Mit Hermes

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Klara
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Beitragvon Klara » 25.10.2008, 09:15

Mit Hermes

Das Geräusch schneidet mir einen Schreck ins Gehirn. Unsere Wohnungsklingel ähnelt einer Kombination aus Feueralarm und Bohrmaschine, und abends erwarte ich diesen Ton nicht. Es ist halb neun, ich habe gerade die Kinder ins Bett gebracht, drücke widerwillig auf den Knopf der Gegensprechanlage (wir wohnen im Hinterhof).
„Ja?“ Ich höre selbst, wie unwirsch ich klinge.
„Ich bitte um Entschuldigung für die späte Störung“, schnarrt es gepflegt durch die Leitung, „ich bin vom Hermes Versand und habe ein Päckchen für Sie.“
Nach stummem Zögern drücke ich den Türöffner, gehe die Möglichkeiten durch: Ein Psychopath. Ein Einbrecher. Ein Spaßvogel. Ich stehe und überlege. Höre ein Schnaufen vor der Tür, im Hausflur knackt das Licht. Ich öffne die Tür, bevor er klingeln kann, er ist auf dem Weg die Treppe hoch, wuchtet das Päckchen, es ist offenbar schwer.
„Hier bin ich“, rufe ich, freundlicher nun, weil keine Auseinandersetzung mit einem Psychopathen mehr zu drohen scheint.
Er hievt das Paket wieder die Stufen herunter, sein ganzes Gesicht in ein schwitzendes Lächeln getaucht. Ich werde weich. Der Mann ist ziemlich rund, eher klein, knapp 60 Jahre, Vollbart, mit warmen, aber gehetzt wirkenden Augen.
„Ich bin im Fahrstuhl stecken geblieben“, erklärt er auf meinen fragenden Blick. Mein Herz krampft sich zusammen vor Mitgefühl: Das ist eine Horrorvision für mich! Selbst wenn es eine Lüge ist, wäre sie gut und stimmig gewählt. Ich hätte gern Einzelheiten gehört, aber er gibt mir keine, ist voll auf seine Aufgabe konzentriert, dabei ein wenig fahrig, will mich nicht lange aufhalten. Rasch möchte ich ihm die Last abnehmen, doch er hält das Paket fest, so dass jeder von uns von einer Seite stützt. Er kramt in seiner Jackentasche.
„Ich muss es erst einscannen“, sagt er, und das neue Wort sirrt in seinem seinem alten Mund wie ein Fremdkörper, der es sich gemütlich gemacht hat.
Es piept.
Er überreicht mir, immer noch lächelnd, den Karton. Ich habe das dringende Bedürfnis, ihm etwas zu geben, es wieder gut zu machen, dass er abends mit schweren Paketen durch die Stadt rennen muss, doch mir fällt einfach nichts ein außer Geld, und das erscheint mir unpassend. Schon wendet er sich ab, ist auf dem Weg.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend“, sagt er und bringt es fertig, diesen Satz nicht als Floskel zum Wegwerfen in meinem Flur liegen zu lassen.
„Ihnen auch!“, rufe ich, komme mir armselig vor mit meinem Misstrauen, meiner Angst, meinem Päckchen…
Er war so fröhlich, überlege ich, vielleicht war er vor diesem Job lange arbeitslos gewesen und ist jetzt über die Maßen froh, dass er Päckchen austragen darf? Vielleicht ist er eigentlich Physikprofessor oder eine lange Krankheit hat ihn davon abgehalten, die Klavierfirma seines Vaters zu übernehmen, die dann pleite machte? Er sprach so gebildet, ohne Nuscheln… jedenfalls nicht wie einer, der Päckchen ausliefert. Vielleicht will er auf keinen Fall diesen Job verlieren, überlege ich weiter, so dass er alles richtig machen will und deshalb alles falsch macht? Vielleicht finanziert er damit die Medikamente seiner schwerkranken Frau, oder er arbeitet tagsüber tatsächlich als Lehrer, und abends als Hermes und muss sich dann immer Ausreden einfallen lassen, dass er so spät kommt, damit bloß niemand der Firma etwas erzählt?
Seine Fröhlichkeit stimmt mich gleichzeitig heiter und traurig, merkwürdig wie ein Versäumnis.
Dann fällt es mir ein: Er ist der Weihnachtsmann! Zu früh im Übereifer? Oder ein Engel im Hermes-Gewand? Ein Götter-Bote? Und was ist die Botschaft?
Ich schicke ihm gute Wünsche hinterher, puste sie mit aller Macht durch die Tür durch, und hoffe, dass sie bei ihm ankommen: Möge Gott mit ihm sein, denke ich (verwundert darüber, wie dieser Satz sich anschleichen konnte – Gott! Oh Mann!), und dass er nicht noch mal im Fahrstuhl stecken bleibt.
Zuletzt geändert von Klara am 27.10.2008, 16:43, insgesamt 2-mal geändert.

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Beitragvon Zakkinen » 25.10.2008, 09:51

Hallo, Klara,

kurzer erster Eindruck. Gefällt mir gut, ließ sich lesen. Der erste Satz passt nicht so ganz, der hat eine Bildsprache, die später nicht mehr auftaucht. Und er verspricht eine andere Geschichte.

Gruß
Henkki

Klara
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Beitragvon Klara » 25.10.2008, 19:05

Hi Henkki,
danke fürs Feedback.

Der erste Satz passt nicht so ganz, der hat eine Bildsprache, die später nicht mehr auftaucht.

Hm, ich überlege eher, an anderer Stelle zu kürzen...

Und er verspricht eine andere Geschichte.


Welche denn?

Neugierige Grüße
Klara

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Beitragvon Zakkinen » 26.10.2008, 09:51

Ich glaube ich meinte eher: einen anderen Stil. Etwas reißerischer.

Klara
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Beitragvon Klara » 26.10.2008, 11:21

Du hast Recht. Ich schätze, ich könnte einfach den ersten Satz weglassen...

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leonie
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Beitragvon leonie » 26.10.2008, 11:30

Liebe Klara,

das hat mir gut gefallen! Diese Gedanken und Phantasien der Protagonistin über den Hermesboten...(Würden Männer jemals so denken???). Gut eingefangen und erzählt!

Liebe Grüße

leonie

Klara
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Beitragvon Klara » 26.10.2008, 17:13

Hallo Leonie,
freut mich!

(Würden Männer jemals so denken???)

Das ist eine interessante Frage. Noch interessanter in diesem Zusammenhang ist der implizierte Zweifel: Wie kommst du drauf, dass sie es nicht täten bzw., dass es eine weibliche Wahrnehmung ist, die durch den Text spricht? Das interessiert mich wirklich! (Auch deshalb, weil viele Leute mich als ziemlich männlich wahrnehmen, also: Männer nehmen mich als männlich wahr ;-))

Lieber Gruß
Klara

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Beitragvon leonie » 26.10.2008, 18:57

Hm, vielleicht sind das Vorurteile oder Klischees, obwohl ich meine, dass sie doch häufig der Realität entsprechen: Dieses schon recht spezielle (aber nicht sexuell orientierte) Interesse an einem anderen, die ausufernden Gedanken über ihn und sein Schikcsal (besonders, wie Du sie am Schluss beschreibst), das Mehr-Wissen-Wollen (das man auch Neugier nenne könnte): Ich glaube nicht, dass Männer in ihrem Hirn einen dafür zuständigen Bereich haben :-) . Ich kenne das einfach eher von Frauen.

Liebe Grüße

leonie

scarlett

Beitragvon scarlett » 27.10.2008, 15:18

Oh nein, Klara, das sehe ich ganz anders! Den ersten Satz würde ich keinesfalls missen wollen.
Er steht in direkter Verbindung zu Hermes - die "Botschaft", die er überbringt, ist ja wohl keineswegs immer eine gute oder harmlose.

Mir gefällt dein Text äußerst gut.
Die geschickte Verknüpfung einer beinah "banalen" sprich alltäglichen Situation mit dem Gott der Reisenden, der erfinderisch und listig ist und damit auch als Gott der Diebe gilt, ist m M nach gelungen.
Die Überlegungen, die der Prot anstellt (Psychopath, Einbrecher) daher auch sehr stimmig.
Es finden sich an mehrern Stellen im Text Beispiele für diese Verknüpfung, am Schönsten finde ich natürlich die "imaginäre Reise", die Gedankenspiele, die der Prot aufgrund dieses Besuchs macht/anstellt. Hermes hat zumindest eines seiner Ziele erreicht.

Lustig, dass er ausgerechnet im Fahrstuhl stecken bleibt - der Arme, er kann nicht mehr "fliegen".

Ganz toll finde ich den Schluss: das zweideutige "Spielen" mit dem Wort "Gott".

Hab ich gern gelesen (und keinen Komm bis auf denjenigen von Zakkinen).

scarlett

P.S. Dem Versand muss noch das "t" verloren gehen ... oder geklaut werden ...

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.10.2008, 16:34

Liebe Klara,

mir gefällt an diesem Text das episodenhafte, das im Titel und in der kurzen Handlung liegt (schönes zufälliges erscheinendes Doppelspiel @Hermes), das etwas Kleines erzählt, aber dabei etwas Tieferes transportiert, ohne den Druck zu verspüren, dass das explizit gemacht oder ausgebreitet werden müsste - schlicht halt mit einem Zauber dabei. Sprachlich könnte ich mir das ganze noch einen Tick "literarischer", ästhetisch flüssiger vorstellen (nicht glatter, einfach etwas ausgearbeiteter) vorstellen. Schärfer muss für mich aber nichts.

Hat mir Freude bereitet,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 17.09.2010, 01:42

Ich finde den Text zum Heulen schön, da steckt für mein Empfinden viel emotionale Intelligenz und Aufmerksamkeit drin, auch tiefgründige Fantasie, sowas regt mich immer zum Weiterlesen an -- zumal er flüssig und spannend aufgebaut ist.

Nur drei Kleinigkeiten:

1. "Er hievt das Paket wieder die Stufen herunter."
An dieser Stelle ist nicht klar, dass der Mann die Ziel-Etage passiert hatte. Ich dachte, er sei noch unterhalb und ich habe daher die Situation nicht sofort verstanden. Zuvor gibt's nur diese Info: " ... er ist auf dem Weg die Treppe hoch ..." -- Das kann "hoch zum Kunden" sein, oder "am Kunden vorbei weiter hoch zum Dach". Oder wohnt der Kunde im Erdgeschoss, sodass ersteres gar nicht in Frage kommt?

2. Doppelt "seinem": "... sirrt in seinem seinem alten Mund ..."

3. Leerzeichen nach vollständigem Wort vor Dreierpünktchen:
meinem Päckchen…
ohne Nuscheln…


Applaus

Pjotr

Quoth
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Beitragvon Quoth » 17.09.2010, 08:11

Ja, Klara, ein sehr schöner Text. Dank Dir, Pjotr, dass Du ihn heraufgeholt hast.
Pjotrs Punkt 1: Ging mir genau so.
An Leonie:
Wahrscheinlich bin ich eine Frau, denn ich denke oft über das "wirkliche" Leben besonders von Hermes-Boten nach. Neulich war es ein Asiate, auch spät, auch abgehetzt - naja, ich will mich nicht damit brüsten, was mir alles durch den Kopf ging, so schöne Phantasien wie die von Klara waren's nicht. Und auch er war weg, bevor ich ein Trinkgeld zusammengeklaubt hatte.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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leonie
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Beitragvon leonie » 17.09.2010, 10:20

Hallo Frau Quoth,

willkommen im Club. :-) .

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 17.09.2010, 13:21

Hallo Klara,

habe es gestern, da es in der Frageecke aufkam, auch noch mal gelesen. Ein wunderbar geschriebener Text, der mich so richtig mitgehen lässt. Da ist so viel Wärme drin. So liebevoll, so authentisch, so nachvollziehbar.
Bin ganz hin und weg. Ganz zu Recht ist dieser Text seinerzeit in die Anthologie gekommen!

Saludos
Mucki


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