Tante Klara ...

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 09.11.2008, 10:48

2. Fassung

Tante Klara ...

... lebt heute unterm Zuckerhut. Das Gesicht verschattet von einem Borsalino aus Stroh, um den sie eine Schleife geschlungen hat, sitzt sie, siebenundachtzigjährig, die meiste Zeit auf dem Balkon. Manchmal steht die Nachbarin an der Brüstung, dann unterhalten die Damen sich ein paar Minuten auf portugiesisch.

Die deutsche Sprache hat es Klara früh verschlagen. Das war am 9. November 38 in Wien. Mit siebzehn. Sie lernte damals die Modisterei, entwarf zauberhafte Hüte für die Damen der Herren, die an besagtem Tag durch die Straßen marschierten und aus simplem Fensterglas Kristall machten, wie es später hieß.
Vor dem Haus Köllnerhofgasse 6 im 1. Wiener Gemeindebezirk, in dem Klara wohnte, waren sie und andere zusammen getrieben worden. Sie zitterte in ihrem Nachthemd und einer der Herren kniff sie in die Wange. Schönes Kind, sagte er, nenne mir einfach einen anderen Juden, den wir statt deiner mitnehmen sollen.

In Buchenwald erhielt sie Lagerkleidung. Später heiratete sie einen jener amerikanischen Soldaten, die sie befreit hatten. Er störte sich nicht daran, dass ihr Haar nach den Jahren im Lager grau geworden war.

Ausgewandert nach Rio, der Geburtsstadt ihres Retters, wollte Klara wieder Hüte machen, aber ihre Hände hörten nicht auf zu zittern.



1. Fassung
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by ELsa
Zuletzt geändert von Elsa am 11.11.2008, 23:17, insgesamt 1-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.11.2008, 17:02

Liebe Elsie,

m.E. gehört dieser Text in Prosa und Kultur. Wenn ich verschieben soll, sag Bescheid, ok?

Zum Text:
Ein sehr schweres Thema reißt du hier an, "verkleidest" es sozusagen unter einem Hut. Ich weiß nicht, inwieweit das aufgeht, ob man es so machen kann. *grübel*
entwarf zauberhafte Hüte

Hier würde ich "zauberhafte" durch ein etwas bescheideneres Wort ersetzen.
Sehr gut gefällt mir dieser Satz:
die an besagtem Tag durch die Straßen marschierten und Kristall aus simplem Fensterglas erzeugten.

Der geht ganz schön rein!
Schönes Kind, sagte er, nenne mir einfach einen anderen Juden, den wir statt deiner mitnehmen sollen.

Hm, ziemlich krass.
Wie gesagt, ich lese das etwas zwiespältig.
Saludos
Mucki

Nachtrag:
Unter "Kritsches, Humor, Satire" ist jetzt auch Prosa & Kultur drin. Diese Rubrik wurde ergänzt, da ein Pendant zu Lyrik & Kultur fehlte.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.11.2008, 18:03

Liebe Mucki,

Ja, bitte verschiebe es mal dorthin, danke.

Ich melde mich später noch dazu, weil ich eine Korrektur anbringen will vorher.

Lieben Gruß
ELsie
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Sethe
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Beitragvon Sethe » 11.11.2008, 22:47

Hallo Elsa,

in der Hoffnung nicht in ein Fettnäpfchen zu trampeln, trotzdem ein paar Anmerkungen von mir.

Der Eingangssatz machte mir schon klar, um welche Zeit es geht. Allerdings führte mich der Eingangssatz mit dem Zuckerhut insoweit in die Irre, da ich dachte, es würde sich jetzt um die Geschichte eines Täters bzw. Täterin aus der Zeit des Nationalsozialimus handeln. Denn etliche Täter hatten sich ja nach Südamerika abgesetzt.
Beim zweiten Satz war dann klar, daß hier die Geschichte eines Opfers erzählt wird.

Mal abgesehen davon, daß ich die ersten Zeilen (bis zu " Vor dem Haus...) wie ein Gedicht las, und ich etwas unentschieden war/bin, ob ich nun ein Gedicht in anderer Setzung oder einen Prosatext lese, ist mir insbesondere dieser Satz:
die an besagtem Tag durch die Straßen marschierten und Kristall aus simplem Fensterglas erzeugten.


negativ aufgefallen. Wegen der Stelle "Kristall aus simplem ...". Die Ereignisse dieser Nacht werden sehr oft gerne verniedlichend als Reichskristallnacht bezeichnet. Es sind aber eben nicht nur Fenster zu Bruch gegangen. Es war die Verfolgung und auch Tötung von Menschen. Pogrom bzw. Reichspogromnacht ist meiner Meinung nach eine treffendere Bezeichnung. In einem Text durch "Kristall" und auch noch gerade simplem Fenstergals nun auf Reichskristallnacht anzuspielen finde ich daher nicht so passend.

Das mit den grauen Haaren könntest Du auch weglassen, einen Touch zu viel, finde ich.

Ein amerikanischer Soldat, der in Rio geboren ist? Hier habe ich auch gestutzt. Was für ein Zufall. Andererseits erklärt es, wieso sie jetzt in Rio ist.

Das zauberhaft gefällt mir gut. Wieso bescheiden sein? Wenn die Hüte zauberhaft waren, waren sie eben zauberhaft. Außerdem schafft es einen Kontrast bzw. verdeutlicht den Bruch zwischem dem Leben vor dieser Nacht und dem Leben nach dieser Nacht.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.11.2008, 23:28

Liebe Mucki, Liebe Sethe

Danke für eure Überlegungen.

In der Tat leben/lebten in Südamerika Täter und Opfer nebeneinander.

Mucki, dass Zwiespältigkeit bei derartigen Texten aufkommt, ist mir klar.

Ich habe den Satz mit dem Kristall etwas umgebaut und erweitert. Natürlich ist es ein "Kleinmachen" des Pogroms aus Nazimund, vielleicht macht der anschließende Halbsatz es deutlicher?

Ich möchte das "zauberhafte" Hüte behalten, denn man sprach damals so, ebenso die grauen Haare, das ist überliefert und keine Übertreibung.

Sethe, findest du es nicht möglich, dass ein Brasilianer nach USA eingewandert sein kann und dort Soldat wird?

Jedenfalls herzlichen Dank für die Kommentare,
Lieben Gruß
ELsa
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Sam

Beitragvon Sam » 12.11.2008, 16:55

Hallo Elsa,

die zweite Version gefällt mir sehr gut.

Ich habe mir lange überlegt, ob man so einen "Lebenslauf" auf diese schnelle Art und Weise abhandeln kann. Zuvieles bleibt ja unerzählt und ungesagt. Aber auf der anderen Seite ist ja auch schon so vieles erzählt und gesagt worden. Wir leben nunmal im Jahre 63 nach Kriegsende und ich glaube, man bräuchte mindestens genauso viel Zeit, um all das zu lesen, was an Lebensberichten aus den Jahren zwischen 33 und 45 so auf dem Buchmarkt zu finden ist. Was nicht heißt, dass man nicht weiter erzählen sollte. Aber man kann auch, so wie du es hier mit deinem Text tust, kleine Gedenksteine aufstellen, Mahnmale aus wenigen Worten geformt, die, auch wenn sie vieles auslassen, das Wesentliche zeigen: Die Verformung des Menschen durch Gewalt und Willkür.
Und es ist auch ein Text, der zeigt, dass ein bekanntes Sprichwort einfach nicht stimmt: "Die Zeit heilt alle Wunden." Manche Wunden sind nicht heilbar.

Ich habe vor Jahren einen Mann kennengelernt, an dem im KZ medizinische Versuche durchgeführt wurden. Er litt in Folge der Misshandlungen an ständigem Schluckauf, der ihn auch nicht mher verließ, bis er vor einigen Jahren starb.

Es gibt Dinge, die können nicht "wiedergutgemacht" werden. Es gibt Schäden, die bleiben. Und solange es Menschen gibt, die bereit sind, anderen solche Schäden zuzufügen, müssen auch diese Geschichten erzählt werden. Sei es in aller Ausführlichkeit, oder als kleines sprachliches Mahnmal, wie du es hier geschrieben hast.

Viele Grüße

Sam

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 12.11.2008, 22:12

Lieber Sam,

Danke schön. Ich wollte überhaupt nicht das allseits bekannte Leid hier ausführen, eben nur eine kleine Menschenstudie schreiben und was nachher noch möglich sein kann oder leider nicht kann.

Nein, unheilbar bleiben solche Wunden. Und solange es Menschen gibt, werden neue anderswo geschlagen.

Lieben Gruß und Dank auch für deine Hilfe "hintergründig".
Elsa
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Sethe
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Beitragvon Sethe » 15.11.2008, 20:02

Hallo Elsa,

mir gefällt die geänderte Fassung auch viel besser, insbesondere der Satz mit dem Kristall/Fensterglas. So wie es jetzt geschrieben ist, beschreibt es auch den Umstand, wie man im Zuge der Aufarbeitung zuerst mit dieser Nacht umgegangen ist.

Doch natürlich kann ich mir vorstellen, daß jemand aus Brasilien ausgewandert ist und dann in den USA lebt und für diese dann Soldat wurde.
Ich schwanke bei Deinem Text immer noch etwas, ob ich die dort genannten Dinge wie das mit Brasilien, die grauen Haare, das mit der deutschen Sprache als zu viel erfinde, oder nicht. Manchmal ist es mir zu viel an dem, was man oft in Überlebensgeschichten liest. Nimmt man Klara nicht ihre eigene Geschichte, ihre eigene Individualität, wenn in einer Geschichte über sie so vieles erzählt wird, was man vielleicht als Gemeinsamkeiten der überlebenden Opfer bezeichnen kann?
Manchmal sage ich mir aber, wenn man gerade viele Biographien liest, ist da immer etwas gewesen, was das Überleben ermöglichte. Zufälle, Glück, die Person an sich, Helfer/innen in der Not.
Insofern paßt die Anhäufung dann doch wieder zu dem Text.
Ich bin etwas zwiegespalten.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 15.11.2008, 20:15

Liebe Sethe,

oh, das freut mich, danke!

Du hast natürlich recht, dass hier viel drinnen steckt, was damals alle Opfer erleben mussten oder im Falle einer Rettung erleben durften.

Es ist aber so, dass es Tante Klara wirklich in der Form passierte, noch viel mehr, was ich ganz bewusst nicht eingearbeitet habe, weil es zu unglaublich klänge.

Lieben Gruß
Elsa
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Sethe
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Beitragvon Sethe » 15.11.2008, 20:30

Irgendwie habe ich mir das gedacht.

Es ist in der Tat vieles unglaublich. Nein, nicht unglaublich, unfaßbar.
Ich habe zwei Biographien in sehr guter Erinnerung, die ich vor längerer Zeit gelesen habe:
Ruth Elias: Die Hoffnung erhielt mich am Leben und
Joop und Sophie Citroen: Duett Pathetique.
Beim Lesen dachte ich oft, nein nicht auch noch das. Das ist so viel unglaubliches, unfaßbares drin, es ist kaum zu fassen. Oder auch die Lebensgeschichten von Reich-Ranicki oder Simon Wiesenthal. Ähnlich.
Vielleicht erklärt sich meine Zwiespältigkeit bezogen auf den Text daraus, daß man beim Lesen dieses fiktiven Geschichte -also solches lese ich diesen ja- nicht wieder alles lesen möchte wünscht ?, was den Menschen angetan wurde. Weil es einem wieder die Hoffnung zerstört, daß es Menschen gab, die das was man ihnen angetan hat, mit halbwegs heiler Seele überlebt haben.
Versteht jemand, wie ich das meine?
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 17.11.2008, 22:02

Liebe Sethe,

ja, ich verstehe, was du meinst. Ich habe auch 30 Jahre gebraucht, diesen Text zu schreiben und ich wollte ihn fiktiv schreiben.

Danke nochmals fürs Melden.

Lieben Gruß
ELsa
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Herby

Beitragvon Herby » 17.11.2008, 22:43

Liebe Elsa,

nach einigen Wochen der Abstinenz endlich wieder einmal im Salon, las ich deinen Text (jedoch keine Kommentare). Einerseits lässt er mich angesichts des Inhalts und des angedeuteten Schicksals wieder einmal fassungslos zurück. Andererseits bin ich noch unsicher, ob eine solche Thematik in dieser Verknappung überhaupt geschildert (oder eben angedeutet) werden kann. Aber vielleicht will der Text ja auch nicht mehr sein als eine Art Skizze, Studie - doch unabhängig davon wird er mir im Gedächtnis bleiben.

Herzliche Grüße,
Herby


OT: Ich hoffe sehr, dass es dir gesundheitlich (wieder) gut geht!!

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 17.11.2008, 22:49

Lieber Herby,

das ist aber fein, dich wieder mal zu lesen!

Die Annahme, dass es eine Studie sein soll, ist richtig. Ob man es machen kann, auf die schmale Form gebracht, weiß ich natürlich auch nicht. Wenn der kleine Text zu einem großen Thema in deinen Gedächtnis bleiben wird, hat er seine Aufgabe erfüllt. Danke dir dafür.

OT: Ich tanze noch nicht, aber es geht mir bereits wieder großartig, danke schön für die Nachfrage.

Herzliche Grüße,
Elsa
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