Die rote Schlange

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 14.07.2008, 09:37

Die rote Schlange

Bis zu jenem Tag war ich sicher, dass mein Vater irgend etwas verkehrt machte. Wohin wir auch fuhren, wir folgten der roten Schlange. Die weiße Raupe, mit den Funken sprühenden Augen, fuhr stets auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, direkt an uns vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Dabei war ich mir sicher, dass die weiße Raupe es zu verhindern gewusst hätte, dass mir übel war, dass es überhaupt ganz allein der roten Schlange anzurechnen war, dass es mir so schlecht ging. Ihr böser Zauber verwandelte meinen wehrlosen Magen in einen Ort, an dem Trolle gegen Feen kämpften. Die weiße Raupe, davon war ich überzeugt, hatte einen Gegenzauber, er allein hätte mich retten können. Aber mein Vater verfehlte sie jedes Mal.

Besonders wirkungsvoll war der böse Zauber der roten Schlange an den Tantennachmittagen. Es gab viele Tanten und noch mehr Tantennachmittage, aber sie glichen sich alle. Die Tanten wie die Nachmittage. Die Tanten hatten gewellte hochgetürmte Haare, die mich an Vogelnester erinnerten, und die Nachmittage rochen nach Pflaumenkuchen und Obstbrand. Weder meine Mutter noch mein Vater schienen glücklich zu sein über diese Nachmittage, trotzdem versäumten wir keinen. Mutter zupfte besonders lange an meinem Kleid herum und kämmte sich immer wieder. Vater nahm sie in den Arm und sagte unverständliche Dinge, woraufhin Mutter ihn müde anlächelte. Dieses müde Lächeln war schlimmer als Tränen. Immer wenn meine Mutter so lächelte, fühlte ich mich, als ob mir jemand ins Herz kneifen würde.
Sobald wir die Wohnung der jeweiligen Tante betraten, verstummten alle Anwesenden, die hauptsächlich aus den anderen Tanten samt ihren Männern und Kindern bestanden. Die Besuche fanden in unterschiedlichen Wohnungen statt, die einander jedoch in einem derart hohen Maß glichen, dass es streng genommen eine Wiederholung des immer gleichen Besuches war. Jedes Mal sprang uns die Stille an. Geschmeidig wie eine Schlange legte sie sich um unsere Kehlen. Während man meine Eltern nur eines kurzen Blickes würdigte, richteten sich alle Augen auf mich, selbst die Kinder der Tanten waren für diese Zeit bewegungslos und ruhig, und erst nachdem die Zeit somit für einen Moment zum Stillstand gekommen war, erholten sie sich langsam von meinem Anblick und die Gespräche wurden wieder aufgenommen.
„Habt ihr diese Augen gesehen? Hier hat niemand solche Augen. Wer weiß, woher sie kommt.“
„Seht doch, wie blass sie ist. Ist sie schon wieder krank? Meine Kinder sind nie krank. Vielleicht hättet ihr doch auf andere Weise versuchen sollen, zu einem Kind zu kommen. So weiß man doch nie, was man bekommt, welche Gene, welche Veranlagungen...“
„Wenn es die Pille damals schon gegeben hätte, wäre sie vermutlich gar nicht hier.“
Ich wusste, dass ich gemeint war, obwohl ich nichts Ungewöhnliches an meinen Augen feststellen konnte. Die Gene und Veranlagungen beunruhigten mich ein wenig, was aber bedeutungslos war angesichts der Pille. Offensichtlich existierte mittlerweile eine Pille, die mich hätte verschwinden lassen können, wenn es sie schon früher gegeben hätte. Wie gut, dass ich hier noch nie viel gegessen hatte. Höchstens etwas Kuchen von Mutters Teller. Mein Bauch wusste offenbar, dass man mir nach dem Leben trachtete. Vielleicht wäre ich längst tot, vergiftet, wenn ich nur einmal ein ganzes Stück Kuchen von meinem eigenen Teller gegessen hätte. Ich beschloss vorsichtshalber ab sofort auch das Trinken einzustellen im Haus der Tanten. Die Gefahr, dass ich eine Pille verschluckte, schien mir zu groß.

Früher waren die Worte der Tanten wie die Wellen im Urlaub, die meine Zehen nass machten und dann schnell wieder im Meer verschwanden. An diesem Nachmittag hatten die Wellen mich voll erwischt und ich versuchte wenigstens in Gedanken bei meinen Großeltern zu sein, die mich zu mögen schienen, obwohl ich so blass und appetitlos war, und eigentlich durch eine Pille zu verhindern gewesen wäre. Sie kamen nicht mehr zu den Tantennachmittagen. Großvater hatte ein schiefes Gesicht bekommen und den Arm und das Bein nicht mehr bewegen können. Als Großmutter trotz ihrer dicken Brille immer weniger sehen konnte, sind sie in ein Heim gezogen. Einmal haben wir sie besucht. Es lebten nur ganz alte Menschen dort, alle hatten weiße Haare oder überhaupt keine Haare und wer keine weißen Haare hatte, trug einen weißen Kittel. Es roch nach Erbsensuppe und Pippi und einige der alten Leute trugen Windeln. Großmutter erkannte mich nicht. Mutter und Vater erkannte sie auch nicht und den Großvater schimpfte sie die ganze Zeit aus, so dass er ständig weinte. Sein Gesicht war noch immer schief und der Rest steif. Ich überlegte, ob ich sie nicht einmal alleine besuchen sollte. Vielleicht würde Großmutter mich ohne die Eltern erkennen und Großvater könnte mir erklären, warum die Tanten immer nur zu mir gemein waren. Nie zu den anderen Kindern, die schreiend durch die Wohnung liefen, ihre Saftgläser umschmissen und mich ärgerten. Vielleicht, überlegte ich, war alles meine Schuld. Wenn ich die Pille geschluckt hätte, wenn ich nicht zu früh gewesen wäre für die Pille, die mich auslöschen konnte, müsste meine Mutter nicht traurig aussehen, mein Vater nicht hilflos auf sie einreden.

Auf dem Weg zum Auto nahm ich all meinen Mut zusammen:
„Wenn du manchmal fragst: womit habe ich das verdient, meinst du dann, warum ich die Pille nicht geschluckt habe?“
Vater und Mutter blieben augenblicklich stehen, während ich weiter voraushüpfte. Zum einen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass sie aufhören könnten weiterzugehen, zum anderen, weil es mich beruhigte und erleichterte, den Boden hart und fast schmerzhaft unter meinem Füßen zu spüren, nur um ihn gleich darauf wieder zu verlassen.
„Welche Pille?“, fragte mein Vater, als er und Mutter mich eingeholt hatten. Mutter sah mich an und hatte dabei ein sehr weißes Gesicht.
„Na die, mit der es mich nicht geben würde.“ Ich war verblüfft über die Begriffsstutzigkeit meines Vaters. Um ihm weiteres Nachfragen zu ersparen, ergänzte ich:
„Die Tanten haben sich heute darüber unterhalten. Sie haben gesagt, wenn es die Pille schon früher gegeben hätte, würde es mich nicht geben.“
Mutter öffnete den Mund und schloss ihn wieder wie die Fische im Aquarium vom Kinderarzt. Vater murmelte:
„Diese Hexen.“
Dann setzte sich jeder auf seinen Platz, aber Vater ließ den Motor nicht an. Es war ganz still, nur ein paar Vögel schimpften.
„Wir müssen es ihr sagen“, meinte Mutter, woraufhin Vater widersprach:
„Sie ist noch zu jung.“
Ich war mir unsicher, welcher Meinung ich mich anschließen sollte. Ich wollte unbedingt wissen, was das alles bedeutete, was mich Partei für meine Mutter ergreifen ließ. Andererseits beruhigte es mich, dass mein Vater der Meinung war, ich sei noch zu jung, um zu verschwinden.
„Wir müssen es ihr sagen, bevor ein anderer es tut.“
Die Worte hatten eine seltsame Macht. Mir war klar, dass das Auto nicht losfahren würde, bevor sie es mir gesagt hätten. Ich hatte Angst vor diesem „es“, aber ich wusste, dass mein Vater diesmal nicht widersprechen würde.
„Wir sind nicht deine richtigen Eltern“, sagte er.
Mutter sah mich nur an und bewegte ganz leicht den Kopf von links nach rechts.
Wir saßen noch lange im Auto, schweigend, weinend, redend.

Als Vater den Motor anließ und wir losfuhren, wusste ich, dass er nie etwas verkehrt gemacht hatte. Es war nicht seine Schuld. Es gab keine roten Schlangen und keine weißen Raupen, nur Rücklichter und Scheinwerfer und Autos, die in unterschiedlichen Richtungen unterwegs waren.

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 21.07.2008, 14:27

so schlimm?

Estragon

Beitragvon Estragon » 21.07.2008, 14:55

Also....solche Geschichten muss man erstmal lesen, das ist doch nicht einfach,
Doofe Tanten, die so einen Mist erzählen, die Eltern die seltsam distanziert sind,
das Spiel mit den Pillen gefällt mir, das Kind das nicht begreifen kann was das sein soll.
Aber ich weiß nicht ob das ganze aufgeklärt werden muss, dass es nicht die richtige Tochter ist.
Na ja trotzdem.

Nicole

Beitragvon Nicole » 21.07.2008, 15:55

Hallo Xantippe,

so schlimm?


nein, nicht doch! Ich habe den Text schon mehrfach gelesen und immer wieder zu einem Kommentar angesetzt - leider fehlt mir aus bekannten Gründen derzeit ein wenig die Ruhe, wirklich ausführlich zu kommentieren.

Aber, ich versuche es gerne.

Ich mag die gut getroffene "kindliche" Sicht. Der anfänglich schön phantasievolle Blick auf die Straße. Und als Gegensatz dazu am Ende die realistische, "erwachsene" Betrachtung der Scheinwerfer.
Auch das Verständnis "der Pille" ist m.E.n so kindlich, wie ein Zwerg, der Erwachsenenunterhaltungen belauscht, eben die Aussage
„Wenn es die Pille damals schon gegeben hätte, wäre sie vermutlich gar nicht hier.“

verstehen muß. Das hast Du gut getroffen.
Auch die Beschreibung der Tantenachmittage als solches gefüllt mir, gönnst Du dem Leser wieder "den Blick von unten", auch wenn Du hier bei
Vielleicht würde Großmutter mich ohne die Eltern erkennen und Großvater könnte mir erklären, warum die Tanten immer nur zu mir gemein waren. Nie zu den anderen Kindern, die schreiend durch die Wohnung liefen, ihre Saftgläser umschmissen und mich ärgerten.
, zu sehr aus dem Blickwinkel eines Erwachsenen beschreibst. Zumindest meine Tochter registriert das schlechte Benehmen von anderern Kindern nicht auf diese Art und Weise und würde es sicher auch anders beschreiben.

Alles in allem malst Du mir fast zu schwarz-weiß. JEDES Mal die komplette Stille im Raum, JEDES Mal die Blicke, ALLE sind irgendwie unfreundlich, selbst die Kinder. Das ist sehr deutlich und ich frage mich, ob das so überdeutlich notwendig ist. Ob es nicht auch ein wenig subtiler ausreichend gewesen wäre.

Die abschließende, auflösende Szene im Auto kommt mir ein wenig zu kurz.
„Wir sind nicht deine richtigen Eltern“, sagte er.
Mutter sah mich nur an und bewegte ganz leicht den Kopf von links nach rechts.
Wir saßen noch lange im Auto, schweigend, weinend, redend.

Fast scheint es, als wäre der Schluß hastig geschrieben, das Ende schon vor Augen. Und, ehrlich, ich verstehe nicht, warum dieMutter am Ende den Kopf schüttelt. Ich mache es auf genaus diese Art, wenn meine Tochter bei einer Diskussion mit ihrem Vater insistiert und ich merke, das er, hört sie jetzt nicht auf, gleich sauer wird.... Aber in dem Zusammenhang hier verstehe ich diese Reaktion nicht wirklich.

Alles in allem finde ich die von Dir verwendete Spache schön, die kindliche Sicht gut gelungen und ich habe die Geschichte gerne gelesen.
Wenn ich etwas zu bemängeln hätte, wäre es der ein oder andere Ausrutscher in die Erwachsenensicht und das für meinen Geschmack zu kurz geratene Ende im Auto. Ansonste, wie gesagt, gerne gelesen!

Lieben Gruß, Nicole

Benutzeravatar
annette
Beiträge: 465
Registriert: 24.11.2006
Geschlecht:

Beitragvon annette » 21.07.2008, 15:57

Hallo Xanthippe,

mir gefällt der Rahmen der Geschichte gut: Zum einen der Verlust der kindlich-naiven Interpretation von weißen und roten Schlangen und ihres Einflusses auf die Übelkeit als Folge des Wissens um ihre wahre Herkunft. Zum anderen die versöhnliche Feststellung, dass der Vater nichts falsch gemacht hatte, obwohl er sich grade als gar nicht ihr wirklicher Vater herausgestellt hatte.

Im Mittelteil mit den Tantenbesuchen bleibt mir vieles unklar. Warum überhaupt diese Besuche? Sind das tatsächlich Familienbesuche? Und warum müssen die Eltern dort immer wieder hin? Es scheint eine verhängnisvolle Notwendigkeit zu sein, die nicht aufgeklärt wird.

Vor allem die Tränen und das müde Lächeln der Mutter habe ich mir nicht erklären können. Liegt das nur an dem bevorstehenden ungeliebten Tantennachmittag? Das übertriebene Zurechtmachen und Kämmen lässt darauf schließen, dass sie jedes Mal einen möglichst guten Eindruck hinterlassen wollen. Die Feindseligkeit der anderen ist einzig in der Adoption begründet? Und warum werden die "Tanten" immer so betont, obwohl es sich doch um ganze Familien handelt?
Da bleiben für mich Fragen, die durch die Tatsache der Adoption oder durch die Perspektive des Kindes nicht beantwortet werden.

Die Erwähnung der Großeltern ist mir nicht ausreichend motiviert. Früher sind sie auch zu den Tantennachmittagen gekommen und vielleicht könnte der Großvater erklären, warum die Tanten gemein waren. Aber mir fehlt eine weitere Aussage über die Großeltern, die eine Verbindung zum Rest der Geschichte herstellen würde.

Das Bild mit den Wellen, die die Füße nass machen, ist sehr schön, passt aber meiner Meinung nach nicht zu der Kind-Perspektive.

Die Idee mit der Pille gefällt mir, auch wenn sie nicht unmittelbar mit der Adoption zu tun hat und nur zu den Spekulationen der Tanten gehört.

Ich hab die Geschichte gern gelesen, finde aber, dass die Idee noch etwas Überarbeitung verdient.

Gruß - Annette

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 21.07.2008, 16:12

Oh, wie schön, jetzt habe ich wieder viel zum nachdenken, ich dachte schon keiner liest das hier...
danke an euch alle, nach dem denken melde ich mich dann auch ausführlicher

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 21.07.2008, 17:39

Liebe Nicole,

Nicole hat geschrieben:Ich habe den Text schon mehrfach gelesen und immer wieder zu einem Kommentar angesetzt - leider fehlt mir aus bekannten Gründen derzeit ein wenig die Ruhe, wirklich ausführlich zu kommentieren.

das hätte ja schon gereicht, nur wenn gar niemand was schreibt, dachte ich, na ja, das kann ja nur eins heißen.
Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen (ein bisschen jedenfalls), dass Du trotzdem kommentiert hast. Was für Gründe sind das übrigens, darf ich das wissen?

was den Blickwinkel bezüglich der anderen Kinder bei den Tantennachmittagen angeht, kann ich dir nicht ganz zustimmen, weil deine Tochter (hoffentlich) nicht so in die Ecke gedrängt ist, als Außenseiterin, wie meine Erzählerin. Also ich denke, dass Kinder, die so in extreme Situationen geraten (die Geschichte spielt ja auch in einer anderen Zeit, also nicht vollkommen anders, aber so vor ca. 30 Jahren und... ach, ich will auch gar nicht so viel erklären, weil das ja eigentlich die Geschichte selbst machen muss, aber wie gesagt, ich kann mir schon vorstellen, dass meiner Protagonistin, die ja selbst ständig unter Beobachtung steht bei diesen Treffen, dass der gar nichts anderes übrig bleibt, als selbst sehr genau zu beobachten und zu registrieren, was um sie herum geschieht, und sich ihren Reim darauf zu machen, der vielleicht manchmal erwachsener ist, als ihr selbst das lieb ist...

Alles in allem malst Du mir fast zu schwarz-weiß. JEDES Mal die komplette Stille im Raum, JEDES Mal die Blicke, ALLE sind irgendwie unfreundlich, selbst die Kinder. Das ist sehr deutlich und ich frage mich, ob das so überdeutlich notwendig ist. Ob es nicht auch ein wenig subtiler ausreichend gewesen wäre.


Ja, eigentlich wollte ich das getrost ein bisschen überspitzen, aber ich denke gerne nochmal drüber nach, ob es auch leiser geht.

Na ja und das Kopfschütteln der Mutter, ganz vorsichtig, bzw. widerwillig schüttelt sie den Kopf um zu bestätigen, was ihr Mann der Protagonistin gerade mitgeteilt hat: nein, wir sind nicht deine richtigen Eltern.
Aber vielleicht ist das wirklich zu kurz, vielleicht bin ich da wirklich dem wunden Punkt ausgewichen.

Auf jeden Fall kann ich viel anfangen mit deinem Kommentar

viele Grüße
xanthippe

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.07.2008, 17:49

Hängengeblieben ist bei mir ein Bild von der Wand der Tanten. Wechselnde, doch immer gleiche Orte, das Verstummen, die Ablehnung. Dabei haben die konkreten Sätze der Tanten gar nicht so stark dazu beigtragen.

Aber insgesamt hat mich der Text nicht mitgenommen, er wirkt auf mich konstruiert. Liegt vielleicht an der Erzählperspektive, zwei LIs, Rückbetrachtung, der Versuch, die damalige Gefühlswelt in den Vordergrund zu stellen. Aber ich habe weder zum älteren LI noch zum jungen ein Verhältnis gefunden, sie bleiben blass. (Ich halte das auch für eine große Herausforderung beim Schreiben: keine nervige Kindersprache und kein erwachsender "Reflektivismus").

Das Ende hat mir nicht gefallen. Das Zögern der Eltern, die Eröffnung der Wahrheit, die "Fehlerlosigkeit" des Vaters. Das wirkt auf mich alles sehr hölzern, eindimensional, skizzenhaft.
Besonders dieser Satz: "Wir saßen noch lange im Auto, schweigend, weinend, redend."

Über die "Pille" musste ich länger nachdenken. Ich verstehe es so: hätten die leiblichen Eltern die Pille genommen, wäre LI nicht entstanden und hätte nicht zur Adoption freigegeben (was für ein Wort) werden müssen. So schön das Spiel mit der Pille ist im Text, finde ich es schwierig, weil es sich meinem Empfinden nach um *irgendein* Kind handelt, welches adoptiert wurde (aus einem Pool von vorhandenen Kindern) und es nichbt maßgeblich ist, dass es *dieses* Kind nicht gäbe, hätten die Eltern die Pille genommen. Dann wäre es ein anderes geworden. Für mich steht eher der Fakt im Vordergrund, dass es generell ein *fremdes* Kind ist. Kein großes Ding, die Spitze sitzt dennoch (aus Sicht der Tanten), aber ich musste daran rumdenkeln.

Grüße,
Yorick.

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.07.2008, 17:50

Jetzt habe ich so lange getippt, bis 4 (!) Beiträge dazwischengerutscht sind. Nein, schnell bin ich nicht...

Trixie

Beitragvon Trixie » 21.07.2008, 19:20

Hallo Elke!

Also, gut, dass du das mit "vor 30 Jahres" dazu gesagt hast, ansonsten dachte ich nämlich spontan "ähm, wo gibt es denn heutzutage noch was?!"! Ich habe mich jetzt informiert. Adoptionen war 1950,1960 ein ziemliches Tabu-Thema. Ab 1970 gar nicht mehr. Sogar Paare mit eigenen Kindern fanden Gefallen daran, Kinder zu adoptieren. Es war ein offenes Thema und es wurde auch offen Werbung gemacht für Kinder ohne Eltern. So der Bericht, den ich eben gelesen habe. 1976 wurde auch das Gesetzt umgestellt und offener gemacht. Bis dahin waren Eltern verpflichtet, ihren adoptierten Kindern zu sagen, dass sie adoptiert sind.

Nun aber zu deiner Geschichte. Ich dachte, der Schluss hätte eine andere Pointe. Einfach nur adoptiert war mir viel zu "unschockierend". Wenn das Kind dann noch sowas hinterhergeworfen hätte wie "Deshalb hatte ich also eine viel dunklere Haut als der Rest der Familie" oder irgendwas, das einen wirklichen Unterschied macht, dann wäre ich damit zufrieden gewesen.

Ja, ich wundere mich auch, warum es so oft Tantennachmittage gibt, wenn es jedes Mal eine Qual für die Eltern ist. Hätten sie dann nicht eher Ausreden erfunden, um nicht mehr hin und zu müssen? Und das Kind vom Alter her schätze ich zwischen 8 und 10 Jahren. Müssten sich die Tanten nicht schon daran gewöhnt haben und das Kind in Ruhe lassen? Zumundest nicht jedes Mal aufs Neue starren und schweigen und biestig sein, finde ich. Außerdem finde ich auch, dass das Kind sich selbst, obwohl es ja scheinbar von den Eltern und Großeltern ein ganz normales Leben geboten bekommt, sonst würde es ja etwas merken, in eine Außenseiterposition reinmanövriert durch das, was du nicht sagst. Zum Beispiel "Meine Freundin aus der Schule findet, dass ich ganz normal aussehe und nicht blass" oder "Der Vater von Nachbarsjungen lacht immer, wenn er sieht, wieviel ich bei ihm esse, wenn Mama und Papa mal nicht Zuhause sind". Der einzige soziale Kontakt, den du erwähnst, sind die Großeltern, die scheinbar kein Problem damit haben. Warum dann aber die aus der nächsten Generation schon? Es müsste doch noch verpönter sein in der Großelterngeneration. Außerdem wäre doch wenigstens eine Tante glaubhaft, die auf der Seite des Kindes ist, das den anderen sagt, sie sollen es doch in Ruhe lassen, damit dieser Zwiespalt zwischen "normal" und "ungewöhnlich" noch besser hervorsticht. So scheint es ja absolut ungewöhnlich zu sein und da wundert man sich ja, dass das Kind nicht schon früher seine Eltern gefragt hat, warum es so ungewöhnlich sei.

Ja, mir sprudeln wieder die Ideen raus, aber vielleicht hilft dir das ja zu verstehen, warum die Geschichte nicht ganz rund ist für mich. Sie ist fesselnd und ich musste wirklich aufpassen, dass ich nicht hinabrutschte und gleich zum Schluss komme, weil ich unbedingt wissen wollte, was die Pointe ist! Das ist gut. Auch den Einstieg mit den Schlangen finde ich toll und die Wiederholungen, die kindlich wirken. Wo ich gestutzt habe, war die geschmeide Schlange, die sich um die Kehle wickelte. Ich habe gleich versucht, einen Bezug zum Titel und der Einleitung herzustellen, was mir aber nicht gelang. Vielleicht findest du da ein anderes Synonym...
Sehr gerne gelesen und von der Idee her sehr gelungen!

Lieben Gruß
Trixie

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 21.07.2008, 20:44

Liebe Xanthippe,

mir gefällt einiges am Text, so z.B. der Rahmen, der die veränderte Wahrnehmung des Mädchens kennzeichnet, die Pillenidee, auch finde ich die Sprache in großen Teilen gelungen. Ich finde aber, damit es eine außergewöhnlich gute Geschichte wird, muss sie noch weniger Geschichtencharakter haben, was ihre dramatische Komposition angeht - sie erscheint so stark als Konstruktion. Für mich liegt das an folgenden Dingen:

Die Eltern werden als rein gut dargestellt, die Tanten als böse - aber warum fahren sie dann überhaupt zu diesen Tanten hin? Warum machen sie ihre Position nicht klar, warum passen sie sich an? Und warum wird nicht problematisiert, dass sie tabuisieren? Das finde ich seltsam unausgearbeitet klaren gut/böse-Trennungen ohne Hinterfragen gibt es eben nur in Geschichten - weshalb ich das Geschichtengefühl nicht loswerde. (besonders die Mutterrolle, die wirkt fast ätherisch)

Und warum ist der Vater von dem Tantengeläster dermaßen überrascht/entsetzt? Er kennt die Verhältnisse/Charaktere doch.

Warum wollen die Eltern das Geheimnis überhaupt wahren? (schon klar, aber thematisiert wird es für mich nicht). Und wieso bekommen die Eltern die Gespräche der Tanten nicht mit? Wo sind sie zu dem Zeitpunkt?

Und dann das Drama - dass die Zuspitzung auf diesen einen Tag hin komponiert ist, ich weiß auch nicht, ob das die stärkste Form der Geschichte ist. Was ist denn das schlimme, was du erzählen willst? Das Verhalten des Umfelds oder gesagt zu bekommen, dass sie nicht die leibliche Tochter ist? Ich glaube, du möchtest die einsame Position des Kindes zeigen und zeigst deshalb die verschiedenen Seiten - differenzierst die verschiedenen Positionen (Unsicherheit/Tabu Eltern bei gleichzeitiger Liebe und konservativ-gefühlskaltes-Verwandtenumfeld, all das macht das Mädchen allein - aber du gehst nicht über ein endgültiges gut/böse hinaus. Ich glaube, die Geschichte möchte einen zu großen/typischen Spannungsbogen, darüber verliert sie die Feinheit, die für das Thema angemessen wäre und wird so ein wenig zu einer Klischeeadoptivgeschichte.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 22.07.2008, 12:55

hallo anette,

langsam stück für stück gehe ich jetzt die kommentare durch, bin ein wenig überrollt worden von dieser menge auf einmal. was nicht heißt, dass ich mich nicht freue.
jedenfalls: du störst dich auch an den tantennachmittagen und findest die großeltern nicht genügend motiviert. und ich frage mich natürlich, ob dann meine idee so gar nicht klappt, bzw. was ich tun muss/könnte damit sie doch klappt, also die idee war ja irgendwie märchenelemente (die hexen, die magischen schlangen und raupen, die mysteriöse pille...) mit der realität zu mischen, aber das habe ich wohl nicht ausreichend durchdacht, oder zu willkürlich gemischt.
jedenfalls, ich finde es gut, hier viel zum schlucken, viel schwer verdauliches zu bekommen, nur so können die geschichten besser werden.

vielen dank für deine hilfe
xanthippe

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 22.07.2008, 14:41

hallo yorik,

keiner lässt sich mitnehmen von dem text, ist wohl der zauber der roten schlange :neutral:
fast noch schlimmer finde ich, dass niemand beim lesen erfühlt, was das für dieses kind bedeutet, die reaktion der umwelt, die unsicherheit der eltern, die es (also nicht das kind, aber dennoch die eigene kinderlosigkeit) als makel empfinden, und natürlich ist das kind irgendein kind aus dem pool möglicher kinder, aber die geschichte ist eben die von eben diesem kind.
dank dir für deine anmerkungen
xanthippe

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 24.07.2008, 16:08

Hallo trixie,

jetzt komme ich endlich dazu, dir für deinen kommentar zu antworten. Du hast sogar recherchiert, wow! Allerdings kann ich das alles nicht ganz so stehen lassen, obwohl es stimmt, dass die politik in den 70er jahren versucht hat, die stimmung was adoption angeht zu ändern, ist das thema noch lange zeit schwierig geblieben, eine echte entspannung, also so eine art der adoption, die nicht nur auf dem papier „zum wohl des kindes“ geschieht, und eine adoptionspraxis, die beiden seiten, den adoptiveltern und auch den kindern und den leiblichen eltern möglichkeiten gibt konstruktiv und irgendwie gesund mit der situation umzugehen, die zeichnet sich erst in den letzten jahren, oder vielleicht seit einem jahrzehnt ab. Ich könnte noch lange darüber schreiben, aber darum geht es ja nicht eigentlich.

Es geht ja eher darum, dass auch bei dir mein konzept nicht aufgegangen ist, also so eine mischung aus märchen und wirklichkeit, oder eben eine überzeichnung der wirklichkeit mit teilweise märchenhaften elementen, wie der schwarz-weiß malerei, alle tanten sind böse, und die armen guten eltern gehen trotzdem hin, weil sie eben familie sind, (aschenputtel hat auch nicht daran gedacht von zu hause wegzulaufen und hänsel und gretel hatten nichts besseres zu tun, als zurück zu ihren sie aussetzenden eltern zu laufen...)...

Na ja und märchen hin oder her, mal ehrlich, gewöhnen sich die leute an außenseiter und lassen sie dann in ruhe? Ist nicht jede familie glücklich über ihr schwarzes schaf?

ja, schade, schade... aber dennoch (oder gerade deswegen?) vielen dank für deine sprudelnden ideen ;-)

Viele grüße
xanthippe


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 12 Gäste