann lächelt und schweigt. Dann lächelt er nicht mehr und schweigt noch immer.
Die Frau hat das Gefühl jetzt unbedingt etwas sagen zu müssen, um sich selbst zu beweisen, dass ihre Wirklichkeit ebenso stark ist, wie all das Verrückte, was um sie herum geschieht.
„Hören Sie, aber natürlich ist er wertvoll, der Ring.“
Der Mann deutet auf die ausgebreiteten Pässe:
„Sehen Sie, diese Frau hat ihr Vertrauen verloren, der Mann dort seine Geduld, das Kind hier seine Hoffnung. Was führt Sie zu mir?“
Sie spürt, dass er genau weiß, warum sie hier ist.
Sie schließt die Augen und sieht nichts. Nur eine große Leere, ein schwarzes Loch. Jetzt weiß sie nicht mehr, ist sie hier, um etwas zu finden, und will sie das Verlorene wirklich zurück?

Aber es ist nicht ihre Art, Zeit zu verlieren, mit solch sinnlosen Gedanken. Sie ist stolz darauf, ihr Leben lang keine Zeit verloren zu haben.
Hinter der Tür, die sie eben geschlossen hat, hört der Mann wie ihre bemüht energischen Schritte immer wieder aus dem Takt geraten, und fügt lächelnd ein weiteres Foto zu seiner Sammlung
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Zuletzt geändert von Xanthippe am 12.07.2008, 22:32, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 09.07.2008, 21:01

Hallo Elke,

eine gute Geschichte, skurril und berührend. Ich würde mir an manchen Stellen jedoch wünschen, dass sie sich selbst mehr zutraut und sich weniger zurücknimmt, beziehungsweise erklärt.

Die Gesichter auf den Fotos sind ihr allesamt bekannt.

Diesen Satz verstehe ich nicht, das löst sich auch im weiteren Verlauf der Geschichte nicht auf. Und ich habe für mich auch keine Erklärung gefunden, weshalb das wichtig wäre.

Warum sind es am Anfang Pässe, und am Schluss nur ein weiteres Foto zur Sammlung? Die Pässe erwecken bei mir ein wenig den Eindruck, als ob du damit eine falsche Fährte legen wolltest, das stört mich ein bisschen.

Ihr Herzschlag gerät aus dem Takt, wie der Zeiger einer Uhr, der auf einmal rückwärts läuft. Die Vergangenheit liegt vor uns, denkt sie, und die Zukunft spielt sich hinter dem Rücken ab.

Diesen Vergleich finde ich etwas schief, weil die Uhr, wenn sie rückwärts läuft, ja nicht aus dem Takt gerät. Außerdem finde ich das Bild auch sehr verbraucht, deshalb kann es mit dem folgenden für mich nicht mithalten. „die Zukunft spielt sich hinter dem Rücken ab“ gefällt mir sehr.

Sie sieht den Sätzen hinterher, die ohne ihr Zutun dem Mund entweichen...

Den zweiten Teil würde ich weglassen, oder verändern, weil er unlogisch ist, auch wenn er verstehbar ist. Außerdem fände ich auch hier das Bild alleine stärker.

Sie sieht den Sätzen hinterher, die sich in den Regalen auf die leeren Stellen setzen.
Dann lächelt er nicht mehr und schweigt noch immer.

Diesen Satz würde ich streichen, weil er sich irgendwie unbeholfen anhört. Oder versuchen zu verändern, wenn dir das Verstreichen der Zeit wichtig ist.


um sich selbst zu beweisen, dass ihre Wirklichkeit ebenso stark ist, wie all das Verrückte, was um sie herum geschieht.

Das finde ich ganz schade, weil es mich völlig aus der Geschichte rauswirft. Hier nimmt sich die Geschichte selbst ihre Wirkung, oder nimmt sich meiner Ansicht nach nicht wirklich ernst. Diese Erklärung würde ich ganz weglassen.

und sieht nichts. Nur eine große Leere, ein schwarzes Loch.

Das ist mir zu gewöhnlich und sich widersprechend. Warum nicht einfach etwas in diese Richtung:
Sie schließt die Augen, damit sie nichts mehr sehen muss.

Hinter der Tür, die sie eben geschlossen hat, hört der Mann wie ihre bemüht energischen Schritte immer wieder aus dem Takt geraten

Warum trennst du hier nicht? So finde ich den Anfang etwas sehr bemüht.
Sie schließt die Tür. Der Mann hört, wie ihre energischen Schritte immer wieder aus dem Takt geraten.
Dass sie sich um Fassung bemüht, den Schein wahren will, spürt der Leser auch so.

Das Ende gefällt mir sehr.

Auch wenn ich jetzt relativ viel herumgemäkelt habe, sind das letztlich nur Kleinigkeiten, die mir persönlich aufgefallen sind. Vielleicht ist ja was für dich dabei.

Liebe Grüße smile

(Du hast diesen Text nicht in Kurzprosa eingestellt, gibt es dafür einen Grund, ist der Text ein Auschnitt, Teil einer längeren Geschichte?)

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 10.07.2008, 10:25

Hallo Smile,

ich fange mal von unten an, auf Deinen Kommentar zu antworten. Der Text hätte wohl in Kurzprosa gehört, war mein Fehler, ihn hier eingestellt zu haben. :icon_redface:
Und Deine Suche nach Kleinigkeiten hilft mir enorm weiter, Du triffst fast immer den wunden Punkt. Diese Geschichte ist schon sehr alt, ich habe sie lange weggelegt und immer wieder (erfolglos) versucht, sie irgendwie rund zu bekommen. Ich glaube mit Deiner Hilfe komme ich ein gutes Stück weiter.
Mit den Fotos und Pässen hast Du zweifellos Recht, das ist nicht wirklich durchdacht, ich werde da eine stimmige Lösung suchen.
Und mit dem Takt und der rückwärts laufenden Uhr hast Du auch Recht (ich weiß gar nicht, warum ich hier in so bemühte verbrauchte Bilder verfallen bin :sad:

Zitat:Sie sieht den Sätzen hinterher, die sich in den Regalen auf die leeren Stellen setzen.

Das werde ich genau so übernehmen! Genau so wie fast alle der von Dir vorgeschlagenen Streichungen.
vielen Dank für Deine sorgfältige Textarbeit, die mir enorm hilft.
dankbare Grüße
xanthippe


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