Die rote Schlange

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 14.07.2008, 09:37

Die rote Schlange

Bis zu jenem Tag war ich sicher, dass mein Vater irgend etwas verkehrt machte. Wohin wir auch fuhren, wir folgten der roten Schlange. Die weiße Raupe, mit den Funken sprühenden Augen, fuhr stets auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, direkt an uns vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Dabei war ich mir sicher, dass die weiße Raupe es zu verhindern gewusst hätte, dass mir übel war, dass es überhaupt ganz allein der roten Schlange anzurechnen war, dass es mir so schlecht ging. Ihr böser Zauber verwandelte meinen wehrlosen Magen in einen Ort, an dem Trolle gegen Feen kämpften. Die weiße Raupe, davon war ich überzeugt, hatte einen Gegenzauber, er allein hätte mich retten können. Aber mein Vater verfehlte sie jedes Mal.

Besonders wirkungsvoll war der böse Zauber der roten Schlange an den Tantennachmittagen. Es gab viele Tanten und noch mehr Tantennachmittage, aber sie glichen sich alle. Die Tanten wie die Nachmittage. Die Tanten hatten gewellte hochgetürmte Haare, die mich an Vogelnester erinnerten, und die Nachmittage rochen nach Pflaumenkuchen und Obstbrand. Weder meine Mutter noch mein Vater schienen glücklich zu sein über diese Nachmittage, trotzdem versäumten wir keinen. Mutter zupfte besonders lange an meinem Kleid herum und kämmte sich immer wieder. Vater nahm sie in den Arm und sagte unverständliche Dinge, woraufhin Mutter ihn müde anlächelte. Dieses müde Lächeln war schlimmer als Tränen. Immer wenn meine Mutter so lächelte, fühlte ich mich, als ob mir jemand ins Herz kneifen würde.
Sobald wir die Wohnung der jeweiligen Tante betraten, verstummten alle Anwesenden, die hauptsächlich aus den anderen Tanten samt ihren Männern und Kindern bestanden. Die Besuche fanden in unterschiedlichen Wohnungen statt, die einander jedoch in einem derart hohen Maß glichen, dass es streng genommen eine Wiederholung des immer gleichen Besuches war. Jedes Mal sprang uns die Stille an. Geschmeidig wie eine Schlange legte sie sich um unsere Kehlen. Während man meine Eltern nur eines kurzen Blickes würdigte, richteten sich alle Augen auf mich, selbst die Kinder der Tanten waren für diese Zeit bewegungslos und ruhig, und erst nachdem die Zeit somit für einen Moment zum Stillstand gekommen war, erholten sie sich langsam von meinem Anblick und die Gespräche wurden wieder aufgenommen.
„Habt ihr diese Augen gesehen? Hier hat niemand solche Augen. Wer weiß, woher sie kommt.“
„Seht doch, wie blass sie ist. Ist sie schon wieder krank? Meine Kinder sind nie krank. Vielleicht hättet ihr doch auf andere Weise versuchen sollen, zu einem Kind zu kommen. So weiß man doch nie, was man bekommt, welche Gene, welche Veranlagungen...“
„Wenn es die Pille damals schon gegeben hätte, wäre sie vermutlich gar nicht hier.“
Ich wusste, dass ich gemeint war, obwohl ich nichts Ungewöhnliches an meinen Augen feststellen konnte. Die Gene und Veranlagungen beunruhigten mich ein wenig, was aber bedeutungslos war angesichts der Pille. Offensichtlich existierte mittlerweile eine Pille, die mich hätte verschwinden lassen können, wenn es sie schon früher gegeben hätte. Wie gut, dass ich hier noch nie viel gegessen hatte. Höchstens etwas Kuchen von Mutters Teller. Mein Bauch wusste offenbar, dass man mir nach dem Leben trachtete. Vielleicht wäre ich längst tot, vergiftet, wenn ich nur einmal ein ganzes Stück Kuchen von meinem eigenen Teller gegessen hätte. Ich beschloss vorsichtshalber ab sofort auch das Trinken einzustellen im Haus der Tanten. Die Gefahr, dass ich eine Pille verschluckte, schien mir zu groß.

Früher waren die Worte der Tanten wie die Wellen im Urlaub, die meine Zehen nass machten und dann schnell wieder im Meer verschwanden. An diesem Nachmittag hatten die Wellen mich voll erwischt und ich versuchte wenigstens in Gedanken bei meinen Großeltern zu sein, die mich zu mögen schienen, obwohl ich so blass und appetitlos war, und eigentlich durch eine Pille zu verhindern gewesen wäre. Sie kamen nicht mehr zu den Tantennachmittagen. Großvater hatte ein schiefes Gesicht bekommen und den Arm und das Bein nicht mehr bewegen können. Als Großmutter trotz ihrer dicken Brille immer weniger sehen konnte, sind sie in ein Heim gezogen. Einmal haben wir sie besucht. Es lebten nur ganz alte Menschen dort, alle hatten weiße Haare oder überhaupt keine Haare und wer keine weißen Haare hatte, trug einen weißen Kittel. Es roch nach Erbsensuppe und Pippi und einige der alten Leute trugen Windeln. Großmutter erkannte mich nicht. Mutter und Vater erkannte sie auch nicht und den Großvater schimpfte sie die ganze Zeit aus, so dass er ständig weinte. Sein Gesicht war noch immer schief und der Rest steif. Ich überlegte, ob ich sie nicht einmal alleine besuchen sollte. Vielleicht würde Großmutter mich ohne die Eltern erkennen und Großvater könnte mir erklären, warum die Tanten immer nur zu mir gemein waren. Nie zu den anderen Kindern, die schreiend durch die Wohnung liefen, ihre Saftgläser umschmissen und mich ärgerten. Vielleicht, überlegte ich, war alles meine Schuld. Wenn ich die Pille geschluckt hätte, wenn ich nicht zu früh gewesen wäre für die Pille, die mich auslöschen konnte, müsste meine Mutter nicht traurig aussehen, mein Vater nicht hilflos auf sie einreden.

Auf dem Weg zum Auto nahm ich all meinen Mut zusammen:
„Wenn du manchmal fragst: womit habe ich das verdient, meinst du dann, warum ich die Pille nicht geschluckt habe?“
Vater und Mutter blieben augenblicklich stehen, während ich weiter voraushüpfte. Zum einen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass sie aufhören könnten weiterzugehen, zum anderen, weil es mich beruhigte und erleichterte, den Boden hart und fast schmerzhaft unter meinem Füßen zu spüren, nur um ihn gleich darauf wieder zu verlassen.
„Welche Pille?“, fragte mein Vater, als er und Mutter mich eingeholt hatten. Mutter sah mich an und hatte dabei ein sehr weißes Gesicht.
„Na die, mit der es mich nicht geben würde.“ Ich war verblüfft über die Begriffsstutzigkeit meines Vaters. Um ihm weiteres Nachfragen zu ersparen, ergänzte ich:
„Die Tanten haben sich heute darüber unterhalten. Sie haben gesagt, wenn es die Pille schon früher gegeben hätte, würde es mich nicht geben.“
Mutter öffnete den Mund und schloss ihn wieder wie die Fische im Aquarium vom Kinderarzt. Vater murmelte:
„Diese Hexen.“
Dann setzte sich jeder auf seinen Platz, aber Vater ließ den Motor nicht an. Es war ganz still, nur ein paar Vögel schimpften.
„Wir müssen es ihr sagen“, meinte Mutter, woraufhin Vater widersprach:
„Sie ist noch zu jung.“
Ich war mir unsicher, welcher Meinung ich mich anschließen sollte. Ich wollte unbedingt wissen, was das alles bedeutete, was mich Partei für meine Mutter ergreifen ließ. Andererseits beruhigte es mich, dass mein Vater der Meinung war, ich sei noch zu jung, um zu verschwinden.
„Wir müssen es ihr sagen, bevor ein anderer es tut.“
Die Worte hatten eine seltsame Macht. Mir war klar, dass das Auto nicht losfahren würde, bevor sie es mir gesagt hätten. Ich hatte Angst vor diesem „es“, aber ich wusste, dass mein Vater diesmal nicht widersprechen würde.
„Wir sind nicht deine richtigen Eltern“, sagte er.
Mutter sah mich nur an und bewegte ganz leicht den Kopf von links nach rechts.
Wir saßen noch lange im Auto, schweigend, weinend, redend.

Als Vater den Motor anließ und wir losfuhren, wusste ich, dass er nie etwas verkehrt gemacht hatte. Es war nicht seine Schuld. Es gab keine roten Schlangen und keine weißen Raupen, nur Rücklichter und Scheinwerfer und Autos, die in unterschiedlichen Richtungen unterwegs waren.

Yorick

Beitragvon Yorick » 24.07.2008, 22:05

Ah, das mit dem Märchenmix stelle ich mir schwer vor. Viele Märchen leben ja von ihrer gradliniegen Handlung, die eigentlich ein Symbol oder ein Bild für einen inneren Prozess ist. Wenn ein Text mit "Es war einmal..." beginnt, ist klar was kommt und niemand wird über ein unemazipiertes Aschenputtel greinen. Wenn es aber nicht klar ist (so wie es mir mit dem Text ging - ich habe das Märchen darin nicht erkannt), wirkt es schnell wie gewollt und nicht gekonnt.

Kennst du den Film "Pans Labyrinth"? Dort wird ähnliches versucht - m.M. nach gelingt es nicht durchgehend. Aus einem Film (einer Geschichte) werden zwei, und statt sich zu ergänzen konkurieren die beiden Stränge miteinander.

Vielleicht wäre eine Möglichkeit für den Text, dem Märchenhaften ein Übergewicht zu verschaffen, unter dem der geneigte Leser natürlich (selbstständig) den Realitätsbezug erkennt. Ich halte mich dann immer für unheimlich schlau.

Oder umgekehrt, ganz ohne Märchen.

"fast noch schlimmer finde ich, dass niemand beim lesen erfühlt, was das für dieses kind bedeutet..."

Steht ja auch nicht drin. : ) Zuviel Kopf, zuwenig, was Gefühl hervorruft (mbMn).

"Und warum ist der Vater von dem Tantengeläster dermaßen überrascht/entsetzt? Er kennt die Verhältnisse/Charaktere doch. " (Lisa)

Das sind Dinge, dir mir nicht auffallen. Weil gut bekannt im eigenen Leben. Ich hätte das ähnlich "als gesetzt" angenommen und kein Wort drüber verloren. Und ich glaube, dass macht es besonders schwierig, Kinderperspektiventexte (Kurzprosa) zu schreiben. Dieses "wortlose gesetzte". Oder es wird gleich ein Roman.

Grüße und ein paar Gedanken von
Yorick.

Trixie

Beitragvon Trixie » 24.07.2008, 23:03

Hallo Xanthi!

Ja, für ein Märchen ist mir zu wenig märchenhaftes drin - nämlich zu wenig nicht-reales. Die Schlange und die Raupe werden am Ende aufgelöst, gut. Man weiß ja auch vorher schon, dass es nur die Fantasie des Kindes ist. Aber in jedem Märchen gibt es Wesen, Getränke, Geschehnisse, die absolut nicht real, aber angenehm vorstellbar sind. Und es gibt ein Ereignis, auf das hingearbeitet wird. Ein Ball. Eine Reise. Eine Suche. Es gibt quasi immer einen äußerst positiven Teil und einen äußerst negativen Teil (gute Fee/böse Hexe) und die Hauptperson, die sich am Ende zu 180° dem Positiven zuwendet. Sei das Erlösung, Heirat, Respekt, Schönheit, Reichtum. Das finde ich bei dir alles nicht so wirklich....
Ohne den Märchenaspekt gefällt es mir schon ganz gut, aber ich finde, man könnte es einfach noch besser ausarbeiten.

Lieben Gruß
Trixie

EDIT: ich hoffe, das klang jetzt nicht zu belehrend.... wir hatten das mal im berufskolleg mit dem märchenschreiben und das fand ich super interessant, hab mir auch viel gemerkt dabei. durften sogar selber ein märchen schreiben als hausaufgabe. natürlich war ich am ende die einzige, die das gemacht hat. jedenfalls will ich als allerletzte besserwisserisch klingen! das sind nur meine kleinen meinungne und anregungen....

(Yorick, Pan's Labyrinth ist einer der besten und schönsten Filme, die ich kenne. Den Vergleich finde ich ansatzweise passend ausgedrückt, ja...)

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 25.07.2008, 10:04

ach je, ich komme nicht durch mit billigen (nicht mal mit teuren) ausreden.
den film gucke ich mir mal an, danke für den tipp, yorik
und dann schreib ich ein märchen
und einen traurigen adoptivkinderbericht
und danach schmeiß ich alles in den müll
übrigens trixie ich hab nichts gegen besserwisser, wenn sie irgendwas wirklich besser wissen
aber frustrierend ist es natürlich
dabei find ich die geschichte immer noch gut :sad:
macht nur weiter so, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt,
am ende werde ich noch richtig gut
irgendwann

Trixie

Beitragvon Trixie » 25.07.2008, 10:28

;-) . ich finde die geschichte auch gut... aber es ist doch gut, wenn man verbesserungsvorschläge bekommt, weil man ja selbst nicht perfekt ist und es ist interessant, wenn man andere aspekte und eindrücke erlangt. das heißt ja nicht, dass deine geschichte schlecht ist und in den müll gehört!!! ich finds ja schon mal toll, dass du deine geschichte überhaupt hier einstellst und dich der kritik stellst! ich brauch immer lange bis ich mich traue, was einzustellen, weil ich nicht weiß, ob es mich nich zu sehr trifft und so..
also, lass einfach mal ne weile abhängen und irgendwann, in ein paar tagen oder wochen, guckst du dir die geschichte nochmal an und denkst dir vielleicht "hey, da könnte ich nochwas ändern und der teil ist noch nicht klar und hier ist zu viel" usw.

kopf hoch und keep smiling :-)!

die trix

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.07.2008, 12:59

Liebe Xanti,

wenn du den Phantastischen Teil erhöhtest, verschwände mit einem Mal auch die von mir empfundene Problmatik des zu klaren gut/böse - denn Märchen arbeiten ja damit. Ich würde vielleicht daher diesen Teil noch erhöhen. Die Frage ist dann, wie du das Ende gestalten willst, da ja die Wahrnehmungsart des Mädchens gegen Ende ins Realistische driftet (nach der Eröffnung des Geheimnisses).

fast noch schlimmer finde ich, dass niemand beim lesen erfühlt, was das für dieses kind bedeutet


ich weiß nicht, ob du meinen Kommentar überlesen hast, weil du mir nicht geantwortet hast, aber ich habe ja erwähnt, dass ich schon bemerkt habe, dass es dir genau darum geht. Es ist halt die Frage, ob die Intention gelingt. Und ich denke, die Geschichte braucht hier noch eine feinere Ausarbeitung - die Anlage ist aber doch da!

Yorick:

"Und warum ist der Vater von dem Tantengeläster dermaßen überrascht/entsetzt? Er kennt die Verhältnisse/Charaktere doch. " (Lisa)


Ja, deine Begründung verstehe ich - so war die Nachfrage auch nicht gemeint. Aber mir passt die gleichzeitige reine Darstellung der Eltern dann nicht. Im jetzigen realistischen Stil kauf ich der Geschichte die Eltern nicht ab bzw. weigere mich so zu lesen, wie ich meine, dass die Figuren vom Leser gelesen werden sollen.

Xanthi, ich glaube, wenn du den phantastischen Teil erhöhst (ihn aber dann schon auch an gewissen Stellen brichst, denn ein reines Märchen ist der Text ja auch nicht), dann brauchst du keine Sorgen haben, dass die Geschichte nicht eine tolle Endversion wird - ich glaub nicht, dass du frustriert sein muss. Die starkenn Rückmeldungen hier zeigen doch auch, dass irgendwas an der Geschichte fesseln muss. :-)

Hast du mal zu KUnstmärchen etwas gelesen? Die haben im Vergleich zum klassischen Volksmärchen ein interessantes (da reflektierendes) Verhältnis zur Realistät. Ich könnte dir dazu die Serapionbrüder von E.T.A. Hoffmann empfehlen oder kleine Einführungen (mein Lieblingsthema .-) ).

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 25.07.2008, 13:05

Oh, Lisa, entschuldige, nein natürlich habe ich deinen kommentar nicht überlesen, ich habe mir nur nach und nach jeden einzelnen vornehmen wollen...
und jetzt ist mir das aber sehr unangenehm, dass du mir schon wieder unter die arme greifst mit hilfreichen tipps und so, ich werde es wohl wirklich so machen, dass ich alles erst mal eine weile liegen lasse und na ja, wie gesagt, wer weiß, eines tages... wie im märchen
wird alles gut :smile:
und aus dem frosch wird ein prinz
oder aus der roten schlange ein schöner schmetterling
danke!


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