klein genug

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Thea

Beitragvon Thea » 13.07.2008, 12:40

 
Danke, Tom.
Am Klavier sitzt er, biegt die Hände durch, löst die Finger von der Handwurzel, spannt sie von Taste zu Taste im Oktavenabstand. Tom fehlen die Knochen. Mir nicht. Ich habe harte Knochen, gute Knochen. Das kommt von der Milch meiner Mutter. Schmeckt wie sahnige Ziegenmilch, sagt mein Vater. Und Mutter sagt, das macht unsere Familie aus, wir können stolz darauf sein; harte Knochen, die nicht brechen, wenn man fällt, die mit einer Wucht zuschlagen können, dass glüht, worauf man trifft. So Knochen, dass ich meine Finger kaum auseinanderspreizen kann.
Das ist meine Entschuldigung, dass ich nicht am Klavier sitze und nie sitzen werde, sondern hier und auf zwei und vier mit der linken Hand auf den Tisch schlage, dass die Gelenke von innen gegen die Haut drücken, und ich mich morgen über die blauen Flecken wundern werde. So ist es. Ich sitze und falte die Nacht zusammen, bis sie klein genug ist, dass sie mich bedeckt an diesen Tagen, an denen der Himmel seine Ellbogen stützt auf die Dächer einer Stadt, deren Namen ich noch immer falsch ausspreche und deswegen nicht sage.
Zu Tom aber sage ich danke. Wenn er singt, wird mir warm und ich lehne mich zurück, strecke die steifen Beine aus, die Hand auf zwei und vier am Tisch oder zwei Finger zwischen den Lippen. Ich pfeife Tom zu, ich pfeife als einziger, ist nicht üblich hier, weiß ich, pfeife aber trotzdem, weil, säße ich am Klavier, würde ich es mir wünschen.
Nicht üblich, wenn sie verstehen, sagt Tom, der auf der Toilette seine Kippen vergessen wird, die ich finden und nicht zurückgeben werde.
Tom mag ich eigentlich. Solange er spielt, kann ich der Musik zuhören und muss mich nicht bemühen, anderen Stimmen zu folgen und versuchen zu verstehen, was geredet wird. Das Ohr kann ich nicht zudecken, kann es nicht säubern. Ich werde immer voller Stimmen sein.
Bevor ich gehe, stecke ich Quittung und Zahnstocher in die Innentasche meiner Jacke, in die der Meerwind Sandkörner hineingeweht hat. Seit ich in dieser Stadt bin, klopfe ich jeden Tag meine Jacke aus und die Sandkörner bleiben. Ich hab genug von ihnen. Bin weg vom Meer. Vom Meer will ich nichts mehr wissen, denn ich weiß schon alles.
Hey, Tom, setz dich zu mir, bleib kurz. Erzähl mir von der Milch deiner Mutter, was fehlt ihr, was hat sie, dass du keine Knochen hast? Ach, du hast keine Zeit, musst wieder zurück ans Klavier? Ja, verstehe, warst nur kurz was trinken und kurz auf Toilette, jetzt musst du zurück, ja, verstehe.
Tom spielt weiter, wird auch weiterspielen, wenn ich gegangen bin. Ich gehe, wenn ich an den Saum der Nacht gelange. Ich stehe auf, muss mich auf meine guten Knochen verlassen, sie auf den Tisch stützen und mich hoch drücken, aber sachte, dass der Horizont waagrecht bleibt. Quittung und Zahnstocher stecke ich zu der nassen Kippenschachtel in die Innentasche.


 
Zuletzt geändert von Thea am 12.08.2008, 17:55, insgesamt 2-mal geändert.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 04.08.2008, 16:39

Huhu Thea,
ich finde das ist ein ausgezeichnetes Stück Prosa und die Nichbeachtung absolut ungerechtfertigt.
Ein exzentrischer Zuschauhörer schildert seine Wahrnehmungen. Die Figur ist komplex und wankt von bäuerlich grob ungehobelt einfältig bis hin zum poetischen Nachtfalter…Ich könnte mir vorstellen, dass dir der eine oder andere Leser Sätze wie diesen:
"Ich gehe, wenn ich an den Saum der Nacht gelange und sie klein genug gefaltet ist."
aus dem Munde der Figur nicht abnimmt. Mich hat das komischerweise nicht gestört.
Sehr gelungen, spannend und skurril dein Text.

Er spielt Klavier, biegt die Hände durch, löst die Finger von der Handwurzel, spannt sie von Taste zu Taste im Oktavenabstand.

das ist ja chronologisch gemeint und dagegen sperrt sich mir die Formulierung: "Er spielt Klavier" … sonst denke ich beim Weiterlesen erstmal: "Er biegt beim Spielen die Hände durch?"… ich würde "Er spielt einige Anschläge, biegt…" oder so ähnlich beginnen.

Ich habe harte Knochen, gute Knochen. Das kommt von der Milch meiner Mutter. Schmeckt wie sahnige Ziegenmilch, sagt mein Vater. Und Mutter sagt, das macht unsere Familie aus, wir können stolz darauf sein; harte Knochen, die nicht brechen, wenn man fällt, die mit einer Wucht zuschlagen können, dass glüht, worauf man trifft.

gefällt mir grandios gut

dass die Gelenke von innen gegen die Haut drücken, und ich mich morgen über die blauen Flecken wundern werde.

nach so ein Edelstein… vielleicht könnte man über die 3 das(s) nachdenken…

und falte die Nacht zusammen,

…das habe ich schon zu oft gelesen… auch wenn ich beim ersten Mal begeistert war, jetzt ist mir die Wendung zu abgegriffen.

Tom mag ich eigentlich.

Weiß nicht, ob der Text diesen Satz braucht.

Nicht üblich, wenn sie verstehen, sagt einer, der auf der Toilette seine Kippen vergessen wird, die ich finden und nicht zurückgeben werde.

Noch schlüssiger und dichter würde ich den ganzen Text finden, wenn hier ", sagt Tom", stünde


LG
Nifl

Nicole

Beitragvon Nicole » 04.08.2008, 21:13

Danke Nifl! Ohne diesen Komm hätte ich den Text komplett übersehen - und es wäre schade darum gewesen.

Liebe Thea,

gefällt mir sehr, sehr gut, liest sich flüssig und ergibt ein stimmiges Bild.
Ich weiß gar nicht recht, was ich mehr schreiben soll. Rund, fein, gut.

Lieben Gruß, Nicole


P.S. Ist hier ein "ist" zuviel?
Erzähl mir von der Milch deiner Mutter ist, was fehlt ihr, was hat sie, dass du keine Knochen hast?

Klara
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Beitragvon Klara » 06.08.2008, 16:59

Hallo Thea,

das gefällt mir wieder gut!

Ich finde, der Text verliert ab der Mitte an Dichte und Kraft, auch an Unbehaglichkeit. Wenn ich dazu komme, versuche ich herauszufinden, wodurch das kommt.

Lieber Gruß
Klara

Yorick

Beitragvon Yorick » 06.08.2008, 22:44

Guter Schlafittchengriff.

Der Text gefällt mir. Die komplex wankende Figur (Nifl) ist schön. Dazu das hingeworfene Meer, die harten Knochen, die Zahnstocher & Zigaretten - und die Lockerheit dieses Typen: fein.

Die Nacht-falten-Stellen und Saum mag ich nicht. Auch nicht die Stimmen, die immer da sind. Ich hätte gerne nur diesem Typen zugeschaut und mich etwas gewundert. Ich habe den Text aber auch - ehrlich gesagt - nicht "verstanden".

"Ich gehe, wenn ich an den Saum der Nacht gelange und sie klein genug gefaltet ist."

scheint mir dabei recht zentral, mir ist das aber zu... pa-po-tetisch. Dazu die Erzählschleife mit Zahnstocher und Quittung, die 2x in die Innentasche wandern: allein als letzter Satz klassen, aber in der Widerholung verliert es, mbMn.

"Tom mag ich eigentlich." Eingentlich ist eigentlich ein Killer.

Wo der Text schlicht ist -und damit auch quer- finde ich ihn sehr gelungen.

Grüße,
Yorick.

Thea

Beitragvon Thea » 06.08.2008, 22:46

Hallo ihr Lieben,

danke fürs Kommentieren, hat mich gefreut, ganz besonders, weil ich nach der Zeit nich mehr mit ner Antwort gerechnet hätte!

Nifl, danke dir fürs genaue Hinschauen. Hab meinen Text geändert und bin auf alles eingegangen: der Anfang ist geändert, der erste Satz war ein wenig als Heranzoomen mit der Kamera gedacht, das Bild hat aber gestolpert, da hast du Recht. mir ist jetzt hoffentlich ein eleganterer Einstieg gelungen.
Den Satz "Tom mag ich eigentlich" mag ich eigentlich ^^ weil er, meines Empfinden nach, wenn er vom Autor gesagt wird, nicht zum Text passt, weil die Intensität verloren geht- wenn der Satz aber von der Figur gedacht wird, hat es etwas rührend naives. was denkst du? wirkt es eher dümmlich?

die wiederholung der gefalteten Nacht habe ich gestrichen, zu viel des gut gewollten

und die Anmerkung, dass das Tom auf der Toilette sein könnte ist mir gar nicht in den sinn gekommen (weil es ein TextAuszug ist und der Toilettenkerl ein anderer als Tom ist), aber für diesen Ausschnitt als Gesamtstück, ist dein Vorschlag das Beste, was dem Text passieren kann, danke

Nicole, danke für das Kompliment, das tut gut :) und natürlich ist hier das ist zu viel

Klara, danke dir für deinen Eindruck, vllt findest du ja noch, was dich stört, ich bin ajf gespannt, was du zu sagen hast!

Liebe Grüße!

Thea

Beitragvon Thea » 06.08.2008, 23:12

Yorick, ich habe zuerst gedacht, du meinst, Nifl ist eine komplex wankende Figur :)

Ich habe deinen Kommentar gerne gelesen, nicht nur, wegen grad gesagtem, sondern weil du auch die stimmen ansprichst, die mir auch nur noch so halb gefallen (unbegründetet habe ich sie nicht stehen lassen, ich empfinde den raum so entmenschlicht... leer ohne stimmen, nur mit klavier?)
die erzählschleife, da muss ich mal am text basteln und schauen, wie es sich ohne widerholung liest, vllt tatsächlich besser...?
(das ist wieder ein kommentar, da frage ich mich, ob das angesprochene vom eigenen lesegeschmack abhängt oder ob und inwiefern es den text verändern/-bessern würde)
aber nicht falsch verstehen, ganz ehrlich danke für deine eindrücke, das macht mir lust, noch am text zu arbeiten
(auch wenn ich ganz sicher bin, dass 'eigentlich`stehen bleibt. ich mags so)

Ich habe den Text aber auch - ehrlich gesagt - nicht "verstanden".

und solange es dir dabei aber gut geht und der text noch steht, hab ich (eigentlich, haha) nichts einzuwenden.

Grüße, Thea

Yorick

Beitragvon Yorick » 06.08.2008, 23:53

Oh, äh, stimmt: der Bezug dieser wankenden Figur ist nicht soooo recht klar.... :)

das ist wieder ein kommentar, da frage ich mich, ob das angesprochene vom eigenen lesegeschmack abhängt oder ob und inwiefern es den text verändern/-bessern würde.


Schön. So möchte ich meine Kommentare am liebsten gelesen wissen. Es ist nur mein Geschmack, was ich gerne hätte und wie ich es denke. Ego-zentrisch. Als Rückmeldung, Anregung, jederzeit zum Verwurf freigegeben. Als ich noch in Weltformeldimensionen gedacht habe, war ich -eigentlich- ein sehr anstrengender Zeitgenosse.

Text steht, allen geht es gut, viele Grüße
Yorick.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 10.08.2008, 12:12

danke, thea!

klasse text!


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