Alles was ich bin

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.08.2008, 19:17

Alles was ich bin

Ich arbeite für meinen Vater. Alles was ich bin, habe ich meinem Vater zu verdanken. Er hat mir die bestmögliche Ausbildung zukommen lassen. Meine Entjungferung hat er selbst übernommen, obwohl das ein großer finanzieller Verlust war. Es ist nur gerecht, dass ich wenigstens einen Teil dieses Verlustes ausgleiche. Ich verdiene gut, mein Vater ist zufrieden mit mir.
Im Wohnzimmer steht das Foto meiner Mutter, umrahmt von einer schwarzen Schleife. In der Küche hängt mein Stundenplan am Kühlschrank.
Die Freier reden viel. Mit mir reden sie besonders viel. Natascha sagt mit den jungen Huren und mit den Alten reden sie am meisten. Aus Mitleid. Vielleicht auch aus Scham, das will Natascha nicht ganz ausschließen, obwohl sie Mitleid für wahrscheinlicher hält. Mitleid mit sich selbst, betont sie, nicht mit uns.
Ich ekele mich nicht vor ihren Körpern, vor den Fettlappen, die von den Hüften hängen, vor den Brustansätzen, den schuppigen Köpfen, nicht einmal vor den verschrumpelten, ledrigen Geschlechtsteilen. Das einzige, wovor ich mich ekele, sind ihre Stimmen. Nicht das Stöhnen während des Aktes, sondern das unsichere Gestammel davor und das beschämte danach. Von allem anderen lasse ich mich blenden, aber in ihren Stimmen erkenne ich die Wahrheit. Wenn ich sie höre, lüftet sich der Schleier, mit dem sie sich verhüllen wollen.
Die Nächte in denen Zacharias kommt, sind gute Nächte. Er fasst mich nicht an. Zacharias redet nur. Er setzt sich mir gegenüber auf das Bett, und erzählt von Menschen, die ihn faszinieren. Männer – es sind immer Männer -, die es gewagt haben, weiter zu gehen, weiter zu denken, die eingetaucht sind in das Geheimnis des Lebens, in die Vergänglichkeit, die wahre Lebensblüte. Sie heißen Josef Mengele, Karl Gebhard und Gottfried Benn.
Sie haben gesehen, was unter der Haut liegt. Zacharias zeigt mir Fotos von verwesenden Tieren. In fünfzig Fotos vom toten Körper zum Skelett. Jede Woche in einem Bild festgehalten. Von der Vitalität des Sterbens spricht er und davon, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Sätze, die mir Angst machten. Anfangs.
Sätze, die mitten im Raum stehen blieben und nach und nach eine Verbindung schafften zwischen Zacharias Zahnstümpfen, dem fauligen Morast seiner Mundhöhle und mir.
Er sieht mich an, während er sich in Rage redet, er hechelt die Worte. Satzfetzen, kurzatmig ausgestoßen.
Ich träume von meiner Mutter. Ihre Knochen liegen frei, das Fleisch, grün und von stinkendem Eiter bedeckt, windet sich wie eine Schlange um die bloßen Knochen. Alles was ich bin, sagt sie, bin ich durch deinen Vater.
Ich mag Zacharias Stimme. Ihm kann ich vertrauen. Vierzig Wochen, um zu entstehen. Fünfzig Wochen, um zu verwesen.
„Alles was ich bin, bin ich durch meinen Vater“, sage ich, „aber du kannst mich zu einer anderen machen.“
„Du bist zu jung“, sagt Zacharias, „Kinder und Frauen haben zu wenig Widerstandskraft.“
„Aber ich bin anders“, sage ich.
Ich trage lange Handschuhe. Rot, schwarz oder weiß. Die Wunde reicht von der Handwurzel bis zum Ellenbogen. Ich habe nicht geschrieen, als Zacharias meine Haut durchbohrt hat, mit dem dreckigen Messer. Am Morgen kleben die Handschuhe an den Wundrändern. Nur wenn Zacharias kommt, weine ich nicht.
„Willst du?“, fragt er und deutet auf eine Kiste mit Fliegenlarven.
Ich nicke.
Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos werfen Schatten an die Wand. Zacharias zieht mir den schwarzen Handschuh an. Die Kiste nimmt er mit.
Ich gehe nicht mehr zur Schule und arbeite nicht mehr. Zacharias kommt nicht wieder. Mein Vater steht an meinem Bett und weint.
„Alles was ich bin, bin ich durch dich“, sage ich und schließe die Augen.

Charly

Beitragvon Charly » 09.08.2008, 20:07

Hallo,

also bis hierher:
Xanthippe hat geschrieben:Ich trage lange Handschuhe.
ist der Text vertändlich, aber dann und im weiteren Text komme ich nicht mehr mit.

Xanthippe hat geschrieben:Von der Vitalität des Sterbens spricht er und davon, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen.


Dieser Satz ist für mich problematisch. Meiner Ansicht nach gibt es den Tod als solches nicht; und wenn, dann nur in einem ganz kurzen Moment, in dem das Leben erlischt - also zwischen eben noch leben und dann tot sein. Wer das Leben dahinrafft, das ist meiner Ansicht nicht der Tod, vielmehr eine Krankheit, ein Mörder, eine Seuche, oder in diesem Sinne. Der (die personifizierte Vorstellung) Tod ist ein Begleiter nach dem Leben.
Aber das ist nur meine Meinung.

Ansonsten ist es ein guter (vom Handwerk her) Text, finde ich.

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noel
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Beitragvon noel » 09.08.2008, 22:26

„Alles was ich bin, bin ich durch dich“, sage ich und schließe die Augen.


der satz, die wiederholung in veränderter konnotation

korrespondiert mit dem satz
Von der Vitalität des Sterbens spricht er und davon, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen.


da ist ein kind, dass durch den vater...
& doch ist es alles, was es/sie ist...

derenhalben ist der tod die veränderung
aus dem lebendigen tod
& die vitalität
des sterbens,
mehr denn die stagnation des "lebens" zuvor.

tief
_greifender text.

chapeau
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.08.2008, 22:28

vielen Dank, noel,
das hast Du ganz wunderbar erklärt

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.09.2008, 18:23

Liebe Xanti,

der Text hat eine tolle Idee! Meiner Meinung nach ist die aber noch nicht fertig ausgeführt, also noch nicht ganz sichtbar. Auch der Aufbau ist klasse arrangiert, nur die Durchführung noch nicht ganz gelungen.

Der erste Teil, in dem Nataschas Leben geschildert wird, krankt mir noch an zuviel Klischeerequisite vor. Das ganze spielt irgendwo ganz undeutsch in Tschechien/Russland/Polen etc., die Mutter ist tot (die einfachste Form der Nichtschuld, Nichtausgestaltung einer Figur), der Vater ist ungebrochen dunkel, machenschaffig bis zur eigenen "Pädophilie", die er an seiner Tochter auslässt und ebenso undeutsch. Mir klingt das insgesamt als zu weit weg, fiktiv, arrangiert. Als Vorbereitung finde ich es aber grundsätzlich richtig gesetzt.

Dann der zweite Teil, in dem Zacharias auftaucht: toll, wie die beiden Teile gegeneinander Folien sind, der eine dem anderen als "Inhalt" dient.

Kleines Detail zuerst:

Die Nächte in denen Zacharias kommt, sind gute Nächte. Er fasst mich nicht an. Zacharias redet nur


Ich denke, das Reden ist das Schlimmste (Aussage vorher). Hier würde ich erwähnen, als Überleitung, nicht, weil man es sonst nicht verstünde, warum es bei ihm nicht so ist, nur hakt man da kurz.

Der Zachariasteil ist mir insgesamt einfach noch zu kurz/zu gerafft/zu skiziiert - ich finde, er könnte etwas mehr Ausführung haben, um dorthin zu kommen, wo der letzte Satz hinwill, wie es Noel ja ganz richtig schrieb: zu einer verändert konnotierten Wiederholung des "Alles, was ich bin". Die Art und der Horizont, vor dem du erzählst, haben so variiert, dass ich denke, dass durch etwas mehr Ausführung solche Irritationen, wie Charly sie hat, vermieden werden könnten. Ich finde hier - vor dem Hintergrund des ersten Teils, entwickelt der Text erst seine Spannung und wird wahrlich düster - indem es auf einmal nicht mehr um Prostitution geht, sondern der Text es schafft, sich zu seinem "anthropologischen" Titel emporzuschwingen und so eine Seelenschau viel grundsätzlicherer Natur zeigt.

Mit ein wenig Überarbeitung könnte das somit für mich ein sehr spannender und tiefer text werden.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 01.10.2008, 16:23

Liebe Lisa,

vielen Dank, dass Du Dich so eingehend mit meinem Text auseinander gesetzt hast. Es fällt mir jetzt schwer konkret auf Deinen Kommentar einzugehen, weil ich Deine Einwände erst nachvollziehen muss, für mich ist der Text z.B. nicht undeutsch, ich frage mich auch woran (außer vielleicht an dem Namen Natascha) Du das festmachst? Weit weg, fiktiv, arrangiert klingt es ja auch aus der Perspektive heraus, die Erzählerin ist ja weit weg, ihre eigene Fiktion sozusagen, und arrangiert, was sie als Rettung ansieht... Aber ich mag das eigentlich gar nicht, meine Texte zu verteidigen oder zu erklären.
Auf jeden Fall sind Deine Überlegungen hilfreich und ich werde darüber nachdenken...
viele Grüße
Xanthi


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