Der Regen ist überall nass

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Rala

Beitragvon Rala » 01.07.2008, 21:18

Der Regen ist überall nass

Flach auf dem Boden, regennassen Asphalt in der Fresse, mal wieder. Erneute Prostration vor leeren Götterhülsen. Heul doch, bekommt ohnehin keiner mit. Atemlos, immer noch. Getrieben sein und nicht wissen, wovon, wollen und nicht können, sollte eigentlich vorbei sein jetzt. Du bist nur zu blöd. Hast versucht, gegen den Strom anzuschwimmen, dem Sog der Zukunft zu entkommen. Vergessen, dich selbst und alles, den Druck loswerden, und jetzt? Sinnlose Verschwendung von Zeit und Energie, als hättest du von beidem je zu viel gehabt. Du bist so gottverdammt lächerlich.

Die Kugel rollt gleichmäßig, in gerader Linie auf die 14 zu, schubst sie ins Loch und bleibt liegen. Präzisionsstoß aus eineinhalb Meter Entfernung. Ein Leguan flieht vor dem Regenschauer in die Bar und verschwindet im Dachgebälk. Noch ein Schluck Cristal aus der Dose vor dem nächsten Stoß. Fühlt sich gut an, alles. So einfach. Ich habe meine Ruhe wieder, tiefe Ruhe, und der Kanadier keine Chance. Er wird seine Dollars loswerden und ich kann wieder ein paar Tage leben. Sie fallen immer wieder darauf rein, die Tätowierten mit den Goldkettchen und der deformierten Bauchmuskulatur: Ein Mädchen aus Niederbayern, where the fuck is Need-a ... what?, ha, die schaff ich doch mit links. Dumme kleine Touristin, dümmer als ich. Alles Kulisse hier, und sie fallen drauf rein, das System nur noch Aufschrift auf Häuserwänden, Straßentafeln, Touristen-T-Shirts, leere Läden gaukeln vor, was längst vom blühenden Schwarzmarkt unterwandert wird, ein Schulfach und offizielles Feindbild für offizielle Gegner. Sie finden es romantisch hier, die Touristen im Kommunismus-Erlebnispark, der nur dank ihrer Kapitalisten-Dollars überleben kann, nur mal gucken, ist doch gar nicht so schlimm hier, gibt doch Sonne Palmen Strand, was willste mehr. Holguín, siempre adelante. Zu Hause dann Sonnenbrand und T-Shirt vorführen, hey, war dort, habs überlebt, echt cool. Sie fallen drauf rein, ich schaffe Ordnung auf dem löchrigen grünen Filz, schlage ihre Männerehre blutig, wohl das einzige Urlaubserlebnis, von dem sie niemandem erzählen werden.
Später wieder mal im nachtdunklen buntdurchblitzten Dampf einer jener Discos, in der sie Touristen und Einheimische aufeinander loslassen. Wie immer ist das Fremde so viel reizvoller als das Eigene, wie immer suchen beide Seiten fieberhaft nach einem neuen Höhepunkt ihrer Flucht vor sich selbst und ich eine weitere Übernachtungsmöglichkeit, kann nicht immer meine paar Freunde hier in Schwierigkeiten bringen, im Ganzjahreskarneval geht immer was.
Und dann wieder allein unterwegs irgendwohin, egal wo, die Küste ist gesäumt von Hotels und die Chancen gleichmäßig verteilt, das Luftgelee klebt den Staub auf den Boden, was ich nicht rausschwitze, bekommen die Mücken, mich selbst, Vergangenheit, Erinnerung. Wäre perfekt, könnte ich auch noch mein Denken rausschwitzen.

Du bist selbst auf all das reingefallen. Wusstest genau, dass sich im Grunde nichts ändern würde, wenn du ein verlogenes System gegen ein anderes eintauschst, nur weil dort die Außenwände scheinbar schönere Farben haben. Dass auch dort die Zeit nicht stehen bleibt, mag es noch so sehr danach aussehen. Innen ist alles wurmstichig, dort wie hier. Es fühlte sich gut an, eine Weile. Doch irgendwann hat dich die Erkenntnis gepackt, heimtückisch von hinten, dich nicht mehr aus ihrem Würgegriff gelassen. Als dir klar wurde, dass es keinen Unterschied macht, ob an der Wand die Bilder von Helden der Revolution hängen oder Kruzifixe zwischen anderen verstaubten Jagdtrophäen. Ob die Straßen von Siegesparolen oder Marterln gesäumt sind, die die Einheimischen nur noch als selbstverständlichen Teil des Straßenbildes wahrnehmen, ohne sich die ursprüngliche Bedeutung bewusst zu machen. Da standest du nun, erstarrt in der Tropenhitze, und wusstest nicht, was tun. Hast deine Rolle weitergespielt, weiter eine Stellvertreterordnung geschaffen auf dem fadenscheinigen Grün, konntest ja nicht zugeben, dass du blöd warst, weder vor dir selbst noch vor anderen. Doch irgendwann ist es gekippt, das Grün, ist über den Rand gelaufen, die Geschichte ist gekippt und über den Rand gelaufen, hat alles fortgeschwemmt, die Ordnung, die bunte Geometrie, dich mitgerissen, dich hierhin gespült, dich in einer großen Welle in die heimische Landschaft geworfen, die sich, abgesehen von den fehlenden Palmen und Kakteen, in nichts von deinem vermeintlichen Paradies unterscheidet. Und da liegst du nun, zurück in der Heimat, die 8 noch in der Hand, die Zeit ist fort, dort und hier, so oder so, und fragst dich, wozu das alles.


©ACAM 2008

jondoy
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Beitragvon jondoy » 01.07.2008, 23:34

Hallo Rala,

du beschreibst hier in diesem text vom wesen her etwas , was ich zumindest bruchstückhaft sehr genau kenne.

Ich versuch, diese Sequenzen mal herauszuleuchten....

Später wieder mal im nachtdunklen buntdurchblitzten Dampf einer jener Discos, in der sie Touristen und Einheimische aufeinander loslassen.


Als dir klar wurde, dass es keinen Unterschied [mehr] macht, ob an der Wand die Bilder von HELDEN DER REVOLUTION hängen oder KRUZIFIXE zwischen anderen verstaubten Jagdtrophäen. Ob die Straßen von SIEGESPAROLEN oder MARTERLN gesäumt sind, die die Einheimischen nur noch als selbstverständlichen Teil des Straßenbildes wahrnehmen, ohne sich die ursprüngliche Bedeutung bewusst zu machen


[wie immer]suchen beide Seiten fieberhaft nach einem neuen Höhepunkt ihrer Flucht vor sich selbst


es ist ein eigenartiges gefühl, das in worten beschrieben zu lesen.


Doch irgendwann ist es gekippt, das Grün, [ist über den Rand gelaufen, die Geschichte ist gekippt Anm. = doppelt, evtl. steichen], [evtl. hier einfügen: die Geschichte] über den Rand gelaufen, hat alles fortgeschwemmt, die Ordnung, die bunte Geometrie, dich mitgerissen, dich hierhin gespült, dich in einer großen Welle in die heimische Landschaft geworfen, die sich, [abgesehen von den fehlenden Palmen und Kakteen], in nichts [von deinem vermeintlichen Paradies] unterscheidet.


Ein Satz, der dieses Gefühl genau auf den Punkt bringt.
Das nenn ich neue Heimatsprache.
Und da liegst du nun, zurück, gestrandet in der Heimat, die 8 noch in der Hand, die Zeit ist fort, dort und hier, so oder so, und fragst dich, wozu das alles.

Das erste, das ich in Worte fassen kann.

Gruß,
Stefan

Rala

Beitragvon Rala » 03.07.2008, 22:02

Wow, Stefan,

das freut mich, dass du in dem Text etwas gefunden hast, was dich anspricht. Und dann noch so sehr ... Habe über ein jahr dran gearbeitet, wollte was zum Ausdruck bringen, wusste aber nicht, wie, und als ich ihn reingestellt habe, war ich immer noch nicht sicher, ob er funktioniert - bei dir offenbar schon! Bin mal gespannt auf weitere Reaktionen ...

Liebe Grüße,
Rala

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 11.07.2008, 13:42

Hallo Rala,

es geht mir komisch mit diesem Kommentar, weil ich im folgenden viel kritisieren werde, an einer Geschichte, die ich eigentlich mag (z.B. den Titel). Die Geschichte von einer, die nicht nur die Wurmstichigkeit mit unterschiedlichen Fassaden versehener Systeme, sondern auch sich selbst entlarvt, wenn sie feststellt, dass sie nicht nur ihre Billiardgegner, sondern letztendlich sich selbst ausgetrickst hat (oder eben doch nicht wirklich austricksen konnte). Ich mag den Rahmen, innerhalb dessen die Trickspielerin sich selbst entlarvt, die einleitende und abschließende "Du - Passage", und im Kern das in der ersten Person erzählte Schein - und Fassadenleben, das Deine Protagonistin geführt hat.
Während mir also Inhalt und Form durchaus gefallen, habe ich mit der Ausführung Schwierigkeiten.
Das beginnt gleich im ersten Absatz, der für mich eine Mischung aus Selbstanklage und Selbstmitleid darstellt, sich bewegt zwischen mitleidloser Anklage und nahezu pathetischen Formulierungen.

Flach auf dem Boden, regennassen Asphalt in der Fresse, mal wieder. Erneute Prostration vor leeren Götterhülsen. Heul doch, bekommt ohnehin keiner mit.


Befremdlich finde ich hier auch, dass auf "Fresse" "Prostration" folgt, (interessantes Wort übrigens, hat ja so einen gewissen Gleichklang mit einem anderen Wort), also einmal sehr umgangssprachlich und dann so ein Wort, das ich erst nachschlagen musste.
Aber was ich mit dem Spagat zwischen Selbstanklage und Selbstmitleid meine, äußert sich eher im Zusatz "bekommt ohnehin keiner mit", das empfinde ich als selbstmitleidig.
Wenig später schreibst Du davon, dem "Sog der Zukunft zu entkommen", auch diese Formulierung klingt für mich pathetisch. Insgesamt ist es mir schon im ersten Absatz zu viel lamentierendes Erklären, ich könnte mir vorstellen, dass die Wirkung schnell eine andere werden könnte, wenn Du etwas streichst. Obwohl natürlich auch möglich ist, dass all das von Dir beabsichtigt war, und meine Leseart nur gar nicht mit Deiner Intention korrespondiert. Aber der Gefahr stellt sich ja jeder Kommentar. Also weiter:
In der folgenden in der ersten Person geschilderten Passage bewegt sich der Ton Deiner Geschichte zwischen einem fast reportagehaften, kritischen Stil und so einem besserwisserischen lehrhaften Ton. Z.B. wenn Du schreibst, dass die Läden vorgaukeln, "was längst vom blühenden Schwarzmarkt unterwandert wird", oder darüber philosophierst, dass "das Fremde [immer] so viel reizvoller ist als das Eigene.
Das sind Stellen, die mich rausbringen und die so ganz anders klingen als z.B. die m.E. sehr gelungenen letzten Sätze:

Und dann wieder allein unterwegs irgendwohin, egal wo, die Küste ist gesäumt von Hotels und die Chancen gleichmäßig verteilt, das Luftgelee klebt den Staub auf den Boden, was ich nicht rausschwitze, bekommen die Mücken, mich selbst, Vergangenheit, Erinnerung. Wäre perfekt, könnte ich auch noch mein Denken rausschwitzen.


Weil die nämlich sehr sinnlich sind, und die Situation und die Protagonistin spürbar machen.

Im letzten Absatz überführt Deine Protagonistin sich selbst, schon mit dem ersten Satz. Das finde ich sehr gelungen, dass die Trickspielerin merkt, wie sie selbst auf falsche Fassaden hereingefallen ist, auf "Außenwände mit scheinbar schöneren Farben." Aber auch hier ist mir einiges zu dick aufgetragen.

Doch irgendwann hat dich die Erkenntnis gepackt, heimtückisch von hinten, dich nicht mehr aus ihrem Würgegriff gelassen.

Mich stört das Wiederholende in den Sätzen, eine Erkenntnis, die von hinten packt, mag vielleicht noch heimtückisch sein dürfen, aber wenn sie dann nicht mehr aus ihrem Würgegriff lässt ist es mir einfach zu viel. Dann ist das ganze für mich nicht gesteigert sondern larmoyant.

Und zum Schluss würde ich einfach alles nach der 8 in der Hand streichen. Das wäre ein toller Schluss.

Ich hoffe, Du nimmst mir meine subjektive Kritik nicht übel. Ich finde die Geschichte hat Potenzial

viele Grüße
xanthippe

Rala

Beitragvon Rala » 11.07.2008, 21:51

Hallo Xanthippe!

Vielen Dank, dass du dich so mit dem Text beschäftigt hast! Natürlich nehme ich dir deine Kritik nicht übel, sonst hätte ich den Text hier ja wohl nicht reingestellt. Ich habe ungefähr ein Jahr daran gearbeitet und irgendwie wollte er nicht so recht werden. Das, worauf ich mich dabei hauptsächlich konzentriert habe, war, dass er funktioniert, dass die Botschaft rüberkommt. Und als ich dann endlich dachte, jetzt passt es (und offenbar passt es wirklich, bei dir ist die Botschaft ja angekommen) hatte ich schon so viel daran gearbeitet, dass mir die Distanz fehlte, um die Dinge zu beurteilen, die du angemerkt hast. Daher ist dein Kommentar sehr hilfreich für mich.
Sobald ich wieder ein bisschen Zeit habe, werde ich mich genauer damit auseinandersetzen.

Liebe Grüße,
Rala

jondoy
Beiträge: 1581
Registriert: 28.02.2008

Beitragvon jondoy » 13.07.2008, 21:47

Hallo Rala,

ich hab den Text jetzt - nach großem Abstand - nochmals durchgelesen.

Ich kann ja nur für mich sprechen, für mich klingt er stimmig - es ist ein Blues, aber kein larmoyanter. Er hat Pfeffer. Die Tonart gefällt mir.

Gruß,
Stefan


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